Читать книгу Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien - Joachim Whaley - Страница 20
7. Der Kaiser, der Immerwährende Reichstag, die Kreise und die Reichsjustiz
ОглавлениеDie Bedrohungen durch Frankreich und das Osmanische Reich stärkten die Einigkeit des Reichs, die mit einer Flut von Pamphletliteratur untermauert wurde. Der Triumph über die Türken ließ den Kaiser in den Augen vieler als Helden erscheinen. Mochten manche murren, weil er gegen Frankreich nicht mehr herausgeholt hatte, so fand seine Verteidigung des Reichs im Westen doch breite Anerkennung und festigte seine Stellung. Es war zugegebenermaßen schwer, die deutschen Stände zur Solidarität zu bewegen, schon gar ohne Bedingungen. Aber selbst der Große Kurfürst von Brandenburg gab letztlich seine Allianz mit Ludwig XIV. auf und stand zum Reich. Wie viele andere verfolgte er unentwegt eine unabhängige Politik und machte vollen Gebrauch von seinem in den Verträgen von 1648 festgeschriebenen Recht, Bündnisse mit fremden Mächten zu schließen. Dennoch war undenkbar, dass er sich wirklich gegen »Kaiser und Reich« gestellt hätte oder in einer Union mit einem Kriegsgegner des Reichs verblieben wäre. Tatsächlich erwies sich sein 1686 geschlossenes Bündnis mit dem Kaiser, das letzte vor seinem Tod 1688, als dauerhaftestes überhaupt; es hielt über seinen Sohn und Enkel bis in die 1730er Jahre. Ein wichtiger Grund für die grundsätzliche Loyalität war Leopolds Auftreten als Kaiser und der effektive Einsatz der ganzen Palette seiner Befugnisse.
Die auffälligste konstitutionelle Neuerung seiner Herrschaft war, dass der Reichstag, der aufgrund politischer, steuerlicher und militärischer Notwendigkeiten zusammentreten musste, von da an permanent tagte. Eine von Leopolds ersten Amtshandlungen war die Verlegung der Deputation, die die Arbeit des Reichstags von 1654 fortsetzen sollte, von Frankfurt nach Regensburg.1 Berater des Kaisers glaubten, die räumliche Nähe der Deputation zum Direktorat des Rheinbunds verleihe den Kurfürsten zu viel Macht und eröffne zu viel Spielraum für französischen Einfluss. Regensburg lag näher bei Österreich. Die Deputation war ohnehin gelähmt durch den Disput über die Frage, ob sie während des Interregnums weitertagen durfte, und nun entstand die absurde Situation, dass in Regensburg auf Einladung des Kaisers eine neue Deputation tagte, während die dezimierte Tagung in Frankfurt weiterging. Beide Körperschaften erkannten einander nicht an. Der einzige Weg aus der festgefahrenen Lage war die Einberufung des Reichstags, um die Deputation insgesamt überflüssig zu machen. Im Herbst 1661 sprach vieles dafür, dass der Kaiser um Hilfe gegen die Türken ersuchen würde, und so trat schließlich im Januar 1663 in Regensburg ein Reichstag zusammen.
Es gab eine Reihe weiterer Unterschiede zu den »Türken-Reichstagen« des 16. Jahrhunderts. Leopold wohnte den Sitzungen von Dezember 1663 bis Mai 1664 bei, um Beschlüsse hinsichtlich Geld und Soldaten für den Krieg voranzutreiben. Zur Eröffnung und nach 1664 vertrat ihn jedoch der Erzbischof von Salzburg als Prinzipalkommissar, ein Amt, das Rudolf II. 1603–1608 zu diesem Zweck eingeführt hatte. Auch die Reichsstände entsandten Vertreter, statt persönlich zu erscheinen, was den Reichstag zu einem Kongress von Botschaftern machte.
Ein weiterer Unterschied war, dass der Reichstag nach der Bewilligung der Kriegszuschüsse weiterging, weil die in den Friedensverträgen von 1648 offen gebliebenen Punkte nach wie vor auf der Tagesordnung standen. Das schwierigste Problem blieb die kaiserliche Wahlkapitulation, die Gegenstand einer anhaltenden Kontroverse zwischen Kurfürsten und Fürsten war.2 Im Grunde kreiste die ganze Debatte um die Frage, wer das Recht hatte, Gesetze zu formulieren; in den 1660er Jahren forderten die Fürsten, der ganze Reichstag müsse am Entwurf einer Kapitulation beteiligt werden, die für alle zukünftigen Kaiser gültig bleiben sollte (capitulatio perpetua), während die Kurfürsten auf ihrem Vorrecht beharrten, für jeden Kaiser einen neuen Kontrakt auszuhandeln. 1671 kam es zu einem Kompromissentwurf, der für beide Seiten akzeptabel war, da er alle Interessen berücksichtigte, strittige Punkte überging und man beschloss, ihn zu einem zukünftigen Zeitpunkt endgültig auszuformulieren. Tatsächlich kam erst 1711 ein endgültiges Rahmendokument zustande, und selbst dieses wurde nicht Gesetz, weil es der Kaiser nicht ratifizierte.3
Als zweites Schlüsselthema stand die Verteidigung auf der Liste der 1648 ungelösten Fragen.4 Den Kern der Diskussion bildeten zwei Probleme: das Verteidigungssystem selbst und die Verpflichtung der Untertanen, es zu finanzieren. Im ersten Punkt musste entschieden werden, ob man die 1555 eingeführten Mechanismen zur Friedenssicherung lediglich reformieren und das System der Mobilisierung bei Angriffen von außen auf die Kreise erweitern oder etwas Neues schaffen sollte. Die kleineren Fürsten zogen eine Reform vor, die ihre weitere Teilhabe an politischen Prozessen sicherstellte. Die armierten Fürsten wollten ein neues System, in dem ihre Truppen eine kollektive Armee bildeten, bezahlt von ihren eigenen Untertanen und den unbewaffneten Territorien, deren politische Stellung entsprechend reduziert würde. Der Wunsch des Kaisers und seiner Berater war eine ständige Reichsarmee unter zentraler Befehlsgewalt, die aus Steuern von allen Untertanen des Reichs bezahlt werden sollte.
