Читать книгу Der Nationalsozialismus und die Antike - Johann Chapoutot - Страница 12

Arische Migration und Schwierigkeiten eines Mythos

Оглавление

In den Jahrhunderten nach ihrer Wiederentdeckung zwischen 1450 und 1500 verbanden sich die Germania des Tacitus und die in ihr enthaltenen Ideen mit so mancher Spekulation über die Reinheit, Zentralität und Universalität der Substanz des Deutschen.

Dabei sollte freilich der Mythos des autochthonen Ursprungs in Frage gestellt werden und in Konkurrenz treten zu einem neuen Ursprungsdiskurs, der sich dann den abendländischen Intellektuellen der Aufklärungsepoche aufdrängte: die Rede ist von der These, die Bevölkerungsgruppen Westeuropas seien indischen Ursprungs.

Die Ursprungsmythen der sich herausbildenden europäischen Nationen führen alle, so dachte man, zu einer gemeinsamen Quelle, zur adamitischen Wurzel, wie sie von der Heiligen Schrift beglaubigt wird: Offenbarte Wahrheit ist unbestreitbar. Diese Diskurse stellen allesamt eine Synthese dar aus biblischer Offenbarung, Antike und klassischer Mythologie, sie bilden ein großes, vereinheitlichend zusammenfassendes Fresko der Geschichte der Menschheit seit Adam.

Der adamitische Ursprung der Menschheit wurde für das 18. Jahrhundert zum Problem, denn dieser Ursprungsmythos ist hebräischer Herkunft und entstammt der Heiligen Schrift. Das bedeutete einen Frontalzusammenstoß mit dem Antichristentum und Antiklerikalismus vieler aufgeklärter Geister dieser Zeit. Ein Freigeist wird niemals die Heilige Schrift als nicht hinterfragbare Quelle jeglicher Wahrheit anerkennen. Er wird sich lieber auf die Wissenschaft stützen (Historiographie, Linguistik, Geographie etc.), um Ersatz-Ursprungshypothesen aufzustellen.

Zudem geriet der hebräische Charakter des adamitischen Mythos in Konflikt mit der Judenfeindschaft der Zeit, die in der Mentalität des Abendlands fest verankert war. Diese Judenfeindschaft aus christlichem Erbe war ein ambivalentes und allgemein verbreitetes Gefühl, changierend zwischen Misstrauen, mitunter Verachtung, ja Hass; es wurde selbst von einem Mann wie Abbé Grégoire geteilt, der für die Emanzipation der Juden stritt. Der adamitische Mythos stellte aber eine Verwandtschaft mit den Juden her, eine Verwandtschaft und einen semitischen Ursprung, mit dem viele Geister nichts zu tun haben wollten.

Das 18. Jahrhundert machte sich daher an die Erarbeitung von Ersatzdiskursen. Man suchte die Wiege der Menschheit nicht mehr in Adams Schoß oder dem Palästina der Propheten, sondern in Indien. Insbesondere ein großer Antiklerikaler und in der Wolle gefärbter Judenfeind wie Voltaire trat für die Hypothese eines indischen Ursprungs ein. Daraus sollte im Weiteren der arische Mythos hervorgehen, dessen Geschichte Léon Poliakov geschrieben hat.12

Indien lernte man in dieser Zeit immer besser kennen, dank der Forschungsund Eroberungsexpeditionen der Briten. Reiseberichte sprachen von den Wundern der indischen Kultur. Eine Atmosphäre allgemeiner Anglophilie trug zur Verbreitung dieser Ideen unter den europäischen Intellektuellen bei. Zur gleichen Zeit formulierten Geographen die Hypothese, Indien sei von allen aus dem Ozean aufgetauchten Ländern das älteste. Da Muscheln fast auf der ganzen Erdoberfläche angetroffen werden, bestätigte dies den Mythos von der Sintflut. Die Menschheit konnte nur auf den höchsten Gipfeln des Erdballs überleben – und diese befinden sich nun mal in Indien.

Die Rede vom indischen Ursprung stellte sogar tiefgläubige Christen zufrieden. Immerhin liegt der Garten Eden irgendwo im Osten, und die indischen Schätze erinnerten stark an die des Paradieses, das man seit dem Mittelalter zu lokalisieren und kartographisch zu fixieren suchte. Auch mochte der Berg Ararat, auf den Noah und seine Arche sich flüchteten, sehr wohl der Himalaya sein.

Die in Entstehung begriffene Vergleichende Sprachwissenschaft schien ihrerseits die Indien-Hypothese zu bestätigen. Im Jahr 1788 vertrieb sich William Jones, ein britischer Richter, der sein Amt in Bengalen ausübte, die Zeit mit Vorträgen, in denen er die Verwandtschaft des Sanskrit, der ältesten Sprache Indiens, mit den alten und neuen Sprachen Europas – Latein, Griechisch, Deutsch, Englisch, Französisch – nachwies. Er arbeitete Homologien in ihrer grammatikalischen Struktur sowie lexikalische Verwandtschaftsbeziehungen heraus. Es drängte sich die Folgerung auf, dass das Sanskrit die Urmutter der sich von ihm herleitenden zeitgenössischen Sprachen ist.

