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Unsere Vorfahren, die Arier:
Der Ursprungsdiskurs in der Schule

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Der Mythos vom nordischen Ursprung hingegen wurde von den Historikern wie von den Pädagogen aufgegriffen. Er wurde im „Dritten Reich“ zur offiziellen Version der Geschichte der Herkunft des eigenen Volkes, wie drei Richtlinien aus den Jahren 1933, 1935 und 1938 belegen.

Deren Initiator war Reichsinnenminister Wilhelm Frick, der am 9. Mai 1933 eine Rede über den schulischen Geschichtsunterricht hielt.70 Auf ihr fußen die „Richtlinien für die Geschichtslehrbücher“71, die er an die Länder richtete und die am 20. Juli 1933 im Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen erschienen. Dieser Text erläutert zuerst die allgemeinen Prinzipien, die künftig bei der Abfassung von schulischen Lehrwerken und bei der Gestaltung des Geschichtsunterrichts zu beachten seien. Zuvörderst sei darauf zu achten, dass „die Bedeutung der Rasse gebührend berücksichtigt“ wird.72 Außerdem sei der Vorgeschichte der ihr zustehende Vorrang einzuräumen, weil sie „nicht nur den Ausgangspunkt für die geschichtliche Entwicklung unseres Erdteils in die mitteleuropäische Urheimat unseres Volkes verlegt, sondern auch als ‚ervorragend nationale Wissenschaft schlechthin‘ (Kossinna)73, die wie keine zweite dazu geeignet ist, der herkömmlichen Unterschätzung der Kulturhöhe unserer germanischen Vorfahren entgegenzuwirken“74.

Der restliche Text ist der neuen Lesart der verschiedenen Epochen der Geschichte gewidmet. Trotz des vorangestellten Manifestes nimmt die Vorgeschichte gerade einmal ein Siebtel des Textes ein, während ein Drittel der Antike gewidmet wird.

„Die Lehrbücher haben mit einer Darstellung der Urgeschichte Mitteleuropas (Eiszeit) zu beginnen“, denn schon hier lasse sich zeigen, „daß Kultur eine Schöpfung der Rasse ist“. Des Weiteren sei darzulegen: „Die Geschichte Europas ist das Werk nordrassischer Völker.“75 Wenn deren hohes Kulturniveau auch nicht unbedingt an ihrer Hinterlassenschaft an Bronze- und Stein-Werkzeugen zu erkennen sei, so werde dieses jedoch belegt durch „die hochentwickelte nordische (indogermanische) Grundsprache, die die Sprachen der übrigen Rassen Europas bis auf wenige Reste verdrängt hat“76.

Lehrwerke und Unterricht sollten sich dann auf den Weg nach Kleinasien und Nordafrika machen, zusammen mit den ersten nordischen Wanderungen, die bereits im 5. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung haben stattfinden müssen, wie die nordischen Schädel in den ältesten Gräbern Ägyptens bewiesen sowie die schon in früher Zeit an den nordafrikanischen Küsten verbürgte Anwesenheit einer blonden Bevölkerung. Frick zitiert hierbei nach Gustaf Kossinna nun auch Georges Vacher de Lapouge (L’aryen, son rôle social, 1885).

Es folgt dann die ganze Litanei der Völker des Altertums, deren nordische Herkunft verbürgt sei: die Sumerer, deren rassische Herkunft nicht ganz aufgeklärt sein möge, aber auf eine „ehemalige nordische Erobererschicht“ verweise; nur so ließen sich nämlich die Ähnlichkeiten der sumerischen mit den indogermanischen Sprachen erklären. Des Weiteren werden erwähnt: Inder, Meder, Perser und Hethiter. „Der Schüler muß die Schicksale dieser Völker als die seiner eigenen Blutsverwandten erleben“,77 denn ihnen sei die Schaffung von Hochkulturen in Indien und Persien zu verdanken, bevor sie „schließlich unter der Übermacht fremdrassigen Blutes“ untergingen.