Wie bei der Wahlkapitulation wurde die Entscheidung mehrmals verschoben. Nach der Türkenkrise 1663/64 verlor das Thema für einige Zeit an Bedeutung. Als die Franzosen 1667/68 die Spanischen Niederlande angriffen, brachte Leopold es wieder auf die Tagesordnung und drängte auf eine Revision des bestehenden Systems. Im Januar 1669 einigte man sich auf eine nominelle Stärke von 30.000 Mann für die aufzustellende Reichsarmee, aber nun erwirkte eine Gruppe von Fürsten, die zu klären forderten, wie die Truppen bezahlt werden sollten, eine Vertagung der Diskussion über die Reform der Durchführungsregelungen von 1555.
1654 und 1658 war beschlossen worden, die Untertanen müssten für die Kosten aller zur Verteidigung und Friedenssicherung »notwendigen« Festungen und Garnisonen aufkommen. Die Gruppe der sogenannten Extensionisten, im wesentlichen Fürsten mit Streitkräften, wollten diese Einschränkung streichen. Ihre Untertanen sollten die gesamten Militärausgaben tragen, auch im Fall von Bündnissen mit auswärtigen Mächten laut den Verträgen von 1648.5 Was das bedeutete, war klar: Die Kosten stehender Heere würden auf die Allgemeinheit abgewälzt. Der Antrag der Extensionisten, den der Reichstag in seiner Gesamtheit im Oktober 1670 annahm, hätte sämtliche Restriktionen für die Besteuerung in den Territorien beseitigt. Daher weigerte sich Leopold strikt, ihn zu ratifizieren. Der Schutz der Untertanen vor ungerechter Besteuerung gab ihnen das Recht, vor den Reichsgerichten Beschwerde einzulegen, was wiederum bedeutete, dass es dem Kaiser vorbehalten blieb, im Fall eines für sie günstigen Urteils in den Territorien zu intervenieren.6
Mit der Ablehnung des Vorschlags der Extensionisten bekräftigte Leopold seine Pflicht, die Gesetze und Traditionen des Reichs zu wahren, und sein Recht, als Hüter der Verfassung zu wirken. Dass die Reichstagsmehrheit seine Entscheidung sofort akzeptierte, zeigte, wie sich sein Status verbessert hatte. Es war aber auch typisch für den Gang der Angelegenheiten im Reichstag, dass 1673 ein revidierter Entwurf des Durchführungsedikts vorbereitet, aber nicht weiter bearbeitet wurde.7 Die 1681 unter dem anhaltenden Druck französischer Aggression erreichte Einigung war ein weiterer Kompromiss. Es gab keinen Versuch einer systematischen Reform des Systems, sondern lediglich eine Vereinbarung über die Größe der Armee und die Übertragung der Verantwortung für ihre Aufstellung auf die Kreise. Einmal mehr siegte die Tradition über die Erneuerung.
Paradoxerweise wuchsen dem Reichstag selbst im Scheitern einer Einigung über konstitutionelle Themen schrittweise wichtige neue Funktionen zu. Eine Entscheidung, die Sitzungen auf unbestimmte Zeit zu verlängern, gab es nie.8 Über die Jahrzehnte wurde wiederholt erwogen, die Sache zu einem Abschluss zu bringen, und bis ins 18. Jahrhundert fanden es viele Kommentatoren höchst abnormal, dass eine Versammlung derart lange dauerte.9 Anfangs lag das daran, dass es zu keinem Beschluss in Sachen Reichskapitulation und Verteidigung kam. In den 1670er Jahren sorgte die zunehmende Bedrohung aus Frankreich für die Fortsetzung der Beratungen. Dann erkannte Leopold die konstitutionelle Rolle des Reichstags als repräsentierende Institution von »Kaiser und Reich« an, als er sich an die Versammlung wandte, um den Frieden von Nimwegen 1679 und den Waffenstillstand von Regensburg 1684 ratifizieren zu lassen.
