Читать книгу Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien - Joachim Whaley - Страница 7
Einführung zu Band II:
Vom Westfälischen Frieden zur Auflösung des Reichs 1806
ОглавлениеFür die Zweiteilung dieser Studie zum Heiligen Römischen Reich der frühen Neuzeit im Jahr 1648 gibt es praktische und chronologische Gründe. Der zweite Band hat in etwa den gleichen Umfang wie der erste. Jener schloss und dieser beginnt mit einem der wichtigsten Marksteine der deutschen Frühneuzeit: dem Westfälischen Frieden, der den Dreißigjährigen Krieg beendete. Dieser Friedensschluss gilt als ein entscheidender Augenblick der deutschen Geschichte und steht nach verbreiteter Ansicht auch für den endgültigen Untergang aller Hoffnungen, die die Reformation geschürt hatte, den Beginn einer langen autoritären Phase der Entwicklung in den deutschen Territorien und den Anfang vom Ende des Reichs. Im Gegensatz dazu liegt der Schwerpunkt dieser Studie auf der Kontinuität.
Die Friedensverträge proklamierten das Prinzip ewigen Vergessens und allgemeinen Straferlasses (perpetua oblivia et amnestia), verkörperten jedoch zugleich die Erinnerungen der vorangegangenen hundertfünfzig Jahre. So bildeten sie den Abschluss der konstitutionellen Verhandlungen, die mit den ersten Vorschlägen zu einer Reform des Reichs im 14. Jahrhundert begonnen hatten. Bis Ende des 15. Jahrhunderts entstand aus diesen Reformplänen ein weitreichendes Programm, das während der Regierung von Maximilian I. Gegenstand intensiver Verhandlungen war. Heraus kam ein Kompromiss zwischen dem Kaiser und den Reichsständen. Diese erklärten sich bereit, das Reich nach außen zu verteidigen und den inneren Frieden zu sichern, gestanden dem Kaiser jedoch weder ein stehendes Heer noch eine permanente Institution zur Ausübung der Zentralgewalt zu. Die Reformation und verschiedene folgende politische Einigungen stellten den Kompromiss auf den Prüfstand und untermauerten ihn zugleich, insbesondere der Augsburger Religionsfriede von 1555. Aus den Konflikten erwuchsen wichtige Prinzipien bezüglich religiöser Rechte, die weitreichende Folgen für die allgemeine gesetzliche und politische Entwicklung des Reichs hatten. Aber die verfassungsrechtlichen Kernfragen blieben ungelöst.
Der Westfälische Friede entschied diese Streitfragen nicht zugunsten einer der beiden Parteien, schuf jedoch ein befriedigenderes Gleichgewicht und einen Rahmen, der bis zur Zerstörung des Reichs durch Napoleon 1806 erhalten blieb. Die Verteilung der Macht zwischen Kaiser und Ständen blieb ein zentrales Problem, über das zwischen 1648 und 1806 unablässig neu verhandelt wurde. Die mächtigen Kurfürsten suchten sich als eine Art herrschende Oligarchie neben dem Kaiser und über den restlichen Ständen zu etablieren. Brandenburg-Preußen widersetzte sich nicht als einziges Reichsgebiet zunehmend der kaiserlichen Oberherrschaft. Wie die übrigen war es indes nie imstande, die Habsburger ernsthaft in die Schranken zu fordern.
Während dieser Zeit erfreute sich das Reich einer bemerkenswerten Stabilität. Es gab keine grundstürzenden Herausforderungen für den Status quo wie die Reformation, den Pfälzischen Ritteraufstand und die Bauernkriege der 1520er Jahre. Religiösen Bewegungen und neuen intellektuellen Strömungen des späten 17. und des 18. Jahrhunderts entsprangen Ideen zur Umgestaltung des Reichs, die aber die in den eineinhalb Jahrhunderten vor 1648 gewachsenen Grundlagen des Systems nie gefährdeten. Die bedeutendsten Veränderungen spielten sich in den Ländern ab, nicht im Reich, aber auch das Reich als solches war gegen Reformen nicht immun. Das deutsche Gemeinwesen insgesamt entwickelte sich und passte sich den neuen Gegebenheiten in Europa an, den neuen Konzepten zu Charakter und Funktion von Herrschaft, neuen religiösen Gedanken, den Herausforderungen der Aufklärung und den neuen politischen Ideen, die sich nach 1789 von Frankreich aus verbreiteten.
Der historiografische Rahmen dieses Buchs wurde bereits in den einführenden Worten, Darstellungen der frühneuzeitlichen Geschichte Deutschlands, in Band I umrissen. In Band II gibt es mehrere vorherrschende Themen, die zu Beginn jedes Kapitels erläutert werden. Zentrales Thema ist die Funktionsfähigkeit des Reichs und seiner Institutionen sowie die Frage nach der Herausbildung eines deutschen Nationalgefühls parallel zu oder im Widerstreit mit territorialen Patriotismen. Führte Österreichs Entwicklung zur Großmacht dazu, dass es dem Reich quasi entwuchs? Machten Brandenburg-Preußens machtpolitische Ambitionen es zum Widersacher anderer deutscher Länder und zur Bedrohung für die Zentralgewalt? Wie veränderte sich die politische Kultur des Reichs und seiner Länder und was verstand man im späten 18. Jahrhundert unter dem Schlagwort von der »Libertät« oder »Freiheit der Deutschen«? Wie war das Verhältnis der Institutionen des Reichs zu den Regierungen der deutschen Länder und inwiefern trugen die Reformen auf Landesebene zur augenscheinlichen Immunität des Reichs gegenüber den revolutionären Umbrüchen bei, die Frankreich 1789 erfassten?
Und schließlich: Was bedeutete das Reich seinen Einwohnern Ende des 18. Jahrhunderts, welches Erbe hinterließ es dem 19. und 20. Jahrhundert? Die führenden deutschen Historiker des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren überzeugt, dass das Reich 1806 bestenfalls bedeutungslos und schlimmstenfalls zum Hindernis für Fortschritt und nationale Einigung geworden war. Dieses Buch hingegen wird den Schluss nahelegen, dass seine politische Kultur und die nationale Identität, die aus ihr entstand, die Entwicklung der deutschsprachigen Teile Europas bis heute prägt.