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Irgendwo im Nirgendwo
ОглавлениеEine alles verzehrende Helligkeit. Die Farbe Weiß ist zu dunkel und zu kalt, um das grelle heiße Licht zu beschreiben. Schatten tanzen vor meinen Augen, verdichten sich zu einem Bild. Sanddünen, an deren Horizont sich die Sonne in einem blutroten Flammenmeer verabschiedet. In der Ferne erkenne ich eine Moschee. Ein Muezzin ruft von seinem Minarett die Gläubigen zum Gebet. Mit der abnehmenden Helligkeit werden Myriaden von Sternen sichtbar, deren Funkelfeuer …
Ein Riss im Film katapultiert mich in meinen Kinosessel zurück. Draußen im Foyer wartet Gevatter Tod auf meine Seele. Enttäuscht blicke ich mich um. Die Logenplätze füllen sich. Meine Eltern und Tante Daisy winken mir fröhlich zu. Ich winke zurück.
Katee stöckelt sich ihren Weg durch die Sitzreihe, darauf bedacht mit unseren Snacks nicht über die herumliegenden Toten zu stolpern. Ich nehme ihr das Tablett ab, parke es auf meinem Schoß. Das Tablett kippt um, Tonnen von fettigen Nachos samt essigsauren Jalapeños und klebriger Salsa ergießen sich über unsere nackten Körper.
Es klingelt. Philipp steht zwischen den Monolithen, mimt den Platzanweiser. Ich wühle in Katees verfilzten Haaren, bringe eine Taschenlampe zum Vorschein. Kurz schätze ich die Entfernung ab, ein gut balancierter Wurf befördert die Lampe in Philipps Hände. Wir nicken uns zu, die Show beginnt. Mein deutscher Freund zieht den Vorhang im Torbogen zur Seite, eine Menschenmasse aus Bekannten und Freunden strömt in den mit Atomsprengköpfen verzierten Saal. Selbst Dekan Honourtree gibt sich die Ehre und platziert sich neben Amir, der Sue Bellatreccia und George W. mit einem selbstgebastelten Papierflieger seinen Anflug auf das World Trade Center erklärt. Ka-Boom.
Ein dumpfer Gong ertönt. Langsam erhebe ich mich und streiche den zu Lebzeiten für meine Beerdigung gekauften, blütenweißen Anzug faltenfrei. Beifall brandet mir entgegen, ich begrüße die Menge.
»Hallo, Ihr Süßen! Na, alle gut versorgt mit Nachos, Popcorn, Gras und Bier? Klasse. Machen wir es kurz, viel Spaß bei meinem Film: Das Leben und Sterben des Thomas Kyle Jennings. Yeah!«
Die Menge jubelt. Das Licht geht aus, die ersten Joints funkeln in der Schwärze. Endlich beginnt der Streifen, und ich falle erleichtert in meinen Sessel zurück. Die mumifizierte Katee reicht mir ein paar verschimmelte Nachos, während es in ihren vertrockneten Augenhöhlen zwischen zwei Kakerlaken zur Sache geht. STOP!
Ich schrecke aus meinem Kopfkino hoch, reiße die Augen auf und blicke in ein Meer aus Licht. Krampfhaft versuche ich mich zu erinnern. Ist die Bombe detoniert? Bin ich tot? Oder kauere ich noch in Stonehenge und habe mich in den Wahnsinn geflüchtet? Gut, ich sterbe gerade zum ersten Mal. Woher soll ich wissen, wie sich der eigene Tod anfühlt? Hat Katee Recht behalten, sich das Tor geöffnet und Merlin mich gerettet? Ja, klar. Auf Burg Camelot ist Jahrmarkt und alle warten auf mich. Merlin, der Runde Tisch. Arthur, Simeon und Arsinoë. Moment. Wer? Ach ja. Gawain, Tristan und Isolde.
»Hallo. Merlin?«
Zwar bin ich nackt, die Haut zerschrammt und mein Körper übersät mit Blut, aber mein Humor und ich sind quicklebendig.
»Katee? Philipp? Hallo!«
»Du musst nicht schreien«, flüstert eine Stimme hinter mir.
Ein Schatten legt sich auf meine linke Schulter. Ich wirbele herum. Unfähig, den Anblick zu verkraften, sacke ich zu Boden.
»Mutter!«
»Hallo Bärchen.«
Verzweifelt grapsche ich nach der Lichtgestalt und durch sie hindurch. Das Wesen mit dem Antlitz meiner toten Mutter ist nicht real. Mit Tränen versiegelte Staudämme brechen auf. Der Anblick ihres starren, an einer verdrillten Wäscheleine hängenden Körpers hat sich wie Säure in mein vierjähriges Herz gefressen.