Inzwischen nahm man die permanente Versammlung des Reichstags mehr oder weniger als gegeben hin und die Obrigkeit in Wien würdigte ihn als Vermittlungsinstanz in der Reichspolitik. Durch seinen Bevollmächtigten, den Prinzipalkommissar, hatte der Kaiser nun in Notfällen direkten Zugang zu den Reichsständen, ohne mühsam einen Reichstag einberufen und mit den Kurfürsten über die Tagesordnung verhandeln zu müssen. Tatsächlich wurde die Position der Kurfürsten, die im Dreißigjährigen Krieg nach Mitregentschaft getrachtet hatten, ein wenig geschwächt, indem sie ihren Platz in einer hierarchischen Institution unter dem Vorsitz des Kaisers einnahmen.10 Durch seinen zweiten Vertreter im Fürstenkolleg – den er in seiner Funktion als Herrscher von Österreich stellte – konnte Leopold auch direkt Einfluss auf die Debatten nehmen.
Die Kritiker des Kaisers mussten ihre Ansichten in Regensburg darlegen; Missverständnisse und Dispute, die vordem zu ernsten politischen Problemen auswachsen konnten, ließen sich nun in Diskussionen lösen. Streitigkeiten zwischen Reichsständen oder zwischen Kurfürsten und Fürsten verlagerten sich zunehmend auf den Reichstag, wobei der Kaiser als Vermittler wirkte und seine eigene Macht stärken konnte, indem er die Parteien gegeneinander ausspielte. Die versammelten Repräsentanten der Stände bildeten zudem eine unschätzbare Informationsquelle und dienten als Mitteilungsweg für die kaiserlichen Behörden. Der Reichstag wurde zum Forum der »öffentlichen Meinung«, an das Pamphlete gerichtet und in dem über sie diskutiert wurde.11
Diese Neuerung war so bemerkenswert, dass manch einer in Versuchung geriet, den Immerwährenden Reichstag als Europas erstes ständiges Parlament zu bezeichnen.12 Diese Überspitzung gilt nur eingeschränkt. Die im Reichstag Versammelten vertraten die Reichsstände – Fürsten, Stadtmagistraten und so fort – und nicht deren Untertanen; diese Idee tauchte erst in aufklärerischen Reformvorschlägen um 1760 auf.13 Dass der Reichstag permanent tagte, ging zudem darauf zurück, dass man in den entscheidenden konstitutionellen Punkten zu keiner Entscheidung fand. Wiederholt gab es Diskussionen darüber, ob ein Abschluss wünschenswert sei, aber die Debatte im Reich war von anderem Charakter als in England. Dort markierte der Triennial Act von 1694 den Abbruch früher Experimente mit ständigen Parlamenten, die die Machtstellung des Königs begünstigten, zugunsten einer Regelung, die den König verpflichtete, das Parlament nach einer festgelegten Zeitspanne aufzulösen (und einzuberufen). Dadurch entwickelte das englische Parlament eine institutionelle Unabhängigkeit von der Monarchie, die der Reichstag nie erreichte. Die oppositionellen Fürsten hatten nach 1640 immer wieder zwei- oder dreijährliche Reichstagsversammlungen gefordert, eben um oligarchische und monarchische Tendenzen zu verhindern. Tatsächlich wirkte der ständige Reichstag nach 1663 oligarchischen und aristokratischen Tendenzen entgegen, jedoch zum Vorteil der Krone.14 Dennoch entwickelte sich der Reichstag langsam vom konstitutionellen Kongress zu einem frühmodernen Parlament der Reichsstände.15
Es fällt schwer, ein klares Bild seiner legislativen Tätigkeit zu zeichnen. Die 1740 von Joseph Pachner von Eggersdorf veröffentlichte Sammlung von Gesetzen (Reichsschlüssen) führt etwa zweitausend Resolutionen auf. Davon fand nur ein Zehntel Niederschlag in formellen Gesetzen, viele weitere hatten indes Gesetzeskraft, obwohl sie aus diversen technischen Gründen nicht offiziell verkündet wurden. So wurden etwa von 1701 bis 1711 keine Gesetzesvorlagen (Reichsgutachten) an den Kaiser geschickt, weil dessen seit 1699 amtierender Prinzipalkommissar, der Passauer Bischof Johann Philipp von Lamberg, zum Kardinal ernannt wurde und die protestantischen Stände sich nicht einigen konnten, wie er anzusprechen sei.16
In den ersten Jahrzehnten des Immerwährenden Reichstags wurden die Verhandlungen häufig von Disputen über zeremonielle Angelegenheiten, Rangordnung und Ablauf unterbrochen.17 Die Beratungen verliefen generell schleppend, da die Abgeordneten auf Grundlage schriftlicher Instruktionen arbeiteten und sich ständig rückversichern mussten. Es dauerte bis zu einem Monat, bis ein der Kanzlei in Mainz vorgelegter Entwurf die drei Kollegien erreichte, und dann noch einmal sechs bis acht Wochen, bis die Abgeordneten von den Höfen, die sie repräsentierten, instruiert worden waren.
Jedes Kollegium musste zu einer Entscheidung finden, die drei schriftlichen Beschlüsse wurden sodann verglichen. In weiteren Gesprächen brachte man Differenzen in Einklang und formulierte ein Reichsgutachten, das nach Wien geschickt wurde, woraufhin der Kaiser nach eingehender Beratung und Abwägung das Gesetz bestätigte. Wenn seine Zustimmung Regensburg erreicht hatte, wurde das Gesetz offiziell verkündet.