Per Induktionsschluss folgerte man daraus, dass sich diese Sprache nur deshalb in ganz Europa verbreiten konnte, weil das indische Urvolk eben dieses Europa eroberte und besiedelte. Die neuzeitliche westliche Bevölkerung stammte also direkt von den indischen Invasoren ab, die das 19. Jahrhundert als Indoeuropäer bezeichnete. Es handelte sich bei ihnen um weiße Stämme, um Kulturträger, die den anderen überlegen waren. Sie kamen eines schönen Tages von den blauen Bergen ihrer ursprünglichen Heimat, um die weite Welt zu durchqueren und zu unterwerfen, und wurden so zu den Schöpfern aller Kultur.

Die Indologie entstand auf diese Weise als Ahnenforschung und setzte sich als solche durch. Im Jahr 1808 veröffentlichte Friedrich Schlegel seinen Essay Über die Sprache und Weisheit der Inder13 und wurde damit zum ersten Indologen. Eben dieser Schlegel war es, der 1819 in einer weiteren seiner Schriften den Begriff Arier einführte. Mit ihm bezeichnete er die wandernden Eroberer, von denen die neueren europäischen Sprachen, Völker und Kulturen abstammen sollten. Schlegel entlehnte diesen Begriff dem Sanskrit-Wort arya, in dem er aufgrund der Lautähnlichkeit, der Paronymie, das deutsche Wort „Ehre“ zu erkennen glaubte.

Mehr als Franzosen und Briten bemächtigten sich die Deutschen dieses Ursprungsmythos und beriefen sich auf ihre arische Herkunft. Das ging so weit, dass man den Begriff „Indogermane(n)“14 und das dazugehörige Adjektiv „indogermanisch“ prägte, um damit nicht nur seine ruhmreichen Vorfahren zu bezeichnen, sondern auch zeitgenössische Bevölkerungsgruppen, die sich von ihnen herleiteten und denen man daher unterstellte, dass sie sich auf den noch unbefleckt gebliebenen germanischen Gebieten ihre aus Urzeiten stammende Reinheit ein Stück weit bewahrt hatten. Die unmittelbare sprachliche Abstammung legte eine nicht weniger offensichtliche und klare rassische Abstammung nahe. So wurde aus der Indomanie in Deutschland eine Germanomanie: Die Inder haben die deutschen Lande befruchtet, indem sie dort das germanische oder indogermanische bzw. arische Volk in die Welt gesetzt haben.

Alle aufgeklärten Geister dieser Zeit schlossen sich diesem neuen Ursprungsmythos an. Hegel verlieh ihm höchste akademische Weihen und hob ihn in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte auf die Ebene der Metaphysik, indem er den Weg des Weltgeistes nachzeichnete, der im Orient das Licht der Welt erblickte, nach Westen wanderte und sich dort in Gestalt der germanischen Freiheit selbst verwirklichte. Auch Jacob Grimm nahm im Vorwort zu seiner Geschichte der deutschen Sprache (1848) darauf Bezug.

Allerdings befand sich Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf einer Identitätssuche, die umso intensiver war, als sie sich mit der napoleonischen Besatzung auseinandersetzen musste. Der arische Mythos erlaubte es dem Land, sich dadurch gegenüber allen anderen Nationen ein Alleinstellungsmerkmal zuzulegen, dass es sich frühzeitig zur Wahlheimat der arischen Eroberer erklärte.

Darüber hinaus verlegten die Deutschen, die zunächst in Indien ihre arische Urheimat gefunden hatten, die Wiege der Menschheit allmählich nach Westen, um sie schließlich auf dem Gebiet des zeitgenössischen Deutschlands und Skandinaviens aufzustellen.

Der nordische Ursprung aller Kultur wurde zum Gemeingut der nationalistischen und rassistischen Bewegungen, die sich im Deutschland und Österreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts breitmachten. Für sie galt: die einzige schöpferische Rasse ist die indogermanische oder nordische, alle Kultur kommt vom kriegerischen und schöpferischen Norden, der die Hochkulturen dieser Welt hervorgebracht hat.

Die Propagandaliteratur dieser rassistischen Bewegungen,15 die Hitler in den zahlreichen Mußestunden seiner Wiener Zeit16 verschlungen hat, wurde zum Bindeglied zwischen dem arischen Mythos des 19. Jahrhunderts und der NS-Bewegung. Die Lektüre der ariosophischen Schriften eines Guido von List und Jörg von Liebenfels17 hat ihren unmittelbaren Niederschlag in der großen Ideologie- und Programm-Rede gefunden, die Hitler am 13. August in München gehalten hat. Sie trug den vielversprechenden Titel „Warum sind wir Antisemiten?“. Hitler folgt in ihr der arischen und der jüdischen Rasse bis zu ihren Ursprüngen und macht die These vom nordischen Ursprung zum rassentheoretischen Trivial- und Fundamentaldogma der NSDAP:

Auf dem nördlichsten Teil dieser Welt, in jenen unerhörten Eiswüsten […] (wirkten) die unerhörte Not und die furchtbaren Entbehrungen als Mittel zur Rassenreinzucht. Was schwächlich und kränklich war, konnte diese fürchterliche Periode nicht überstehen […] und über blieb ein Geschlecht von Riesen an Kraft und Gesundheit […] Diese Rassen nun, die wir als Arier bezeichnen, waren in Wirklichkeit die Erwecker der späteren großen Kulturen, die wir in der Geschichte heute noch verfolgen können. Wir wissen, daß Ägypten durch arische Einwanderer auf seine Kulturhöhe gebracht wurde, ebenso Persien, Griechenland; die Einwanderer waren blonde, blauäugige Arier und wir wissen, daß außer diesen Staaten überhaupt keine Kulturstaaten auf dieser Erde gegründet wurden.“18

Der Nationalsozialismus und die Antike

Подняться наверх