Читать книгу Kahlbergs Talfahrt - Joe Wentrup - Страница 10

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KAPITEL VIER

Warum nur hatte Ted ihn hierherbestellt. Nicht sein Anliegen beschäftigte Kahlberg in diesem Moment, sondern das Lokal. Anscheinend wollte Ted ihm zeigen, dass man auch hier auf der Höhe der Zeit lebte. Kahlberg allerdings hätte einer urigen Landspelunke den Vorzug gegeben, mit rotgesichtigen Bauern und einfachen Gesprächen, die durch den musikfreien Schankraum schollen. Aber es lag ihm fern, sich zu beschweren. Dafür war er nicht hierhergekommen.

Er trank den Rest seines Bieres aus. Als er dessen schalen Geschmack wahrnahm, wurde ihm bewusst, wie die Zeit vergangen war. Der immer gleiche wummernde Sound aus der Konserve hatte ihn eingelullt wie ein Sonnenuntergang auf Ibiza nach einem durchtanzten Wochenende.

Der Mann mit dem schmalen Schnäuzer war in der Zwischenzeit von einem kurzen Toilettenbesuch zurückgekehrt, hatte einen kleinen Geldschein auf die Theke gelegt und das Lokal verlassen, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Zweifellos ein Snob, den es an den falschen Ort verschlagen hatte.

Wie Kahlberg nun so allein im Club saß, begann er darüber nachzusinnen, ob er Teds offensichtliche Verdauungsprobleme mit einer Zigarette überbrücken oder sich doch lieber das dritte Bier bestellen sollte.

Schließlich entschied er sich für keine der beiden Optionen und stand auf, um nach dem Rechten zu sehen. Ted war einfach schon zu lange fort.

Die Toiletten befanden sich im Keller, eine schmale Treppe führte hinab, geradewegs auf ein aus Flusskiesel und Wurzelholz drapiertes Gebilde zu, das wohl irgendwie spirituell und Zen sein sollte. Kahlberg erblickte sich im darüber angebrachten Spiegel und zweifelte daran, ob er jenes Stillleben bereicherte. Überhaupt überließ er das Betrachten seines Äußeren lieber dem Rest der Welt.

Als er die Herrentoilette betrat, schien sie leer zu sein.

»Ted?«, rief Kahlberg in die Stille.

Er lauschte in den zwielichtigen Raum hinein. Nichts. Eine nach der anderen öffnete er die Toilettentüren, aber die Kabinen boten nur den Anblick reinlicher, unberührter Leere in Erwartung eines lebhaften Wochenendes.

Er machte kehrt und durchquerte erneut den Flur in Richtung Treppe, als er eine Tür bemerkte, an der er zuvor achtlos vorübergegangen war. Sie war nicht verschlossen. Er öffnete sie, näherte den Kopf dem lichtlosen Spalt und hörte ein kaum vernehmbares Rascheln.

»Ted, bist du hier?«

Kahlbergs Hand ertastete den Lichtschalter. Mit einem Klick war der Raum erleuchtet.

Ted saß auf einem abgewetzten, dunkelgrünen Kunstledersofa, auf dessen Rückenlehne ein gerahmtes Poster der Beatles stand. An den Wänden befanden sich Regale, vollgestopft mit Geschirr, ausgedienten Dekorationen und sonstigem Ramsch. Von der Decke hing eine britische Flagge, wohl ein Relikt vom letzten Themenabend.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Fotograf durch seine verrutschte Brille zu Kahlberg. Eine Hand hatte er an den Hals gelegt, seine Lippen bewegten sich wortlos.

»Was ist los mit dir?«, fragte Kahlberg noch bevor er das Blut sah, das zwischen Teds Fingern in einem pulsierenden Schwall hervorströmte.

Mit einem Satz war er bei ihm und presste seine Hand ebenfalls auf die Wunde, die sich erschreckend feucht und tief anfühlte, ein professionell gezogener Schnitt. Mit der anderen Hand holte er sein Telefon hervor und wählte den Notruf, während er, zur Treppe gewandt, lauthals »Hilfe!« brüllte. »Hilfe, verdammt noch mal!«

Endlich meldete sich eine Jungmännerstimme am anderen Ende der Leitung und bat um die genaue Adresse, welche ihm Kahlberg nicht nennen konnte, nur den Namen des Clubs und seine ungefähre Lage auf der Hauptstraße; die Stimme fragte erneut nach der exakten Hausnummer und Kahlberg brüllte ins Telefon: »Fick dich, hier stirbt jemand!« Endlich schien Bewegung in den Typen der Notrufannahme zu kommen. Das Blut unter Kahlbergs Hand quoll weniger, pochte weniger, während Ted ihn mit großen, glasigen Augen anblickte, die seiner eigenen Hinrichtung beiwohnten, die er nicht fotografieren würde noch irgendjemand sonst; eine sinnlose Hinrichtung an einem verschissenen Wintersportort im Sommer.

Die Bedienung erschien in der Tür, ihr entwich ein entsetzter Schrei, bevor sie beide Hände vor den Mund schlug, zurückstolperte und auf den ihr gefolgten Kollegen prallte, der ebenfalls vor Schreck erstarrte, bis Kahlberg beide mit sich überschlagender Stimme auf die Straße vor den Club scheuchte, damit sie dem Krankenwagen ein Zeichen geben konnten.

