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Countdown

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Stonehenge gleicht einer Geflügelmast. Wir sind im Steinkreis zusammengepfercht, Lebende und Tote. Ohne Nahrung, ohne Toiletten. Unsere Lebenserwartung ist auf weniger als elf Stunden reduziert. Überall klebt Blut.

Katee, Philipp und ich kauern hinter einem Monolithen. Neben mir sitzt ein junges Mädchen und liebkost ihren toten Freund. Sein Hinterkopf fehlt, die Augen sind nach innen gerutscht. Sie summt ein Kinderlied, der Wahnsinn hat sich ihrer Seele angenommen.

»Tick, tock, tick, tock. There goes the clock.«

In mir brodelt es. Wut und Ohnmacht schaukeln sich gegenseitig hoch. Mir knallt die Sicherung durch, blind vor Zorn springe ich auf.

»Spinnst du?«, brüllt Philipp, versucht mich zu packen. Vor meinen Augen dreht sich alles, ohne nachzudenken schlage ich um mich, rudere mit den Armen in der Luft. Stählerne Hände schnappen nach mir, und ehe ich mich versehe, blicke ich drei schwer bewaffneten Terroristen ins Gesicht. In ihren Augen brennt das gleiche fanatische Feuer wie in den Augen meiner unseligen Bekanntschaft aus Hollywood. Vor mir stehen keine Menschen, sondern Monster. Wesen, die ihre Menschlichkeit wie einen Mantel an der Abendgarderobe abgelegt haben.

»Noch eine Bewegung und ich knall dich ab, Ungläubiger.«

Langsam hebe ich die Arme. Irgendwo steht geschrieben, dass erhobene Arme mit offenen Handflächen eine beruhigende Wirkung haben sollen. Für einen Moment steht die Zeit still, dann grabschen die Kerle nach Katee.

»Finger weg von meiner Verlobten!«

Ich balle meine rechte Hand zur Faust und lande einen K.O.-Schlag wie aus dem Bilderbuch. Das Schwein sackt zu Boden, eine Maschinenpistole rattert und Projektile mit meinem Namen peitschen durch die Luft.

»Neiiin!«

Die Kugeln treffen, entfesseln ihre tödliche Wucht. Blutbesudelt sacke ich auf den Boden, schlage hart auf. Aus und vorbei!

Seltsam. Keinerlei Schmerz.

Überrascht hebe ich den Kopf und schlage die Augen auf.

»Caitleen!«

Ich hocke bei Philipp. Katee liegt in meinen Armen. Bis auf ein allgegenwärtiges Wimmern herrscht Ruhe im Schlachthaus. Meine Tränensäcke sind leer, keine Träne der Welt wird mir Katee zurückgeben können. Sie ist tot. Gestorben, um mich zu retten. Mit einem Hechtsprung hat Katee die für mich bestimmten Kugeln mit ihrem Körper abgefangen, ist mit mir zusammengeprallt und hat mich umgerissen. Meine Verlobte hat meinen Wutanfall mit ihrem Leben bezahlt. Ich küsse ihre kalten Lippen, die sich mit jedem Kuss härter anfühlen. Mein Herz liegt auf Eis.

Mein Blick wandert durch die Reihen. Wer Glück hat, ist tot. Der überwiegende Rest zählt die Stunden und Minuten. Heftiger Regen hat den mit Blut und Urin getränkten Boden in Schlamm verwandelt. Stonehenge stinkt zum Himmel. Die Wolken lassen kein Sternenlicht hindurch. Eine Ölfackel nach der anderen erlischt. Es ist eine Frage der Zeit, bis gnädige Dunkelheit für trügerischen Frieden sorgen wird.

Im Zentrum der Anlage thront der mülltonnengroße Atomsprengkopf. Auf zwei mit Schwerlastrollen ausgestatteten Surfbrettern war er ins Innere des Steinkreises gezogen und montiert worden. Anschließend hat das Pack einen VW-Transporter im Torbogen quergestellt und sich auf die Stadtmauer verpisst. Von dort oben kontrollieren die Terroristen das ganze Areal. Dem Lärm jenseits der Kulisse nach zu urteilen, ist der Aufmarsch von Presse und Sicherheit in vollem Gange. Ab und zu hört man einen Hubschrauber.

Erinnerungen durchfluten mich. Katee. Unsere Schulzeit. Unser erster Kuss, das ständige Versteckspiel, bis uns Tante Daisy im Bett erwischt hat.

