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Einführung
ОглавлениеSpätestens seit James Clavells Roman Shōgun (1975) und dessen Verfilmung mit Richard Chamberlain ist das Bild des stoischen, todesmutigen Samurai, der für seinen Lehnsherrn und seine Ehre von einer Sekunde zur nächsten in Gewalt auszubrechen und rückhaltlos sein Leben aufzugeben vermag, fest in der westlichen Vorstellung verankert. Typische Klischees kommen zum Beispiel in einem Feuilletonartikel zum Tragen, dem zufolge Samurai nach einem strengen Ehrenkodex lebten, dem bushidō, dem »Weg des Kriegers«. Sieben anzustrebende Tugenden schrieb der Bushidō einem Samurai vor: »Entscheidungskraft, Mut, Nächstenliebe, Respekt, Aufrichtigkeit, Ehre und Treue«. Treue sei die wichtigste, denn verlor ein Samurai seinen Herrn – etwa durch dessen Tod –, wurde er zum Rōnin und musste dann eigentlich nach den Regeln des Bushidō den rituellen Suizid begehen.1
Aber auch in Japan selbst ist diese Idealvorstellung noch überaus lebendig. Am 28. Mai 2007 beging zum Beispiel der vormalige Landwirtschaftsminister Matsuoka Toshikatsu Selbstmord, nachdem er wegen des Verdachts der Veruntreuung öffentlicher Gelder in die Kritik geraten war. Ishihara Shintarō, der für seinen nationalistischen Einschlag berühmt-berüchtigte Gouverneur von Tōkyō, kommentierte Matsuokas Tat, er denke, auch Matsuoka sei ein Samurai gewesen, weil er durch seinen Tod Buße geleistet habe.
Sowohl im Westen als auch in Japan selbst beflügeln so die Samurai und ihr »Ehrenkodex« die Fantasie von Japanfreunden in einer Weise, die eine kritische Beurteilung des Phänomens erschwert. Zusammen mit dem häufig angeführten Zen-Buddhismus ist die angeblich jahrhundertealte japanische Kriegerethik, wohlbekannt unter der Bezeichnung bushidō, ein gutes Beispiel für gewisse Themen fernöstlicher Exotik, die allzu oft mit pseudo-esoterischen Methoden zur spirituellen Persönlichkeitsentwicklung in Verbindung gebracht werden, anstatt sie kritisch zu analysieren.
Obwohl sogar Basil Hall Chamberlain (1850–1935), ein namhafter Mitbegründer der Japanologie, die Signifikanz oder auch nur die Existenz des Wortes bushidō vor 1900 bestreitet,2 war der japanische »Weg des Kriegers« nach dem Zweiten Weltkrieg ein beliebtes Objekt westlicher Studien, um sowohl die rapide Modernisierung und Industrialisierung Japans nach der Meiji-Restauration (1867–68) als auch seine militärischen Triumphe über China 1895 und Russland 1905 oder auch den japanischen Militarismus vor und das japanische Wirtschaftswunder nach 1945 zu erklären.
Unter Wissenschaftlern, die sich mit der Wirtschaftsentwicklung Japans beschäftigten, ist es ein Allgemeinplatz, dass Japans Erfolge in diesem Bereich durch seine besonderen sozialen und kulturellen Wurzeln aus vorindustriellen Zeiten zu erklären seien. Die Samurai-Klasse und Bushidō wurden dabei als Instrumente in der Formierung einer modernen Industrie während der Meiji-Periode (1868–1912) und der Formulierung einer modernen japanischen Geschäftsethik verstanden, vergleichbar etwa mit der »protestantischen Ethik«, wie sie Max Weber als den »Geist des Kapitalismus« aufgezeigt hat (1904/05)3 – obwohl wirtschaftliche Aktivitäten seitens des japanischen Kriegeradels vor 1868 als etwas Schändliches und unter der Würde eines Samurai stehend bewertet wurden.