Erschwert wurde die Arbeit einiger Abgeordneter dadurch, dass sie mehrere Höfe vertraten, weil nicht alle Fürsten für eigene Repräsentanten bezahlen wollten. Die Reichsstädte wurden generell von Regensburger Magistraten vertreten. Waren alle Instruktionen angekommen, verlief die Diskussion in den drei Kollegien, die für gewöhnlich zweimal die Woche zusammentraten, oft recht konzentriert. Das Kurfürstenkollegium war bis 1708 mit sieben aktiven Stimmen ohnehin klein.18 Im Fürstenkollegium übten zwanzig bis fünfundzwanzig Abgeordnete das Stimmrecht für etwa sechzig Fürsten aus, die um die hundert Stimmen hielten. Das Städtekollegium bestand aus zehn bis fünfzehn Regensburger Magistraten. Zwar konnte es Jahre dauern, ein triviales prozedurales Problem zu lösen, hingegen wurde der Boykott auf französische Importe 1676 in vier Monaten beschlossen.19
In den Jahrzehnten nach 1664 zeigte sich der Reichstag im Allgemeinen sehr aktiv. Während zu jener Zeit gut 70 Prozent aller ins englische Parlament eingebrachten Gesetzesentwürfe scheiterten, war der Reichstag auf einigen entscheidenden Feldern erfolgreich.20 Die umfassenden ordnungspolitischen Ansätze des 16. Jahrhunderts mit allgemeinen Rechtsvorschriften wie Polizei- und Münzordnungen wurden nicht wieder aufgegriffen. Diese Statuten blieben gültig, abgesehen von Ergänzungen und Anpassungen, und bildeten weiterhin den Rahmen für einen Großteil der entstehenden territorialen Gesetzgebung. Die Einigung auf neue Generalstatuten erwies sich als schwierig: Ein 1671 von den Reichsständen vorgelegter Entwurf für eine verbesserte Regelung der Handwerksgilden, einen Teilbereich früherer Polizeiordnungen, wurde erst 1731 endgültig verabschiedet, allerdings beschränkte ein 1672 verkündetes Gesetz die Autonomie der Gilden und erleichterte den Beitritt.21 Die anhaltende Diskussion über den erweiterten Entwurf führte zu Verhandlungen zwischen Einzelherrschern, einem beträchtlichen Korpus an Territorialgesetzen und schließlich einer Vielzahl regionaler Initiativen zur Angleichung der Gesetzgebung über Ländergrenzen hinweg.
Ein Großteil der Aktivitäten des Reichstags war natürlich von den fast ständigen militärischen Konflikten der Zeit geprägt. Die Reform der Reichsverteidigung 1681/82 lieferte einen übergreifenden rechtlichen Rahmen, der bis 1806 in Kraft blieb.22 Mit beträchtlichem Aufwand widmete man sich darüber hinaus ökonomischen Initiativen. Die Ausarbeitung merkantilistischer Pläne zur Förderung von Produktivität und Wachstum und zur Stärkung des »gemeinsamen Marktes« im Reich war ein wichtiger Bestandteil der Reichstagsverhandlungen ab 1664. Viele Initiativen gingen auf Eingaben der Territorien zurück. Das von Sachsen zum Schutz seiner einheimischen Farbstoffindustrie betriebene Importverbot für Indigofarben fand 1671 nicht genügend Unterstützung. Hingegen führte eine breiter getragene Kampagne gegen neue Maschinen zur Herstellung von Schleifen 1685 und 1714 zu entsprechenden Verboten.23 Es war indes bezeichnend, dass derartige spezifische Probleme nun zunehmend vor dem Hintergrund einer umfassenden Wirtschaftspolitik diskutiert wurden, unter maßgeblicher Beteiligung kaiserlicher Berater wie Johann Joachim Becher (* 1635, † 1682; besonders aktiv von 1670 bis 1676) und Philipp Wilhelm von Hörnigk (* 1640, † 1714), zwei der wichtigsten merkantilistischen Theoretiker der Zeit, sowie Christoph de Royas y Spínola (* ca. 1626, † 1695), formal ab 1664 spanischer Gesandter in Regensburg, ab 1660 indes ständiger Berater Leopolds und Autor mehrerer Entwürfe zur ökonomischen und religiösen Einigung des Reichs.24 Spínola und Hörnigk (ein Schützling Spínolas sowie Schwager und Mitarbeiter von Becher) blieben die 1680er Jahre hindurch richtungweisend.
1667 beriet der Reichstag ein umfassendes Paket von Vorschlägen zur »Emporbringung der Gewerbe und Manufakturen im Reich«. 1671 lag ein groß angelegter Gesetzeskatalog zur Abschaffung illegaler Binnenzölle, Beschneidung des Stapel- und Umschlagrechts der Städte, zum Ausbau von Straßen und Wasserwegen (inklusive der Regulierung von Preisen und Dienstleistungen der an den Wegen gelegenen Gasthäuser) und zur Festlegung von Preisen und Praktiken auf Märkten und Messen vor. Die Diskussion über die Förderung des Binnenhandels erhielt vor dem Hintergrund des Konflikts mit Frankreich eine neue Dimension.25 1674 verhängte Frankreich ein Einfuhrverbot für deutsche Waren. 1676 befürworteten Österreich und Brandenburg ein Importverbot für französische Güter. 1689 beschloss der Reichstag ein umfassendes Embargo gegen Frankreich. Es wurde 1697 aufgehoben, galt jedoch erneut von 1702 bis 1714.