Es sind aber v.a. die Griechen und Römer, die den Löwenanteil bei dem neugefassten Unterricht abbekommen. Ihr rassischer Ursprung darf im Geist des Lehrers wie des Schülers keinem Zweifel unterliegen, weshalb sowohl die Geschichte der Griechen wie die der nordischen Völker Italiens vom mitteleuropäischen Raum auszugehen habe.

Der Unterrichtende muss erneut „betonen, daß es sich [bei den Griechen] um unsere nächsten rassischen Brüder handelt. Daher auch unser inniges Verhältnis zur griechischen Kunst“78. Mit dieser impliziten Referenz in Richtung Winckelmann, Hölderlin, Burckhardt und Nietzsche erweist der Richtlinienschreiber den Genannten zugleich ehrerbietig seine Reverenz. „Die nordischen Griechen bildeten als Eroberer die Herrenschicht des Landes“, heißt es des Weiteren.

Die Römer, die ihrerseits aus dem Norden kamen, seien so darzustellen, dass von den Schülern „auch hier die rassige [sic] Verwandtschaft gefühlt wird“79. Es überrascht nicht allzu sehr, dass die Lehrwerke und der Unterricht in alter Geschichte künftig auf Grundlage der Schriften Hans Günthers entworfen werden müssen. Günther wird namentlich zitiert und seine Monographie über die Griechen und Römer den Lehrern zur Lektüre empfohlen.

Eineinhalb Jahre später, am 15. Januar 1935, bestätigte ein Erlass des Reichserziehungsministers Bernhard Rust die preußischen Richtlinien und definierte die Aufgabe des Lehrers folgendermaßen:

Die Weltgeschichte ist als Geschichte rassisch bestimmter Volkstümer darzustellen. An die Stelle der Lehre ‚Ex oriente lux‘ tritt die Erkenntnis, daß mindestens alle abendländischen Kulturen das Werk vorwiegend nordisch bestimmter Völker sind, die in Vorderasien, Griechenland, Rom und den übrigen europäischen Ländern – z.T. im Kampf gegen andere Rassen – sich durchgesetzt haben.“80

Diese beiden Texte von 1933 und 1935 wurden im Jahr 1938 von den neuen Lehrplänen für Gymnasien nachhaltig bekräftigt. Diese stellen gleich eingangs fest: „Das deutsche Volk in seiner Wesensart und Größe, in seinem schicksalhaften Ringen um innere und äußere Selbstbehauptung ist Gegenstand des Geschichtsunterrichts.“81 Da der „Rassenbegriff“82 im Mittelpunkt des Unterrichts steht, geht es um eine Geschichte der indogermanischen Rasse: „Die Gewißheit eines großen nationalen Seins, das Vergangenheit und Zukunft umgreift“83, beruht auf der „Einsicht in die Stetigkeit der Erbanlagen“84. Daraus folgt, dass „die Vergangenheit […] durch das Bluterbe mit der Gegenwart unmittelbar verbunden“85 ist.

Diese neue Konzeption der Alten Geschichte beschränkte sich nicht nur auf fromme Wünsche und Richtlinienvorgaben durch ministerielle Direktiven oder die Erarbeitung neuer Lehrpläne. Sie wurde vielmehr tatsächlich heruntergebrochen auf die Geschichtslehrwerke, die ab 1933 abgefasst wurden; sie war auch Gegenstand von Fortbildungsmaßnahmen für Grund- und Sekundarschullehrer. Als Beispiel mag der Lehrgang gelten, der vom 14. bis 21. September vom Reichserziehungsminister mit 52 Lehrern der Primär- und Sekundarstufe durchgeführt wurde. Nach zwei vorbereitenden Sitzungen, die den Begriffen Rasse und Raum in der Geschichte gewidmet waren, wurden in den folgenden Sitzungen die einzelnen Perioden der „deutschen Geschichte“ durchgenommen:86 auf die „deutsche Vorzeit“ folgt ein Abschnitt „Orient und Antike im neuen Geschichtsbild“, bevor dann „das deutsche Mittelalter“ und die „Neuere Geschichte“ bis hin zur „Zeit des nationalsozialistischen Aufbruchs“ an die Reihe kommen. Der alte Orient und die griechisch-römische Antike wurden so der germanisch-nordischen Geschichte einverleibt, letztlich also der deutschen. Sie sind regelrechter Teil von ihr geworden. Diese Botschaft beschränkte sich nicht auf den schulischen Unterricht.

