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Kapitel 1

ES WAR EINMAL KERNEI

Es war einmal Kernei. So nannten die etwa fünfeinhalbtausend deutschsprachigen Bewohner ihr Heimatdorf; die Serben nannten es Krnjaja und die Ungarn Kereny.

Ich war ein Kerneier. Nicht die Häuser, nicht die Felder oder Weingärten, die Menschen machen ein Dorf und seine Identität aus. Als die Kerneier 1945 vertrieben wurden, hörte Kernei zu existieren auf: Kernei ohne Kerneier ist nicht mehr Kernei. Auch die Ortsnamen Krnjaja und Kereny wurden abgeschafft. Für die alten Häuser mit neuen Bewohnern aus nahezu ganz Jugoslawien und die Felder und Weingärten mit neuem Eigentümer wurde auch ein neuer Name geschaffen: Kljajicevo.

Wer als Kerneier geboren wurde, bleibt es ein Leben lang: Einmal Kerneier, immer Kerneier. Als die Kerneier 1945 vertrieben wurden und hauptsächlich in Deutschland, Österreich und den USA eine neue Heimat gefunden haben, haben sie ihr altes Kernei aus Kinder- und Jugendtagen, das in der Realität längst zur Geschichte geworden war, vielleicht auch etwas verklärt, weiter in ihren Herzen getragen. Auch ich habe schon vor mehreren Jahrzehnten in Österreich eine neue Heimat gefunden und spreche seit mehreren Jahrzehnten akzentfrei „österreichisch“. Dennoch werde ich das alte Kernei meiner Kinder- und Jugendtage bis an mein Lebensende nicht vergessen und in meinem Herzen tragen.

Ich wurde als Kerneier in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Königreich Jugoslawien) hineingeboren. Zu diesem Zeitpunkt waren Österreich-Ungarn und der Kaiser von Österreich und König von Ungarn bereits 11 Jahre Geschichte. Vorher – im Vielvölkerstaat „Österreich-Ungarn“ – muss es wohl selbstverständlicher gewesen sein, dass Deutschsprachige, Serben und Ungarn mit- und nebeneinander in einem gemeinsamen Staat lebten. Ich wurde aber damals als Kerneier in ein etwa 90 Prozent deutschsprachiges Dorf und in ein „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (Königreich Jugoslawien) hineingeboren; als „Schwob“ (Schwabe) mit deutscher Muttersprache und ungarisch klingendem Namen im „Königreich Jugoslawien“. Für die Orientierung war das eine nicht leichte Ausgangslage. Unser Leuchtturm, an dem wir uns festhielten, war die katholische Kirche und die Ortsgemeinschaft – unser Kernei.

Als ich als Jugendlicher mit Pferd und Wagen einmal in ein kleines Dorf namens „Guposin“ (Guposina) (ebenfalls in der Batschka gelegen) fuhr, sah ich einen – wahrscheinlich geistig behinderten – Mann (oder Narren), der an einem Telefonmasten stand und so tat, als ob er telefonieren würde und eine (Telefon-)Verbindung suchte: „Hallo! Wien – Berlin – Guposin“; dies wiederholte er oftmals. Natürlich lachten die umstehenden Leute ebenso wie ich. Später machte mich dies nachdenklich. „Narren und Kinder sagen die Wahrheit“ hieß es bei uns oft. Es war offenbar die Wahrheit, in die ich hineingeboren worden war: Die Residenzstadt Wien – der Vielvölkerstaat „Österreich-Ungarn“ – als Orientierung war Geschichte und nun begannen sich viele falsch zu orientieren: Richtung Berlin. Ohne zu ahnen, dass dies Unheil – auch das Ende von Kernei – mit sich bringen würde.

Als ich als Kerneier geboren wurde, hatte Kernei etwa 160 Jahre bestanden. Wir lernten in der Schule, dass im 18. Jahrhundert Prinz Eugen die Türken zurückgedrängt hatte und Maria Theresia unsere Vorfahren ansiedelte. „Der ersten Generation Tod, der zweiten Generation Not, der dritten Generation Brot“; so wurde uns unsere Siedlungsgeschichte eingetrichtert. Harte Arbeit und karge Not war den ersten Generationen der Ansiedler Schicksal gewesen. Dies bezeugte ein jedem Kerneier bekannter mündlich überlieferter Reim (mit ländlich-derbem Schlusssatz): „Ich werd‘ dir was verzählen, von den langen Ehlen, von den kurzen Wochen, haben wir nichts zu kochen, Vat’r schlacht‘ a Seichl, mir ein Werscht‘l, dir ein Werscht’l, mir ein Schunken, dir ein Schunken und der Sepp kann nur … austunken.“

