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Königin Europa

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Diese Neuschreibung der Alten Geschichte führte so zur Wiederauferstehung nicht nur der pastellfarbenen Traum-Antike der Weimarer Klassik, sondern auch zu der einer griechischen Göttin, die als territoriale Metapher deutlicher politische Akzente setzte. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 feierte die NS-Propaganda den Begriff Europa, das einige nordische Kontinentalreich, das in seinem Kampf gegen das bolschewistische und semitische Asien zusammensteht und dessen Einheit und Identität in den gemeinsamen indogermanischen Ursprüngen wurzelt.

Ein SS-Schulungsheft behauptete, aufgrund dieser nordischen Herkunft sei die Geschichte der Deutschen „wesentlich abendländische Geschichte und umgekehrt die Geschichte Europas eine solche seines Herzvolkes. Das Reich ist so alt wie das deutsche Volk selbst und die deutsche Geschichte von Beginn an nicht die einer einzelnen Nation, sondern die des Kontinents.“110 Aus der Rasse-Identität folgt strikte Gleichwertigkeit, der Begriff Europa bezieht seine Dynamik aus einem Zukunftsprojekt, der Errichtung einer neuen Ordnung und der Eroberung der Landstriche des Ostens vor dem Hintergrund der Geschichte und dem Abgrund der Biologie. In eben diesem Text findet man eine mit grobem Strich entworfene und in den allgemeineren und umfassenden Zusammenhang einer Geschichte der nordischen Rasse gestellte Kartographie Europas und seines Umfelds:

Die Entstehung Europas, das als Raumbegriff unserem Reichsdenken Ziel und Grenze zugleich ist, geht weit in die Anfänge des Indogermanentums zurück. Das Schicksal des Kontinents als der Urheimat der nordischen Rasse ist eng verknüpft mit der Entwicklung der aus dieser hervorgegangenen indogermanischen Völkergruppe. Allein die Inder und Iranier wandern ab, verlieren sich in der Weite des asiatischen Raums und büßen ihre Eigenart ein. Hellenen und Römer aber rücken, während Kelten und Germanen für längere Zeit noch in den Ursitzen verharren, um die Wende zum 2. Jahrtausend an den Südost- bzw. Südrand des Kontinents, wo sie für Jahrhunderte Bollwerke Europas gegen das Rassengemisch Vorderasiens bilden.“111

Ein weiteres Schulungsheft für die weltanschauliche Ausbildung der SS-Truppen aus dem selben Jahr übernahm implizit die gleiche Argumentation. Es liefert einen klaren, präzisen und durch Beispiele illustrierten Abriss des nationalsozialistischen Rassismus, seines Ursprungs, der weltanschaulichen Wende und der vom Nationalsozialismus bestimmten Geschichte. Sein ex septentrione lux formuliert er bezeichnenderweise so: „Nicht: ‚Aus dem Osten kommt das Licht‘, wie von der Wissenschaft früher behauptet wurde, sondern: ‚Aus dem Norden kommt die Kraft!‘“112 Bei dieser Schöpferkraft, die Kulturen errichtet, handelt es sich um das Blut, das im Zuge der regelmäßig wiederkehrenden Wanderungsbewegungen die bedrohte nordische Kultur schuf und regenerierte, und deren würdige und reine Fortführer die SS-Männer der Gegenwart sind. Dieser Gedanke wird auch in einem Artikel der Zeitung Die Deutsche Polizei entfaltet. Hier wird in schöner Beständigkeit und auf Karten gestützt die rassengeschichtliche Basis-Doktrin des Nationalsozialismus wiederholt. Die Chronologie der drei großen nordischen Wanderungsbewegungen wird vorgestellt. Diese haben um die Jahre 5000, 500 und 300 vor unserer Zeitrechnung vom deutschen Kernland aus stattgefunden und „seitdem pulst in allen europäischen Nationen germanisches Blut“113. Deutschland ist ja „nicht nur die geographische Mitte dieser europäischen Welt, es war von jeher Blutspender, Kraftquell und Brennpunkt des Geschehens“114.

Die Einheit Europas „beruht bis heute auf einer mehr oder minder starken rassischen und blutmäßigen Verwandtschaft“115. Das bedeutet: „Die nordische Rasse gestaltet seit Jahrtausenden Europa und die Welt.“116 Die Träger dieses nordischen Bluts „legten den ersten Grundstein ‚Europas‘“117.