Die Boykotte wurden stetig verfeinert, waren aber nie gänzlich wirksam. Die Schweizer Kantone waren berüchtigt dafür, Pfade für Schmuggelwaren bereitzustellen, und so trieben wirtschaftliche Zentren wie Hamburg und Lübeck ohne effektive Überwachung über alle Kriege hinweg Handel mit Frankreich.26 Es fällt schwer, die Auswirkungen der Embargos präzise einzuschätzen. Während jedoch noch 1648 Kommentatoren bitter über die Allgegenwart französischer Produkte klagten, konnte das Reich binnen fünfzig oder sechzig Jahren eine ausgeglichene Handelsbilanz mit Frankreich vorweisen.
Das Scheitern einer Einigung auf eine gemeinsame Währung wird oft als Beleg für die Handlungsunfähigkeit des Reichs angeführt.27 Außer Zweifel steht, dass nach den Reformen von 1559 und 1566 zwei Währungen Gültigkeit besaßen: der Gulden im Süden, der Taler im Norden. Andererseits löste sich die Trennung zwischen einer südlichen Kreuzer- und einer nördlichen Groschenzone langsam auf, da der Kreuzer zunehmend als gemeinsame Verrechnungswährung Verwendung fand. Die Übertragung der Verantwortung für die Münzqualität auf die Kreise hatte zudem eine monetäre Infrastruktur geliefert, die einigermaßen gut funktionierte, auch in der Währungskrise von 1618–1623 (der Kipper- und Wipperzeit).
Andererseits sorgte eine neue Währungsinstabilität nach 1650 für eine Vielzahl von Reformvorschlägen zur Einführung einer Leitwährung für das Reich und zur Einschränkung der Herstellung minderwertiger Münzen. Das größte Hindernis war, dass die Anzahl der Münzstätten nach 1648 erneut zunahm, da fast alle Territorien eigene haben wollten und die größeren Länder Reformen zu verhindern versuchten, die ihren Interessen abträglich waren. Leopold selbst ließ minderwertige Münzen prägen, um Geld für seine militärischen Unternehmen zu beschaffen; viele andere taten es ihm gleich. Der Wert der größten Münzen blieb stabil und war lediglich periodischen, allgemein anerkannten Anpassungen unterworfen, hingegen betraf die Entwertung in hohem Maß kleinere Münzen (10 Kreuzer und weniger), die bei alltäglichen Transaktionen verwendet wurden – die sogenannten Land- oder Scheidemünzen, deren Herstellungskosten oft höher waren als ihr Metallwert. Bei mehreren Hundert tätigen Münzstätten überrascht es nicht, das um 1692 etwa 1.200 Münzsorten in Umlauf waren.28 Viele davon fanden ausschließlich im lokalen und regionalen Alltag Verwendung, trugen also nicht zum »Münzwirrwarr« bei, den nationalistische Gelehrte in ihrer Leidenschaft für Symbole nationaler Einheit später beklagten.
Von größerer Bedeutung war jedoch die Stabilität des Systems insgesamt. 1665 ersuchten der schwäbische, fränkische und bayerische Kreis den Reichstag um eine Revision der Währung. Die Idee einer allgemeinen Inspektion aller umlaufenden Münzen (»Universalprobationstag«) scheiterte aber, weil nicht klar war, wer die Autorität besaß, ein solches Unternehmen zu leiten. Während der Reichstag ergebnislos beriet, wie man die Währung über mehrere Jahrzehnte regulieren konnte, wirkten die beiden regionalen Systeme von Gulden und Taler weiterhin stabilisierend. Vorbehaltlich einer Einigung für das Reich insgesamt schlossen Brandenburg und Sachsen 1667 in Zinna einen Währungspakt, dem sich auch Braunschweig und die Länder des westfälischen Kreises anschlossen. 1690 wurde er durch den Leipziger Münzvertrag ersetzt, der bis 1738 gültig blieb. Derweil schloss Leopold, der dem Zinnaer Pakt nicht beigetreten war, 1681 einen Finanzvertrag mit Salzburg und Bayern. 1695 entstand ein drittes System in Niedersachsen, wo einige Münzstätten Taler von leicht abweichendem Wert prägten, die sich nach der niederländischen Norm richteten.