Wir sind auf zahlreiche Beispiele einer Kartographie der Ursprünge der nordischen Rasse gestoßen, die zum einen in vier Werken mit dem Titel Deutsche Geschichte enthalten sind. Bei diesen handelt es sich um zwischen 1937 und 1940 veröffentlichte Popularisierungsliteratur für die breite Masse. Zum anderen stammen sie aus sechs Lehrwerken, die in den Sekundarschulen des Reichs verwendet wurden, sowie aus einem Heft für die ideologische Schulung der Ordnungspolizei, wobei diese Schulung von Offizieren des Hauptamts SS durchgeführt wurde, das diese Faszikel auch herausgab. Weitere derartige Karten fanden wir im Informations- und Verbindungsblatt der Polizeitruppen der SS namens Die Deutsche Polizei. Dieses Material zeigt, wie die arische Familie ihre nordische Wiege verlässt. Der Norden, dieser Ausgangspunkt mächtiger Wanderungsströme, erscheint auch hier als der Urgrund aller Hochkulturen. Die Pfeile, mit deren Hilfe die Migrationsströme dargestellt werden, verzeichnen in der Regel den Namen des betreffenden Volkes und die Hochkultur, die aus dem nordischen Samen und seiner Wanderung hervorgehen sollte: Aus dem Norden kamen Griechen, Römer, Perser und Inder. Falls die Pfeile sprachlos bleiben, sorgen jeweils Titel oder Legende der Karte für explizite Aussagen, etwa in der erwähnten SS-Broschüre: „Nordisches Blut hat die Kulturen Griechenlands und das römische Weltreich gestaltet.“87 Didaktischer geht es nicht mehr. Die Texte der besagten Lehrwerke, Geschichtsbücher, Schulungshefte und Artikel sind oft lediglich getreue Übersetzungen der Karten, fast schon deren Paraphrase. Das Dogma vom nordischen Ursprung der antiken Hochkulturen wird systematisch in genau der gleichen Form wiederholt, ebenso wie die Karten auf frappierende Weise nach dem gleichen Strickmuster gestaltet sind.

Auch außerhalb der Schule erfreute sich dieser Ursprungsdiskurs beträcht licher Förderung und Verbreitung: Alles ist Pädagogik und die Kanäle zur Übertragung dieser Botschaft waren dementsprechend vielfacher Art. Solche Karten stellen sich rasch als bloße Stilübung heraus, als Pflichtübung für jede Art von Text zur Rassengeschichte: Schulbücher natürlich, aber auch allgemeine Werke zur deutschen Geschichte und auch alle Darstellungen, die Gegenwart und Zukunft in der Vergangenheit des Blutes verwurzeln. Die Vielfalt der Vermittlungskanäle dieser Art von Diskurs verweist auf dessen Bestreben, in möglichst vielen Teilen der Öffentlichkeit präsent zu sein. Die nordistische Neuschreibung des großen indogermanischen Rassenepos beschränkte sich keineswegs auf ein gelehrtes Publikum, nicht auf Schulen und Repetitorien. Sie zielte auf das ganze deutsche Volk ab, auf den heimischen Herd und den guten Familienvater, auf Schüler und Studierende sowie auf Polizei und SS, den bewaffneten welt lichen Arm des Regimes, dessen Wach- und Kampftätigkeit einer Motivation durch eine Überzeugung bedurfte, durch einen Glauben aus uralten Zeiten.

Der Nationalsozialismus und die Antike

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