»Thomas!«, ruft Philipp und holt mich in die Gegenwart zurück. »Siehst du das?«

Katees Augenlider flattern, ihr erstarrter Körper zuckt wie unter einem Stromschlag. Sie hustet.

»Engelchen.«

»Das ist kein Husten«, flüstert Philipp und hilft mir, ihren Körper in meinen Armen zu stabilisieren.

»Hd-k-db.«

Philipp hat recht. Es sind keine Hustenschübe, sondern Katees Versuch, mir etwas zu sagen.

»Hd-k-db.«

»Liebling?«, rufe ich verzweifelt. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«

Man muss kein Arzt sein, um zu wissen, dass Katee tot ist. Ihre Verletzungen sind eindeutig, das Herz steht still. Katees Körper ist seit Stunden kalt, die Totenstarre hat eingesetzt.

»Hd-k-db.«

Ein letztes verzweifeltes Aufbäumen und Katees Leichnam sinkt in sich zusammen. Ich schreie, rieche frisch gemahlenes Zimt. Eine Aura? Weiße Blitze tanzen vor meinen Augen. Epileptische Krämpfe übernehmen meine Muskeln. Katees Leiche und ich rutschen weg. Mir wird schwarz vor Augen, der Anfall raubt mir das Bewusstsein.

Ein Stöhnen weckt mich, Helligkeit dringt durch meine geschlossenen Augen. Todmüde öffne ich sie und blinzele in einen blauen Himmel.

»Ich wünsche dir keinen guten Morgen«, sagt Philipp lapidar und hockt sich neben mich. Ich fühle mich wie gerädert. »Erstens, weil es kein guter Morgen wird und zweitens, ohne Frühstück ist eh alles verloren.«

Mein Magen knurrt wie aufs Stichwort. Ich sehne mich nach einem Schluck Wasser und einem Stückchen Brot. Der Anfall hat mich ausgebrannt. Langsam setze ich mich auf und massiere meine Waden. Die Menschen um mich herum sind noch enger zusammengerückt, haben mir für die unkontrollierbaren Zuckungen Platz gemacht. Ich flüstere ein unhörbares Dankeschön und nicke meinen Mitgefangenen zu. Erst das Massaker, dann die Epilepsie, wahrhaft keine schönen Anblicke. Ich schaue mich um, zucke zusammen. Katees Leiche ist mit Umhängen eingehüllt und hat mir als Kopfkissen gedient. Die Erinnerung, der Gedanke an meine tote Freundin wird surreal.

»Willst 'n Bier?«, fragt Philipp und kichert irr. Greift zur Seite, ins Leere und tut so, als ob er eine Flasche köpft. »Hier Kumpel, fang!«

Gierig schnappe ich nach der virtuellen Pulle und trinke sie in einem Zug leer. Dann rappele ich mich hoch und setze mich neben meinen Freund. Einen weiteren Blick auf Katee erspare ich mir. Philipp legt seine Hand auf meine Schulter, Wärme durchflutet meinen Körper.

»Na, willst du noch eins?«

»Lass man gut sein. Am Ende muss ich noch aufs Klo.«

»Macht nix!«, prustet Philipp. »Wir haben eh die Hosen voll.«

Ein wirrer Gedanke jagt durch meinen Kopf. Ich muss unfreiwillig schmunzeln, hole tief Luft und beginne zu singen.

»Rule, Britannia! Britannia, rule the waves! Britons never, never shall be slaves.«

Philipp runzelt die Stirn. »Sag mal, was hast du denn geraucht?«

Ich ignoriere seine Bemerkung. Was ihm die virtuelle Bierflasche ist mir mein Lied. »Rule, Britannia! We all will pass away: Mankind never, never shall be slaves!«

»We came as strangers but now we die as friends: Mankind never, never shall be slaves.«

»Hey Philipp, das ist mein Song!«

Es wird still, alles blickt uns an. Glanz kehrt in die Augen unserer Leidensgenossen zurück – und Verdis Nabucco erlebt ein neuzeitliches, schräges Remake.

»Go you monsters! You monsters, go away: Mankind never, never shall be slaves.«

Schüsse pfeifen über unsere Köpfe hinweg. Erneutes Schweigen. Da erhebt sich eine weitere Stimme gegen unsere Ohnmacht. Mit schottischem Akzent.

»Shoot us, you killers! You butchers, shoot us now: Mankind never, never shall be slaves.«

Vier, fünf, sechs, zehn, zwanzig. Alle!