In einigen Gegenden entwickelten sich relativ stabile Verhältnisse, »Währungskonferenzen« traten selbst dort zusammen, wo die Kreise selbst nicht tätig wurden, etwa im Norden und Osten, wo sich das Leipziger System durchsetzte, und in Österreich. In Süddeutschland hingegen brach die Kooperation der Kreise Schwaben, Franken und Bayern nach 1700 zusammen, mit besonders schlimmen Folgen für die kleineren schwäbischen und fränkischen Territorien. 1736 richteten sie eine neue Petition an den Reichstag und 1738 einigte man sich, die Leipziger Regelungen auf das gesamte Reich auszudehnen, was allerdings nie offiziell Gesetz wurde. Folgerichtig hielten Österreich, Brandenburg, Sachsen und Bayern an ihrer abweichenden Politik fest. 1806 gab es sieben unterschiedliche Währungszonen im Reich.29 Indes richtete sich jede dieser Zonen in ihrer Geldpolitik nach dem 1559 und 1566 festgelegten Rahmen und definierte ihre Währung in Relation zu den zwei offiziellen »Leitwährungen« Gulden und Taler, für die wiederum feste Wechselkurse galten.
Manche Gesetzgebungsversuche scheiterten also und die Tragweite beschlossener Gesetze war manchmal unsicher, aber der legislative Prozess als solcher war von größter Bedeutung. In jenen Jahrzehnten war der Reichstag das Forum für Debatten zu allgemeinen Problemen. Die kontinuierlichen Verhandlungen verliefen geordnet und führten bisweilen zu ausgewogenen Beschlüssen. Durch die Tätigkeit der Kreise und Territorien wurden beschlossene Gesetze oft effektiv umgesetzt. Der im Reichstag entworfene gesetzgeberische Rahmen prägte die legislative und regulatorische Praxis der Länder. Selbst gescheiterte Gesetze zogen Konsultationen nach sich – zwischen Regensburg und den Territorien und Kreisen, zwischen den Reichstagsabgeordneten, zwischen Regensburg und Wien –, die für eine Verbreitung allgemeiner Handlungsnormen sorgten und oft zu regionalen Kooperationen und Angleichungsversuchen führten.
Das Fehlen von Gesetzen auf Reichsebene schloss Regulierungen in Kreisen und Territorien nicht aus. Daran änderte auch die unterschiedliche Entwicklung der Kreise nichts: So entstanden etwa in Schwaben und Franken, die aus zahlreichen kleineren Territorien bestanden, kommunale legislative Funktionen; in Nieder- und Obersachsen hingegen, die von größeren Territorien dominiert waren, übernahmen Landesregierungen die legislativen Aufgaben der Kreise, manchmal in Kooperation über Territorialgrenzen hinweg. Natürlich gab es dabei Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, die jedoch meist in Regensburg beigelegt wurden. Vor allem jedoch kam es bis etwa 1700 im Reichstag nicht zu konfessionellen Auseinandersetzungen, und als solche Probleme dann doch wieder auftauchten, waren sie eingebettet in einen seit Jahrzehnten institutionalisierten politischen Prozess.
Die Dauertagung des Reichstags verschaffte dem Kaiser eine neue Präsenz im Reich. Leopold selbst unternahm während seiner siebenundvierzig Herrschaftsjahre nur fünf Reisen von seinen österreichischen Erblanden ins Reich. Keine führte ihn weiter als bis nach Frankfurt, wo er 1658 gewählt und gekrönt wurde.30 Seine Vertreter in Regensburg hielten ihn jedoch über die offiziellen Papiere hinaus, die seine Entscheidung erforderten, stets auf dem Laufenden.
Flankiert wurde die Arbeit der Regensburger Abgeordneten durch ein wachsendes Netzwerk von Vermittlern überall im Reich.31 Die ersten Reichsgesandten wurden als Reaktion auf Schwedens Eingreifen in die norddeutsche Politik in Hamburg (1628), Bremen (1640) und Lübeck (1653) ernannt. Französische Aktivitäten an vielen deutschen Höfen in den 1650er und 1660er Jahren veranlassten die Bestellung von Gesandten in Dresden und Berlin (1665), Mainz (1673) und München (1674). So entstand ein offizielles Geflecht ständiger Botschafter auch in den schwäbischen und fränkischen Kreisen und in wichtigen Reichsstädten wie Nürnberg, Köln, Frankfurt, Ulm und Augsburg. Mit Frankreichs Krieg gegen die Niederlande 1672 kam es zu Versuchen der Postüberwachung im Reich: Der Leiter des Hamburger Postamts erhielt die Anweisung, »schädliche Korrespondenz« abzufangen.32
All diese Initiativen waren Stückwerk, ihre Wirksamkeit zweifellos begrenzt. Das Netzwerk von Botschaftern erreichte erst nach 1700 mit einer systematischen Abdeckung der wichtigsten Höfe und Städte und der regulären Ernennung von Gesandten in den Kreisen seine größte Ausdehnung. Auch die verdeckte Postüberwachung wurde erst durch die Einrichtung von »Postlogen« in den Sortierzentren in Frankfurt, Augsburg und Nürnberg besser organisiert und engmaschig.
All diese Vorgänge muss man jedoch in Relation zu der geringen Größe der zentralen Reichsinstitutionen in Wien betrachten. In den 1670er Jahren etwa beschäftigte die Reichshofkanzlei nicht mehr als um die fünfzehn Angestellte (und weitere achtzehn in der österreichischen Kanzlei); der Reichshofrat hatte etwa fünfundzwanzig Mitglieder (die praktisch Richter waren, aber keineswegs alle eine juristische Ausbildung besaßen), unterstützt von einer Kanzlei mit gut dreißig Mitarbeitern.33 Die Anzahl der Initiativen zur Verbesserung der Kommunikation während der Herrschaft Leopolds I. macht einmal mehr das wachsende Ausmaß der kaiserlichen Regierungstätigkeit im Reich deutlich.