Neben solchen wirtschaftswissenschaftlichen Analysen wurde die Verbreitung von Bushidō-Werten unter der breiten Bevölkerung von 1868 bis 1945 auch für die Direktheit verantwortlich gemacht, mit der das japanische Militär die politische Macht in den 1930er Jahren ergreifen konnte. So wird argumentiert, dass die Meiji-Regierung nach 1868 für den schnellstmöglichen Aufbau einer »reichen Nation und einer starken Armee« (fukoku kyōhei) wissenschaftliche Methoden und Technologie aus dem Westen einführte, während sie zur selben Zeit die feudale Ideologie des Bushidō restaurierte und sie mit der »primitiven Stammesreligion der Kaiserverehrung« kombinierte, um auf diese Weise ihre relative Unterlegenheit an materiellen Kräften zu kompensieren. Diese Kombination konstituierte dann angeblich das militärische Ethos der kaiserlichen Armee, die dann selbst über das Erziehungssystem die allgemeine Bevölkerung indoktrinierte.4
Der Begriff bushidō wurde außerhalb Japans hauptsächlich durch Nitobe Inazōs Buch Bushidō: The Soul of Japan aus dem Jahre 1900 bekannt gemacht, ein bis heute gern gelesenes und oft zitiertes Standardwerk zur japanischen Kriegerethik. Ursprünglich auf Englisch geschrieben, sollte es der westlichen Welt die Grundlagen japanischer Moral und Ethik vorstellen, stellte aber gleichzeitig auch eine Verteidigung japanischer Kultur gegen Ansprüche der westlichen Zivilisation auf kulturelle Überlegenheit dar.5 Tatsächlich griff Nitobe in seinen Anstrengungen, die japanische Moralität zu verteidigen, allerdings wie viele andere Ideologen seiner Epoche auch einen angeblich traditionellen Begriff auf und füllte diesen mit modernen Ideen und Konzepten.6
Neben Nitobes Buch werden das Budō Shoshinshū von Daidōji Yūzan (1639–1730) und das Hagakure von Yamamoto Jōchō (1659–1719) oft im gleichen Atemzug erwähnt, obwohl sie zeitlich und auch inhaltlich gesehen kaum mit Nitobe in Verbindung gebracht werden können. Der Grund dafür, dass diese Bücher zum Fundament des westlichen Verständnisses über Bushidō werden konnten, mag wohl darin liegen, dass sie zu den wenigen Bushidō-Texten gehören, die in europäischen Sprachen erhältlich sind.
Das Hagakure nimmt eine ganz besondere Stellung im Bushidō-Diskurs ein, weil es sowohl in Japan als auch in westlichen Ländern als »eine der unmittelbarsten Reflektionen des Samurai-Selbstverständnisses«7 verklärt wird. Als beliebte Lektüre japanischer Offiziere vor und während des Zweiten Weltkrieges erhielt es in den 1970er Jahren im Westen weite Aufmerksamkeit durch das Hagakure Nyūmon, einen Kommentar des berühmt-berüchtigten Nachkriegsautors und Rechtsextremisten Mishima Yukio (1925–1970) aus dem Jahre 1967.
Obwohl dem Hagakure normalerweise zentrale Bedeutung bei der Formulierung einer Samurai-Ethik in vormoderner Zeit eingeräumt wird, wird die tatsächliche Rolle und sein Wert als ein repräsentatives Beispiel für eine solche Ethik in der Regel stark überbewertet. Es enthält zum Beispiel im Gegensatz zu den Werken Daidōji Yūzans (1639–1730) und dessen Lehrers Yamaga Sokō (1622–1685) keine wohldurchdachte Philosophie, sondern zeigt im Gegenteil durchweg eine antiintellektuelle Einstellung. Seine Verbreitung blieb bis zur Meiji-Periode auf die südjapanische Nabeshima-Domäne beschränkt, wo es kompiliert und dann einzeln von Hand kopiert wurde. Eine gekürzte Fassung kam zum ersten Mal 1906 in den Druck, während die erste vollständige Druckversion erst 1916 erschien. Größere Bekanntheit erreichte das Hagakure aber erst, als es 1940 mit den revidierten und kommentierten Fassungen von Kurihara Kōya (Daten unbekannt) sowie Watsuji Tetsurō (1889–1960) und Furukawa Tetsushi (geb. 1912) allgemein erhältlich wurde. Es ist daher nicht übertrieben zu behaupten, dass das Hagakure im 20. Jahrhundert einen sehr viel größeren Einfluss auf das moderne Japan als im 18. und 19. Jahrhundert auf das feudale Japan ausüben konnte.
Was viele Leser und Kommentatoren daher in ihrer Begeisterung für das »vormoderne Heldentum« der japanischen Krieger zu vergessen scheinen, ist, dass ein solcher Text nicht leer im Raum steht, sondern auf gewissen historischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen basiert. Zwar werden der Bushidō im Allgemeinen und das Hagakure im Besonderen gerne als universell gültige Philosophien mit Anwendungsmöglichkeiten im modernen Alltag sowie im Geschäftsleben verstanden, aber dabei wird allzu schnell übersehen, dass eine angemessene, ausgewogene Interpretation ohne genauere Kenntnis der historischen, gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Hintergründe des Zustandekommens eines solchen Werkes letzten Endes auf reine Spekulation hinauslaufen muss.