Als ich geboren wurde, war das alte Kernei ein blühendes Dorf; zumindest in meiner verklärten Erinnerung. Wir waren Bauersleute und stolze Kerneier. Von den Bewohnern der Nachbardörfer gab es auch „Schmährufe“ über uns, wie etwa: „Kerneier, Nudelseiher, Quätschedrucker Bähhh!“ Wenn ich das hörte, hatte ich immer die feste Überzeugung, dass die, die das sagten, in Wirklichkeit nur neidisch waren, weil sie keine Kerneier waren.

Wir Kerneier waren einfache Bauersleute, die sich selbst versorgten. Geld hatten wir praktisch keines; wir waren naturverbunden und – auch weil wir nichts anderes kannten – glücklich mit dem, was wir hatten. Und wir waren streng katholisch.

Die Feste des Jahreskreises waren durch Ernte-, Kirchen- und Kirchweihfeste vorgegeben: Wenn ein selbst gefüttertes Schwein geschlachtet wurde, war Schlachtfest angesagt; wir sagten „Sauschlachten“ dazu. Man freute sich, dass die Fleischversorgung für die nächsten Monate gesichert war.

Für gestandene Mannsbilder war es nicht einfach, eine 150 bis 160 kg schwere Sau einzufangen, festzuhalten und mit dem großen Messer durch einen Herzstich abzuschlachten. Dabei wurde das Blut in einem Gefäß aufgefangen, gerührt, damit das Blut nicht ins Stocken gerät; dieses Blut wurde dann für die Blutwurst verwendet. Ein Schwein konnte nicht von einem Mann allein geschlachtet werden, es waren mindestens 2 Männer notwendig. Uns Kindern sagte man, ihr könntet helfen und das „Schwanzerl halten“; dies war aber nur spaßhalber. Tatsächlich war kein Kind in die Nähe, wenn das Schwein geschlachtet wurde.

Die geschlachtete Sau wurde in der Mitte geöffnet, es wurden die Gedärme herausgenommen und gewaschen; die Gedärme waren für die Wursterzeugung – Blutwurst und „Brotwerscht“ – notwendig. Dabei wurde der Dickdarm für die Blutwurst und der Dünndarm für die „Brotwerscht“ verwendet. Der gereinigte Magen fand für Presswurst Verwendung; diesen nannten wir „Schwartamaga“; dabei wurden die „Schwartln“ (Haut des Schweins) und etwas faschiertes Bratwurstfleisch verwendet. Das Bauchflausch wurde teilweise für Speck verwendet; der Rest kam in die „Brotwerscht“.

Nach dem Zerlegen des Schweines und Sortieren (Fleisch zu Fleisch und Speck zu Speck) wurde der Speck erhitzt und flüssig gemacht; dies nannten wir „Schmalzauslassen“. Der Speck wurde eingesurt und später geselcht; gleiches gilt für das „Schunkafleisch“. Das ausgelassene Schmalz wurde in einem Gefäß gelagert; damals wurde ausschließlich noch mit Schmalz gekocht.

Auch haben meine Eltern damals Sulz gemacht: Die Ohren und die Füße wurden gereinigt, geteilt und gekocht und wurde daraus in Tellern Sulz abgefüllt, das durch Abkühlen dann „sulzig“ geworden ist.

So wurden fast alle Teile des Schweines verwendet.

Das „Sauschlachten“ wurde als Familienfest gefeiert. Es gab „Metzlsupp“. Am Abend nach dem Schlachten gab es eine klare Fleischsuppe, dann Suppenfleisch mit Kren, dann Gebratenes mit Ripperln; natürlich auch dicke Wurst (Blutwurst) und dünne Würste (die „Brotwerscht“). Aus dem Schmalz wurde „Schmalzkiechla“ herausgebacken; heute sagt man dazu „Krapfen“. Zu den „Schmalzkiechla“ gab es „Quetscha-Leckwar“, also auf „Hochdeutsch“ Zwetschgenmarmelade.

Beim Sauschlachten – und auch sonst bei jedem Fest – wurde selbst gekelterter Wein getrunken, der in der angrenzenden Hügelkette Telecka gewachsen und gereift war.

Eine besondere Delikatesse war der selbst geräucherte Rohschinken („Schunkafleisch“) und die selbst hergestellten und ebenfalls selbst geräucherten oder geselchten Bratwürste („Brotwerscht“).