»Meine Mutter ist tot!«, winsele ich wie ein Hund, den man getreten hat. »Hören Sie auf, mit mir zu spielen. Bitte!«
»Aber Bärchen, erzählen nicht alle Religionen von einem Leben nach dem Tod? Davon, dass man von seinen Angehörigen erwartet und in Empfang genommen wird? Tommy, mein Liebling. Hast du deinen Glauben verloren?«
Ich bin hin- und hergerissen, wünsche mir, dass ich keinem Hokuspokus aufgesessen bin und tatsächlich meine über alles geliebte Mutter vor mir steht. Oder der Spuk endet. Ein Spuk mit dunkelblonden, langen Haaren, Mutters großen, blauen und traurigen Augen, ihren unzähligen Sommersprossen, ihrer Stupsnase und ihren sinnlichen, vollen Lippen.
»Du hast recht, ich bin nicht deine Mutter. Aber wisse, dass ihre Seele in mir wohnt.«
Mein Herz zerbricht erneut. Niedergeschmettert blicke ich dem Wesen in die Augen.
»Wenn du nicht meine Mutter bist, wer bist du? Der liebe Gott?«
»Thomas Kyle Jennings, Mensch der Erde«, lacht Mutter. »Muss es gleich ein Gott sein, wenn man nicht weiter weiß?«
Meine Galle zieht sich krampfhaft zusammen, aus meiner Trauer wird Verbitterung.
»Nein, natürlich nicht. Was dann? Mein Hirngespinst? Hat die Explosion nicht stattgefunden, und ich liege als Folge einer Befreiungsaktion im Koma?« Mutters Antlitz fließt auseinander und gruppiert sich neu. Ihre Augenfarbe wechselt von blau nach schwarz. »Antworte mir!«, verlange ich eine Idee barscher als beabsichtigt.
»Gut, wie du willst. Wir befinden uns in einer zufälligen Blase aus Raum und Zeit.«
»Wir sind Quantenschaum? «, stöhne ich. »Wie originell!«
Das Wesen blickt mich irritiert an. »Du weißt, was das bedeutet?«
»Natürlich!«, antworte ich großspurig und fühle mich wie neugeboren. Physik ist meine Leidenschaft. »Es ist egal, was war, ist und sein wird. Der Zufall entscheidet, und daraus entsteht eine neue Realität. Richtig?«
»Falsch. Heute ist dein Glückstag. Du darfst Zufall spielen und dein Schicksal selbst bestimmen.«
»Bullshit! Realitäten entstehen aus Wahrscheinlichkeiten. Wenn ich entscheiden dürfte, würde ich eine Realität erschaffen.« Ich komme in Fahrt. »Was jedoch kein Zufall wäre, der Theorie des Quantenschaums widerspricht und damit …«
»Solltest du besser deinen vorlauten Mund halten und mir vertrauen«, unterbricht mich das seltsame Wesen. »Mit der Bombenexplosion ist eine Wahrscheinlichkeit zur Realität geworden. Und du wurdest Teil dieser neuen Welt, ob du willst oder nicht.«
»Das ich nicht lache! Mein Leben ist gelaufen. Katee ist tot und ich bin Quantenschaum. Echt klasse, deine neue Welt.«
»Sei nicht so hart mit dir. Man kann durchaus sein Schicksal, die Geschichte und das Antlitz des Universums verändern.«
»Wie beruhigend«, murmele ich zynisch. »Als nächstes zeigst du mir Cäsar und was passiert wäre, wenn er nicht den Rubikon überschritten hätte, ja?«
Minuten vergehen. Die Augen des Wesens fixieren mich, meine Seele wird durchleuchtet. Das Licht beginnt zu brodeln. Schemen treten hervor und verdichten sich zu einem dreidimensionalen Bild.
Europa. Erster Weltkrieg. Geoffrey Peters, ein junger britischer Soldat schält sich aus dem Licht und gleitet durch mich hindurch. Peters ist frisch verheiratet und gerade Vater geworden. Leider wird er seine Familie nicht wiedersehen, weil eine Kugel mit seinem Namen bereits auf ihn wartet. Woher ich das weiß? Keine Ahnung.
