Читать книгу 15000 Jahre Mord und Totschlag - Joachim Wahl - Страница 23
Menschenopfer am Ende der Eiszeit?
ОглавлениеDie Bearbeiter selbst stellen das Ganze in einen kultischen Kontext, grenzen sich jedoch von reinem Nahrungskannibalismus ab, da die Schädel nicht einfach zerschlagen, sondern sorgfältig mit großem Geschick und anatomischen Kenntnissen präpariert worden seien. Andere Fachleute möchten rituellen Kannibalismus nicht ausschließen. Die Presse ist weniger zurückhaltend: Da wird schon mal das Trinken von Menschenblut propagiert und bildlich in Szene gesetzt. Wie plausibel diese oder jene Deutung ist, wird sicherlich noch für manche Diskussion sorgen. Die Ränder der Kalotten weisen zwar kleine, aber immer noch scharfkantige, unregelmäßig gezackte Ränder auf – es dürfte unangenehm sein, daraus zu trinken. Man fragt sich auch, warum die Teile des Gesichtsschädels so akribisch von Weichgewebe gesäubert wurden, wenn dieser Abschnitt des Schädels später sowieso keine Rolle mehr spielte? Eine der Schalen wurde aus dem Schädel eines etwa dreijährigen Kindes angefertigt. In diesem Alter sind die Schädelnähte noch nicht verwachsen, das Gefäß also undicht, und die Stärke der Wandung beträgt nur etwa drei Millimeter. Die passende Flüssigkeitsmenge von 0,8 bis einem Liter würde es beim Gebrauch alsbald sprengen.
Gough’s Cave. Die knapp 15.000 Jahre alte Schädelkalotte eines Mannes weist zahlreiche Bearbeitungsspuren auf und wird als Schale gedeutet, die im Rahmen kultischer Handlungen Verwendung fand.
Zudem wäre zu erörtern, welchem Personenkreis eine solche Prozedur widerfahren ist. Angehörigen einer fremden, rivalisierenden Sippe? Allen oder nur ausgesuchten Mitgliedern der eigenen Gruppe? In der Gough’s Cave offenbar zwei Erwachsenen, einer davon vielleicht männlich, und besagtem Kind. Wenn aber Kleinkinder vertreten sind, dürfte es sich kaum um Schamanen, Heilerinnen, Älteste, Häuptlinge oder sonstige Protagonisten der Gemeinschaft handeln. Könnten es Menschenopfer im Rahmen eines Jagdzaubers gewesen sein? Den Menschen war bewusst, wie wichtig Kinder für das Überleben der Gruppe sind. War das Ganze eine einmalige Angelegenheit in einer Krisensituation oder ein gängiger Brauch? Könnten die fehlenden Abnutzungsspuren darauf hindeuten, dass die Anfertigung der Schädelschalen das Entscheidende war und nicht deren Verwendung nach dem Motto „Der Weg ist das Ziel“? Könnte es sein, dass die Schalen gar nicht zur Aufnahme von Flüssigkeiten gedacht waren? Vielleicht sollten Sammelfrüchte oder Ähnliches dargeboten werden? Und trotz fehlender Tötungsspuren ist nicht gänzlich auszuschließen, dass die betroffenen Personen gewaltsam ums Leben kamen. Wie so oft in der Archäologie wirft auch dieser Fund mehr Fragen auf, als er beantwortet.
Zu den etwa neunhundert Kilometer entfernt gefundenen Skelettresten aus der Burghöhle Dietfurt lassen sich durchaus Ähnlichkeiten erkennen, gewisse Parallelen sind zu erahnen. Das ist nicht verwunderlich, da beide Funde aus dem Jungpaläolithikum stammen, lediglich ein- bis zweihundert Jahre auseinanderliegen und in einen Kontext mit etwa einem Dutzend anderer Fundorte mit vermutlich manipulierten Menschenknochen aus Frankreich und Süddeutschland zu stellen sind. Ein kultureller Austausch wäre möglich gewesen. Der Ärmelkanal und der südliche Teil der Nordsee waren damals noch trockenen Fußes zu durchqueren. Die Menschen lebten in einem gemäßigt kontinentalen Klima mit Jahresdurchschnittstemperaturen von deutlich über null Grad. Kiefernwälder breiteten sich aus, und anstelle von Rentieren standen jetzt immer häufiger Hirsch, Reh und Wildschwein auf dem Speiseplan. Die Rituale, die sich tatsächlich hinter den menschlichen Knochenfunden verbergen, werden sich uns aber möglicherweise niemals zu erkennen geben.