Ebenso auffällig wie neue Formen der Informationsbeschaffung und politischen Einflussnahme war, wie ältere Instrumente monarchischer Herrschaft den neuen Gegebenheiten angepasst wurden. Ständige Vertreter ins Reich zu entsenden, war aufgrund chronischen Geldmangels nur begrenzt möglich und noch immer war man es gewohnt, dass das Reich – oder vielmehr: die kaiserlichen Vasallen – zum Kaiser kam. Die Beziehungen zwischen dem Kaiser als oberstem Lehnsherrn und Adel sowie Städten als Vasallen bildeten während Leopolds Herrschaft die Grundlage der Reichsregierung.
Dabei spielte der Reichshofrat in Wien eine Schlüsselrolle.34 Vor 1648 war er hauptsächlich eine Kombination aus Staatskanzlei und oberstem Gericht.35 In seiner juristischen Funktion konkurrierte er mit dem Reichskammergericht in Speyer, das von den Reichsständen finanziert und besetzt wurde. Die vielen Funktionen des Reichshofrats hatten auch dazu geführt, dass folgende Kaiser, vor allem Rudolf II. und Ferdinand II., ihn als Werkzeug der katholischen Politik im Reich einsetzten. Tatsächlich wurden Gerichtsentscheidungen zu wichtigen und empfindlichen Themen generell dem Kaiser übergeben (votum ad imperatorem) und von seinen Hofräten begutachtet, bevor er sein letztgültiges Urteil fällte. Folglich misstrauten die meisten protestantischen Fürsten dem Reichshofrat; seine Tätigkeit war ein Hauptgrund für ihre Klagen vor und während des ersten Jahrzehnts des Dreißigjährigen Krieges. 1648 hatten die Fürsten versucht, die Macht des Hofs einzudämmen und seine Besetzung dem Paritätsprinzip zu unterwerfen. Ferdinand III. indes hatte 1654, ohne die Stände zu konsultieren, ein neues Statut für den Hof beschlossen, das solche Forderungen schlichtweg ignorierte.
Obwohl der Reichshofrat der Hof des Kaisers blieb und immer überwiegend aus Katholiken bestand, wuchs seine Bedeutung in den Jahrzehnten nach 1648 stetig, hauptsächlich weil sich Ferdinand III. und Leopold I. dem konstitutionellen Rahmen der Friedensverträge verpflichtet fühlten. Hinzu kamen Probleme beim Reichskammergericht, dessen Verfahren oft dadurch behindert wurden, dass die Stände mit ihren Zahlungen in Rückstand gerieten. Nach der französischen Invasion wurde es 1689 ganz geschlossen und erst 1693 in Wetzlar wieder eröffnet, von 1704 bis 1711 ruhte seine Tätigkeit erneut, diesmal wegen eines Disputs über die Entlassung des katholischen Gerichtspräsidenten durch Leopold.36 Insgesamt war seine Kernkompetenz, die Erhaltung des Landfriedens, nun auch weniger gefragt.
Selbstverständlich aber spielte das Reichskammergericht weiterhin eine wichtige Rolle. Besonders attraktiv scheint es für bestimmte Sorten von Klägern aus Norddeutschland gewesen zu sein, während sich süddeutsche Appellanten offenbar instinktiv nach Wien wandten. Klar ist indes, dass die Bedeutung des Reichshofrats auf Kosten des Reichskammergerichts zunahm.37
Obwohl mehrheitlich katholisch besetzt, hielt sich der Reichshofrat im Großen und Ganzen an das Prinzip der Unparteilichkeit. Von 1663 bis 1788 gingen wegen seiner Urteile vierundsiebzig Beschwerden beim Reichstag ein; in keinem Fall konnte eine konfessionelle Voreingenommenheit festgestellt werden. Verfahren wurden im Reichshofrat im Allgemeinen schneller entschieden und waren daher kostengünstiger als vor dem Reichskammergericht. Oft wurden seine Urteile auch wirkungsvoller umgesetzt, weil er regelmäßig kaiserliche Kommissionen entsandte, um Probleme im lokalen Umfeld zu lösen. Diese Kommissionen, die oft mehrere Jahre vor Ort blieben, waren für den Kaiser ein wichtiges Werkzeug zum Eingriff in die inneren Angelegenheiten von Territorien und Städten.