Ein drittes weltanschauliches Schulungsheft verlieh diesem Gedanken präzisere Konturen. Die betreffende Broschüre enthält einen didaktischen Abriss der Umorganisation Europas aufgrund des Kampfes der Nationalsozialisten und vertieft sich in die graue Vorzeit der Wanderungsbewegungen und der indoeuropäischen Eroberungen, deren Wellen weiter oben kurz dargestellt sind. Dieses Heft aus dem Jahr 1942 trägt den Titel Deutschland ordnet Europa neu!. Es untersucht die möglichen Definitionen des Kontinents, interessiert sich dabei allerdings wenig für „die Streitfrage der Erdkundler, wo eigentlich die Grenzen des Kontinents Europa liegen“118, denn deren orographische und tektonische Kriterien sind nicht in der Lage, das Wesen Europas zu erfassen. Dieses gründet vielmehr in der Rasse: „Wenn wir politisch vom europäischen Kontinent sprechen, dann meinen wir nicht einen erdkundlich begrenzten Kontinent, sondern den Lebensraum einer bestimmten Völkerfamilie, die biologisch, wenn auch nicht gleiche, aber doch artverwandte Wurzeln hat.“119

Europas erste Einheit stiftende Macht war demnach, militärisch und juristisch betrachtet, das nordische Römische Reich. Die Römer, ursprünglich ein „indogermanischer Bauernstamm“, wie das Heft bekräfiigt, waren „gute Rechtsschöpfer“ und „gute Soldaten“. Diese beiden Eigenschaften gestatteten es ihnen, ein mustergültiges Reich zu gründen. Stark, friedlich und zentralisiert war es, eine Rechtskonstruktion, die zugleich Ausdruck des indogermanischen Willens war, den Kosmos zu gestalten und ihm eine feste Ordnung zu geben: „So wie das alte arische Indien der Welt die bisher tiefgründigste Mystik, das altarische Persien die schönste Mythologie und das alte Griechenland der Welt die erhabenste Kunst gschenkt haben, so hat Rom der Menschheit die durchdachteste Rechtsordnung gegeben.“120 Als erste Ordnungsmacht des europäischen Raums habe Rom den Staffelstab dann einem anderen Imperium übergeben, einem neuen Reich: Deutschland.

Das Deutsche Reich ist diesen Darstellungen zufolge im weiteren Verlauf die Macht geblieben, die Europa eine organisatorische Ordnung gab. Das Reich habe im Mittelalter mit Hilfe einer „Kaiserpolitik gegen das Papsttum“121 die Kirche mit ihrer universalistischen Botschaft122 bekämpft. Diese Politik sei das Rückgrat des mittelalterlichen Reichs gegenüber einer universalistischen christlichen Botschaft gewesen, die lediglich eine bastardisierte Version des römischen Rechts gewesen sei, geprägt von einem sträflichen Gleichheitsdenken, das „Rassenbastarde“123 wie Caracalla eingeführt hätten. So kommt das Büchlein zwangsläufig zu diesem Schluss: „Auch weltanschaulich begreifen wir somit unseren Kampf um die Neuordnung Europas als die Beschließung einer mehr als zweitausendjährigen Epoche der Weltgeschichte und als den Anbruch einer neuen Zeit.“124 Insofern bleibt alles beim Alten: Seit grauer Vorzeit erstreckt Europa sich so weit die der Eroberergeist, die militärische Tugend und der Mut der Indogermanen es haben fortschreiten lassen, das heißt bis weit in den Fernen Osten hinein: „Rein räumlich hängt Europa unmittelbar mit den gewaltigen Ländermassen Asiens zusammen. Früher haben die Menschen der europäischen Rassen tief in den Osten hineingegriffen. Indien und der Iran waren die Endpunkte ihrer Wanderzüge.“125

Das Vordringen nach Osten, die Eroberung weiter slawischer Gebiete, das war also bereits eine Problematik des Altertums: Seit der Antike bilden die weiten Flächen des slawischen und asiatischen Ostens den Horizont Europas.126

Der Nationalsozialismus und die Antike

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