Читать книгу Kahlbergs Talfahrt - Joe Wentrup - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL DREI
Die Terrasse ging auf ein enges, stilles Tal hinaus, dessen frisches Wiesengrün sich bis zu dem weit unten rauschenden Bach zog, während dunkle Fichten den gegenüberliegenden Hang bestanden.
Der Blick des Alten verlor sich in der vor ihm liegenden Natur und für Momente kam ihm jegliches Gefühl für Raum und Zeit abhanden, empfand er sich als ewiger, untrennbarer Teil dieser Landschaft. Wäre nicht sein Misstrauen allem Unbekannten gegenüber aufgeflammt wie das orangefarbene Warnlicht eines sich schließenden Fabriktores, er hätte sich wohl dieser Auflösung seines Selbst hingegeben in der Hoffnung, den Punkt ohne Wiederkehr endlich zu überschreiten.
Doch nun spürte er wieder seinen Körper, jenes alte, gebrechliche Gehäuse, das ihn noch immer mit dieser Welt verband und vor allem mit diesem Rollstuhl, auf dessen Lehnen seine Arme wie knorrige, morsche Äste lagen. Er versuchte tief einzuatmen, doch sein Brustkorb hob sich nur matt, obwohl ihm die Anstrengung herkulisch vorkam. Auch stellte sich die Belohnung in Form einer Extradosis Frischluft nicht ein, denn die ihm zusätzlich durch einen dünnen Schlauch unterhalb seiner Nase zuströmende Sauerstoffmenge blieb, unabhängig von seinen Bemühungen, konstant.
Es kam ihm vor, als würde er täglich mehr Teil einer sich langsam in seinen Rest Leben drängenden Maschine, bis der Rollstuhl ein Bett und die Sauerstoffzufuhr eine Beatmungsmaschine geworden wäre.
Er verscheuchte diesen Gedanken und ließ sich erneut treiben, nicht mehr wie ein lebensmüder Argonaut entlang der stürzenden Wasser des Weltenrandes, sondern über die vergleichsweise seichten Lagunen der Erinnerung. Aus ihnen drang ein Kinderlachen hervor und ein Junge, noch im Vorschulalter, tollte die Wiese hinab Richtung Bach.
In den Mundwinkeln des Alten spielte ein Lächeln. Vor dem Jungen rollte ein großer, bunter Plastikball und so sehr die kleine Gestalt sich auch beeilte, sie konnte ihn nicht mehr erreichen mit ihren zarten Beinen, die aus einer kurzen Lederhose ragend durch das hohe Gras stolperten. Der Junge blieb stehen und blickte dem davonrollenden Ball nach, der kleiner und kleiner wurde, bis er schließlich mit einem kaum hörbaren Klatschen im Bach landete und von der Strömung davongetragen wurde. Die kleine Gestalt drehte sich um, blickte zu dem Alten hinauf und machte mit entschuldigender Miene eine hilflose Geste.
Das Lächeln des Alten erstarb.
»Sei nicht so hart mit ihm«, sagte eine sanfte Stimme dicht hinter ihm.
Ihr reiner, weiblicher Geruch stieg ihm in die Nase, er spürte ihren Atem an seiner Wange. Immer nahm sie den Jungen in Schute, nie hielt sie ihn an, für etwas zu kämpfen, sich anzustrengen, ein Ziel zu erreichen. Ihr Geruch aber war betörend schön.
»Lass ihn die Dinge auf seine Weise erfahren, lass ihn seinen eigenen Weg gehen und du wirst sehen, wie er Probleme lösen und wie er glücklich werden wird.«
Die knorrigen Hände des Alten krampften sich zornig in die Lehnen des Rollstuhls. Sie hatte ihn immer in Schute genommen, hatte schon früh gespürt, was für einer er war und auch später, als kein Zweifel mehr bestand, sich immer schützend vor ihn gestellt und nie zugelassen, dass er etwas Disziplin mit auf seinen ach so eigenen Weg bekam.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn aus seinen Erinnerungen.
»Es ist Zeit reinzugehen, die Sonne geht bald unter.«
»Sie geht noch lange nicht unter«, antwortete er trotzig und fügte mit rauer, matter Stimme hinzu: »Nur in diesem engen Tal, da ist sie bald fort.«
Die Hand glitt von seiner Schulter und löste die Feststellbremse des Rollstuhls, ohne dafür seine Einwilligung erhalten zu haben. Er hörte das Knistern von Stoff, spürte die Wärme des sich vorbeugenden Körpers. Wieder stieg ein weiblicher Geruch in seine Nase, diesmal muffig und vermengt mit einer Spur Schweiß. Roh und unparfümiert, war es der einer Frau, die schon lange kein Begehren mehr verspürt noch erfahren hatte.
Der Rollstuhl wurde auf der eigenen Achse gedreht, das Geländer vor den Knien des Alten und das Tal dahinter schwenkten aus seinem Blickfeld und vor ihm erschien die weit geöffnete Terrassentür mit ihren weißen Kassettenfenstern. Die Drehung endete, dann trat die Frau vor ihn. Sie war kräftig, in mittleren Jahren und mit schmalen Hüften. Immer trug sie Weiß, obwohl er schon mehrmals angedeutet hatte, es vorzuziehen, sie in Alltagskleidung um sich zu haben. Aber sie bestand darauf, dass man sähe, weshalb sie sich in seiner Nähe aufhielt. »Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit«, pflegte sie zu sagen.
Sie hielt ihm einen Becher mit Tabletten und ein Glas Wasser hin. »Heute sind es ein paar mehr«, meinte sie, ohne dafür jedoch ein mitfühlendes Lächeln aufzubringen.
Er nahm den Becher ohne Widerspruch, kippte sich den Inhalt wie einen Schnaps hinunter, griff dann nach dem Glas und spülte mit dem Wasser nach. Er spürte die Tabletten wie eine sperrige Prozession miniaturisierter Gürteltiere seine Speiseröhre hinabwandern. Trotzdem wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab, als hätte er soeben einen nahrhaften Bissen zu sich genommen.
Mit unverhohlenem Missfallen musterte er seine Pflegeschwester, die davon gänzlich unbeeindruckt, stur und gleichgültig zurückstarrte. Er zuckte schwach mit den Schultern.
»Schieben Sie mich hinein, Agata, und geben Sie mir die Fernbedienung, mal schauen, was in den Nachrichten kommt.«