Der Hof vereinte die Funktionen eines obersten Verfassungs- und Feudalgerichts und einer Kontrollbehörde für alle Stände, deren direkter oberster Lehnsherr der Kaiser war, etwa Reichsstädte, Reichsritter und die italienischen Lehen. Mittels dieser Befugnisse entwickelte er auf vielen wichtigen Feldern der Politik hohe Kompetenz. Am geläufigsten waren sieben Klassen von Verfahren: Untertanen gegen ihre Herrscher, Territorialstände gegen Fürsten, Domkapitel gegen Bischöfe und Prälaten, Erbstreitigkeiten in Adelsfamilien (wobei es auch um Vormundschaft und illegitime Nachkommen ging), Verschuldung und Bankrott von Fürsten und Adligen, Bürger gegen Magistrate von Reichsstädten und schließlich konfessionelle Konflikte, oft in Form von Klagen von Untertanen gegen ihre Herrscher.38 Für einige dieser Felder gab es Reichsgesetze, an denen sich die Urteile orientieren konnten. Viele Auseinandersetzungen indes, besonders wenn es um widerstreitende Argumente in Sachen Tradition und Privilegien ging, musste das Gericht so lösen, dass alle Beteiligten den im Namen des Kaisers ergangenen Erlass als bindend betrachten konnten.
Natürlich gab es Beschränkungen. Die größeren Territorien, auch die Länder der Habsburger selbst, waren in der Praxis von der Rechtsprechung des Hofrats ausgenommen – meist jene Länder, für die dasselbe am Reichskammergericht galt (durch ein privilegium de non appellando oder weil sie von allen Reichsgesetzen ausgenommen waren).39 Viele Adelsfamilien lösten interne Zwistigkeiten und Probleme mit anderen Dynastien weiterhin lieber durch ad hoc eingesetzte Schlichtungstribunale.40 Auch Reichsstädte griffen häufig auf diese traditionelle Form der Rechtsprechung zurück. Die Tribunale wurden gemäß dem für das Reichskammergericht gültigen Statut oder aufgrund dynastischer oder regionaler Übereinkünfte zwischen zwei oder mehr Familien beziehungsweise Städten gebildet. Ihre Arbeit war indes mühsam und kostspielig, und obgleich sie bis 1806 existierten, übernahm mit der Zeit der Reichshofrat viele ihrer traditionellen Aufgaben.
So wurde es außer in den größten Territorien zum gängigen Mittel der politischen und juristischen Praxis, sich an den Reichshofrat zu wenden. In einigen Fällen griff er entscheidend ein. Kaiserliche Schuldenkommissionen setzten die Herrschaft eines Fürsten außer Kraft, während seine Finanzen und seine Administration ein Beirat von »Treuhändern« übernahm, oft unter Leitung eines benachbarten Fürsten. Die ungeheure Fülle an Verfahren, die die thüringische Adelsfamilie der Ernestiner aufgrund ihrer vielen Nachkommen über mehrere Generationen und ihrer Abneigung gegen die Primogenitur am Reichshofrat anstrengte, zeigt, welch wichtige »Regierungsrolle« der Hofrat erfüllte.41 Die Region wurde befriedet und stabilisiert. Konflikte, die sich vordem gewalttätig entladen hätten, klärte man nun in Verhandlungen. Der Reichshofrat regelte die Besteuerung, löste Fälle von Bankrott und restrukturierte Landesfinanzen, entschied über die Verteilung von Besitztümern und das Erbe von Dynastien und vermittelte bei Konflikten zwischen deren Angehörigen. Viele Verfahren wurden nie durch ein offizielles Urteil abgeschlossen, sondern durch lokale Vermittlung gelöst, manchmal von kaiserlichen Gesandten, deren Auswahl sich weniger nach irgendeinem Patronagesystem richtete als nach ihrer Eignung für einen speziellen Fall. Insgesamt gab man sich offenbar alle Mühe, Streitigkeiten auf rechtlicher, nicht politischer Grundlage beizulegen.
Beschwerden von Landständen wegen ungerechter Besteuerung, begünstigt durch Leopolds Weigerung, den Reichstagsvorschlag einer Erweiterung der steuerlichen Macht der Fürsten von 1671/72 zu billigen, führten immer wieder zu kaiserlichen Interventionen zugunsten der Stände. Dass mehr als ein Viertel der zwischen 1648 und 1806 vor dem Reichshofrat verhandelten Klagen Beschwerden von Untertanen gegen ihre Herrscher betraf, war ein starkes Motiv für die Fürsten, umsichtig und maßvoll zu regieren. Im schlimmsten Fall konnte der Kaiser einen Fürsten auch absetzen lassen, was zwischen 1683 und 1698 fünfmal geschah.42 Derartige Fälle waren relativ selten, aber dass sie überhaupt vorkamen, spornte die meisten Territorien und Städte an, eine externe Einmischung in ihre Angelegenheiten tunlichst zu vermeiden. So trug der Hofrat dazu bei, dass sich gängige Traditionen, Gesetze und Werte im ganzen Reich durchsetzten.
Am meisten zu tun hatte der Reichshofrat mit weniger mächtigen Angehörigen des Reichs: Bischöfen und Prälaten, kleineren Fürsten, Reichsgrafen, -rittern und -städten. Die Jahrzehnte nach 1648 kennzeichnete eine Intensivierung der Beziehungen zwischen dem Monarchen und diesen Gruppen auch auf andere Weise. Insbesondere Leopold I. förderte den Adel des Reichs ganz allgemein. Auch dies unterstreicht die Bedeutung des Wiener Hofs als Bezugspunkt für die Nobilität der habsburgischen Länder und viele andere Adlige im Reich.