Plötzlich löste Ted seine Hand vom Hals und streckte sie mühsam aus. Sie leuchtete grotesk rot, wie ein inneres Organ, das zu einer Extremität mutiert war. Schwerfällig versuchte Ted, mit dem daran haftenden Blut etwas auf die Lehne des Sofas zu schreiben. Doch die gewölbte Fläche und die dunkle, alles Licht verschluckende Farbe machten es unmöglich.

»Warte!«, sagte Kahlberg hastig. Er nahm das gerahmte Poster der Beatles mit seiner freien Hand, ohne die andere von der pochenden Wunde zu nehmen, und legte es auf Teds Schoß.

Der hob mühsam seine Hand und ließ auf der Unterlage ein krakeliges »M« entstehen, wie ein unbeholfenes, verstörtes Kind, das mit Fingerfarben malt. Dann folgte eine aufsteigende Linie, die seine ganze Kraft beanspruchte und von deren Gipfel sein Finger erschöpft hinabrutschte, als hätten ihn seine Kräfte verlassen. Doch mit letzter Anstrengung zeichnete er einen Querstrich durch die beiden entstandenen Linien und es entstand ein »A«. Er versuchte erneut, seine Hand zu bewegen, die heftig zu zittern begann, bis sein ganzer Körper von einem Krampfanfall geschüttelt wurde. Dann versagten seine Muskeln ihren Dienst. Die Hand sackte schlaff herab, Ted starrte ausdruckslos durch die offene Tür des Abstellraums auf die weißen Kacheln des Toilettenflurs. Die klaffende Wunde unter Kahlbergs Hand hatte aufgehört zu pochen.

»Ted!«, schrie Kahlberg. »Halt durch, Ted!«

Doch er wusste, Ted Jones war tot.

Sein Blick fiel auf die mit Blut über die lachenden Beatles geschriebenen Buchstaben. Helter Skelter, schrie es in Kahlberg. Bilder von blutbeschriebenen Wänden und das irre Lachen eines Hippies mit Hakenkreuztätowierung auf der Stirn drangen auf ihn ein. Kahlberg biss die Zähne zusammen und geordnete Gedanken kehrten zurück. Hektisch begann sein Gehirn, die Ereignisse zu rekapitulieren. Der Typ mit dem Schnäuzer, schoss es ihm durch den Kopf, während er mit vor Hast zitternden Händen Teds Taschen durchsuchte. Das Telefon war verschwunden.

Er stürzte aus dem Abstellraum, hechtete die Treppen hinauf, raus auf die Straße, wo die beiden Angestellten standen. In der Ferne heulte die Sirene eines Krankenwagens. Kahlbergs Blick suchte die Straße ab. Von dem Typ mit dem Schnäuzer fehlte jede Spur.

Der Land Rover stand noch immer dort, wo ihn Ted geparkt hatte. Eilig ging Kahlberg hinüber und prüfte die Fahrertür. Sie war offen. Alarmiert blickte er ins Innere. Im aufgeklappten Handschuhfach lag eine Anhäufung von Straßenkarten und alten Parkscheinen. Dazwischen leuchtete das Orange einer Broschüre von Max-Energie, die man gegenwärtig aufgrund der aggressiven Werbekampagne des Stromanbieters in jedem Briefkasten fand. Weiter oben lag der Hochglanzprospekt eines Automatenkasinos in Himmel. Er schien Kahlberg nicht so recht in das Sammelsurium zu passen und er steckte ihn ein. Hastig durchstöberte er die hintere Sitereihe und den Laderaum. Keine Kamera, kein Notizbuch oder Ähnliches.

Kahlberg schlug die Tür zu und fluchte. Er hatte es versaut. Er hatte den Mörder seelenruhig die Tat begehen und vor seiner Nasenspitze hinausspazieren lassen. Er schimpfte sich einen gottverdammten, selbstgefälligen Idioten. Zorn flammte in Kahlberg auf mit einer Entschlossenheit, als könne er dadurch die Zeit zurückdrehen und den Fehler ausradieren, aber das Gegenteil war der Fall, die Schuld grub sich in ihn wie ein Brandeisen.

Er schrie ohnmächtig auf, und hätte der Wagen nicht Ted Jones gehört, er hätte ihn mit seinen bloßen Händen in einen Klumpen Schrott verwandelt, nur um irgendetwas in dieser elenden, gleichgültigen Welt zu bewirken.

»He, Sie da!«, rief eine ängstliche Stimme.

Kahlberg drehte sich um. Ein Polizeibeamter kam mit gezogener Dienstwaffe auf ihn zu, so unsicher, als tappte er durch totale Dunkelheit, während ihm sein Kollege mit ebenfalls gezückter Waffe Deckung gab. Hinter ihnen blinkten die Blaulichter ihres Einsatzfahrzeuges.

»Keine falsche Bewegung, legen Sie die Hände hinter den Kopf und drehen Sie sich zum Fahrzeug!«

Kahlbergs Talfahrt

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