Neben dem Schlachtfest wurde auch das Traubenlesen wie ein Volksfest gefeiert: Wir hatten – so wie viele Kerneier – in der Telecka (eine angrenzende Hügelkette) Weingärten; auch das Traubenlesen wurde als großes Familienfest gefeiert.

In Kernei wurde die „Kerweih“ (Kirchweihfest) groß gefeiert: Die erste „Kerweih“ war am 2. Juli zu Maria Heimsuchung; die „Melonenkerweih“ war zu Rochus am 16. August; zu „Wendlini“ am 20. Oktober war die „Keschta-Kerweih“; wer es nicht weiß: „Keschta“ sind die Edelkastanien oder Maroni.

Zu jeder „Kerweih“ gab es eine „Englisch-Reiterei“; heute würde man dazu wohl „Ringelspiel“ sagen. Auch die „Parzelgauntsch“ war sehr beliebt; die im Kreis fliegenden Sitze waren auf Ketten befestigt.

Da auch meine Eltern Selbstversorger waren und kaum Geld hatten, bekamen wir als Kinder und Jugendliche auch kein Taschengeld. Um an der „Kerweih“ mit der „Englisch-Reiterei“ fahren zu können, mussten wir 5 Runden lang anschieben, um dann eine Runde gratis fahren zu können. Allerdings habe ich als Messdiener (Ministrant) bei Begräbnissen, Hochzeiten und beim Ratschen zu Ostern etwas Geld verdient, das ich für die „Kerweih“ jeweils zur Seite gelegt hatte.

Zu Fasching gab es für uns Kinder nachmittags Unterhaltungen; diese nannte man „Dudasch“: Dabei konnten wir die ersten „Gehversuche“ mit Tanzschritten machen. Einer spielte mit einer Ziehharmonika; es wurde gehüpft oder wenn man will auch schon getanzt.

Für die ledigen Jugendlichen gab es in der Faschingszeit jeden Sonntagnachmittag Tanz in einem Wirtshaus. Am Faschingsdienstag war für Ledige bereits um 22 : 00 Uhr Schluss. Die verheirateten Paare durften – an anderen Veranstaltungsorten – bis Mitternacht tanzen. Anschließend war strengste Fastenzeit bis zum Karsamstag/​Ostersonntag, jedenfalls bis zur Auferstehung angesagt.

Für jeden Ministranten war ein Höhepunkt des Jahres die Ratschentage. Vom Gründonnerstag bis Karsamstag haben wir mit unseren Handratschen die Glocken, die ja bekanntlich in dieser Zeit nach Rom geflogen waren, ersetzt. Wir gingen in die einzelnen Häuser, konnten aber dabei kein Geld einsammeln; vielmehr haben wir viele Eier bekommen. Der „Karl-Vetter“ hat die vielen Eier dann für uns verkauft und das erlöste Geld an uns Ministranten verteilt.

Das Ratschen war am Karsamstag zu Ende, an dem der Herrgott auferstanden war und die Glocken wieder aus Rom zurückgekehrt waren. Nachdem die Glocken das erste Mal läuteten, haben wir – die Kinder – die Obstbäume kräftig geschüttelt; nach dem Brauch sollten die Obstbäume durch das Schütteln in diesem Jahr dann viele Früchte tragen.

Zu Weihnachten ist bei uns in Kernei das „Christkindl“ gekommen; einen Weihnachtsmann oder einen „Santa Claus“ kannten wir damals nicht. Das „Christkindl“ war meist ein Elternteil, das sich hinter einem weißen Leintuch versteckte. Für schlimme Kinder gab es den einen oder anderen Hieb mit der Rute. Das „Christkindl“ brachte Nüsse, Äpfel und Dörrzwetschken für die Kinder; Geschenke, wie wir dies in der heutigen Zeit kennen, gab es nicht.

Der Neujahrswunsch der Kerneier, der sich treffsicher auf das Wesentliche im Leben besinnt, klingt aus heutiger Sicht fast wie eine beschwörende Vorahnung. Eltern und Verwandte gratulierten wir mit folgendem Neujahrswunsch: „Ich wünsche Euch ein glückliches neues Jahr, ein langes Leben, Gesundheit, Friede und Einigkeit und nach dem Tod die ewige Glückseligkeit.“ Eineinhalb Jahrhunderte hatten wir Kerneier einander zum neuen Jahr Friede und Einigkeit gewünscht; offenbar eine Vorahnung, dass Krieg und Zwietracht das Ende von Kernei bringen würden.

Nach dem letzten Karfreitag

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