Aus einem sicheren Versteck heraus beobachtet Peters zwei Soldaten. Gegner. Der Ältere sitzt auf einem umgestürzten Baumstamm und säubert sein Gewehr, der Jüngere steht mit dem Rücken zum Briten. Die beiden Soldaten schwatzen, reißen Witze über Gott und die Welt. Peters Gesicht wird vergrößert. In seinen Augen liegt Ratlosigkeit. Ich ahne seinen Konflikt zwischen Gewissen und vaterländischer Pflicht. Vor ihm sitzt der Feind, frei zum Abschuss. Peters ist Mensch, sein Gewissen weigert sich, die beiden grundlos zu erschießen. Peters denkt an seine Familie. Er ist innerlich zerrissen, atmet kräftig durch und denkt erneut an seine Pflicht, an King George und an das britische Vaterland. Peters verbannt Frau und Kind aus seinen Gedanken, fällt eine Entscheidung: Er legt an, zielt: erst auf den Älteren, anschließend auf den Jüngeren. Überlegt: Zwei gut platzierte Kopfschüsse, und keiner von beiden würde leiden müssen. Wieder schafft es Peters Familie aus den Tiefen seiner Seele in seine Gedanken zurückzukriechen, appelliert an das Gute in ihm. Mit Gänsehaut im Nacken erkennt der junge Brite die Unsinnigkeit des europäischen Brudermordes. Leise und unbemerkt schleicht er davon, seiner für ihn reservierten Kugel entgegen. Als diese ihn wenige Stunden später tödlich verwundet, stirbt Peters mit einem reinen Gewissen. Er hat sich nicht zu einem willenlosen Soldaten, einem staatlichen und mit fragwürdigen Ehren überhäuften, kaputt gedrillten Killer degradieren lassen. Das Bild wird unscharf, flackert und wechselt zu den von Peters verschonten Soldaten zurück. Sie ahnen nicht, wie knapp sie dem Tod entronnen sind.
»Stop«, sage ich und die Vision wird zum Standbild. »Das reicht, danke. Ich habe verstanden. Wenn ich weiterleben darf, werde ich nicht über die Muslime herfallen und Katees Tod rächen. Ich werde auf mein Gewissen hören. Es waren Einzeltäter, die in Amerika und England gewütet haben, nicht ihr Volk oder ihre Religionsgemeinschaft.«
Das Wesen beginnt zu lachen. Ich balle beide Fäuste.
»Du möchtest deinem Herzen folgen? Wie Peters?«
»Ja, was ist daran verkehrt?«
»Da, urteile selbst.«
Das Licht pulsiert und die letzten Sekunden der Szene wiederholen sich. Dann dreht sich der jüngere Soldat um und macht einen Schritt auf mich zu. Mein Herz vergaloppiert sich, ich stehe Auge in Auge mit Adolf Hitler!
Die Erkenntnis ist wie ein Schlag in die Magengrube. »Heißt das«, stottere ich, »dass ein gezielter Schuss alle Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts verhindert hätte?«
»Ja, ein einziger Schuss. Zur richtigen Zeit und am richtigen Ort. Die Welt, wie du sie kennengelernt hast, würde anders aussehen.«
»Okay«, flüstere ich, Hitlers Visage noch vor Augen. »Je nachdem, wie man die Dinge betrachtet, gibt es kein Richtig oder Falsch, nur Entscheidungen, die beliebige Wahrscheinlichkeiten in Realitäten überführen. Egal, ob sich diese Entscheidungen gut oder schlecht auswirken werden?«
Mutter nickt. »Und? Bist du bereit, aus Wahrscheinlichkeiten neue Realitäten zu erschaffen, Verantwortung zu übernehmen und das Universum mitzugestalten?«
»Wer? Ich?«
Tommy, ein unbedeutender Waisenjunge mit gebrochenem Herzen? Ich, Gestalter des Universums? Irgendwie habe ich mir das Leben nach dem Tod anders vorgestellt.
»Glaubst du, Peters war ein besonderer Mensch? Oder zum Helden geboren? Die Welt hat Geoffrey Peters nicht zur Kenntnis genommen. Weder als Hitler verschonenden Versager noch als möglichen Helden und Tyrannenmörder. Vielleicht hat Geoffrey Peters auch nur in meinem Beispiel existiert, um dir die Vielfalt an möglichen Entwicklungen aufzuzeigen. Bedenke, das Hier und Jetzt entscheidet, nicht das Könnte oder Würde.«
Nach diesen Worten löst sich das Wesen ohne Vorwarnung in Luft auf.
»Hey!«, rufe ich ins Nichts. »Wir sind nicht fertig. Da ist noch soviel, was ich dich fragen möchte.«
Nichts.
Hatte ich mir die Begegnung eingebildet? Ich atme tief durch. Raumzeitblasen, Wahrscheinlichkeiten und Realitäten. Langsam beginne ich zu verstehen. Was immer in Stonehenge geschehen ist, man verlangt eine Entscheidung von mir.
»Einverstanden«, flüstere ich und schließe die Augen. »Ich werde darüber nachdenken. Ich werde versuchen, Entscheidungen zu treffen. Und lernen, mit ihren Konsequenzen zu leben.«
Ich packe meine Ängste, Hoffnungen und Wünsche in den Würfelbecher des Schicksals, schüttele kräftig und leere ihn ins Nichts. Alea iacta est, rien ne va plus. Ich atme ruhig und konzentriert, hole tief Luft und erwache mit einem Schrei.