»Kill us, you pigs! You pigs, kill us now: Mankind never, never shall be slaves.«

Im Kugelhagel lichten sich die Reihen, dennoch wird der Gefangenenchor von Stonehenge lauter, schmettert unseren Mördern mein pervertiertes "Rule, Britannia" mit fester Stimme entgegen. Als ein Megaphon übersteuert quietscht und eine Stimme von außerhalb der Anlage ertönt, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.

»Hier spricht Edwards von der BBC. Im Steinkreis von Stonehenge spielen sich unglaubliche Szenen ab. Die Geiseln singen "Rule, Britannia" und werden für ihre heroische Tat reihenweise von den Terroristen erschossen. Armee und Politik sind machtlos. Alle Verhandlungsangebote wurden abgelehnt. Eines steht dennoch fest: Die Welt sieht eine Schar junger Leute, die sich nicht dem verbrecherischen Treiben fanatischer Extremisten unterordnen. Sie sieht junge Menschen, die für unsere Freiheit und ihr Überleben kämpfen. Selbst wenn in wenigen Stunden die Atombombe gezündet und die Region um Salisbury untergehen wird, haben die Terroristen und ihre menschenfeindliche Ideologie verloren. Sie werden nicht als selbsternannte Märtyrer sterben und ins Paradies einkehren, sondern als lächerliche Fußnote der Geschichte enden. Wie vor wenigen Tagen in den Staaten ist es den Fanatikern auch auf britischem Boden nicht gelungen, der Welt ihre Ehre und Moral zu nehmen.«

Es dauert nicht lange, bis die Terroristen eingesehen haben, dass es keinen Sinn macht, unseren Chor weiter zu dezimieren. Ohne Geiseln könnte ein gezielter Luftschlag das Pack erledigen und die Bombe vernichten, ohne das sie explodieren würde. Schade, dass ich keinerlei Rechte an dem Song besitze und in Kürze sterben werde. Die "Opfer-von-Stonehenge-Benefiz-CD", der Hinterbliebenenfond und Tommys kleiner Souvenir-Shop hätten mich zu einem reichen Mann gemacht. Ich blicke zu Philipp hinüber.

»Du, ich brauch ein Bier.«

»Sorry, Tommy«, lacht Philipp freudlos und zuckt mit den Schultern. »Alles alle, und Nachschub kommt nicht mehr.«

Über die Stadtmauern hallen Appelle von Politikern und muslimischen Verbänden. Man verliest Grußbotschaften der UNO und des Vatikans, der Botschafter Israels bittet um mehr Zeit. Sinnlos, ein gut gezielter Schuss bereitet dem Riesenmegaphon ein jähes Ende.

Auf der Stadtmauer herrscht Volksfeststimmung, die Attentäter feuern in die Luft, machen sich gegenseitig Mut.

»Da, schau!«, ruft Philipp und zeigt in den Himmel. »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.« Hubschrauber um Hubschrauber starten, das Empire und die Medien geben uns zum Abschuss frei.

»Noch fünf Minuten«, hauche ich nach einem Blick auf meine Armbanduhr und lasse den Kopf hängen. Das ist alles? Mehr hat das Leben für mich nicht übrig gehabt?

Philipp stupst mir seinen Ellbogen in die Seite. »Komm!«, sagt er kurz und steht auf. »Was habe ich gesungen? Wir kamen als Fremde und werden als Freunde sterben?«

»Yeah!«, sage ich und erhebe mich ebenfalls, ziehe mein mit Katees Blut verkrustetes Hemd gerade. »Auf gehts!«

Wir bücken uns, Philipp hilft mir Katees Leichnam aufzurichten. Ein letztes Mal schließe ich meine Verlobte in die Arme. Es fühlt sich an, als würde ich eine Schaufensterpuppe umfassen. Mein Gesicht fest an ihren Kopf gekuschelt, mit zusammengekniffenen Augen und auf Durchzug geschalteten Ohren warte ich auf den alles verbrennenden Blitz. Um uns herum herrscht der blanke Wahnsinn.

»Hey Edwards, komm sofort zurück!«

»Rule, Britannia!«

»Schnauze!«

»Ich will zu meiner Mama.«

»Vater, der du bist im Himmel –«

»Tick, tock, tick, tock. There goes the clock.«

»Allahu akbar!«

Und es wird Licht!

Jennings, Erdprotektor

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