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Erster Teil Die Muchal-Berge

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Obwohl die Mittagsstunde schon längst vorbei war, stieß die Sonne ihre Strahlen immer noch wie glühende Schwerter hernieder. Die Luft flirrte, als würde der Sand kochen.

Am Rande der Oase, wo ein dichter Grasteppich in die offene Wüste führte, hatte sich Sharif mit einem guten Dutzend Ziegen niedergelassen. Ständig meckerte eine andere. Aber die Tiere schienen glücklich und fraßen gierig die saftigen Grashalme ab. Vater hatte ihn hier her geschickt, weil sonst keiner der Oasenbewohner diesen Platz zum Weiden nutzte.

Vielleicht lag es daran, dass der Ort zu gefährlich war? Wo sich Raubtiere aus den Bergen heranschleichen konnten und ein junges oder krankes Zicklein reißen würden? Sharif hatte seinem Ziehvater versprechen müssen, gut auf die Ziegen aufzupassen und jeden Feind mit seiner Steinschleuder zu verjagen. Das beruhigte den alten hageren Mann ein wenig, denn er wusste, dass niemand so gut traf wie sein Junge.

Sharif saß im Schatten seiner Araberstute. Hin und wieder hob sie ihren zierlichen Kopf, das Maul voller Grünzeug, gleichmäßig darauf kauend. Ihr weißes Fell, das nur von kleinen grauen Tupfen unterbrochen wurde, als hätte man sie mit einer Handvoll Dreck beworfen, schimmerte wie Seide im Licht. Mit halbgeschlossenen Augen döste sie im Fressrausch vor sich hin. Selbst der heiße Wüstenwind, der ihre Mähne aufwirbelte, war ein Genuss für sie.

Sharif hielt einen kräftigen Ast in der Hand, immer bedacht einen Feind abzuwehren oder die Ziegen beim Ausbüchsen zu hindern.

„Alle da!“, brummte er und kaute auf einem Grashalm weiter. Eigentlich fand er Ziegenhüten immer langweilig. Gleichaltrige Jungs gab es in der Oase nicht. Da waren zwar ein paar Mädchen, aber mit denen wusste er nichts anzustellen. Außerdem hatten die ihren Müttern beim Korbflechten zu helfen oder mussten auch Ziegen hüten.

Dennoch schien heute einiges anders. Das Abenteuer, welches auf ihn wartete, lag direkt vor ihm. In der Ferne zeichneten sich schroff die Muchal Berge in den hellblauen Himmel ab. Mit einem flotten Einstundenritt könnte man den Fuß der Berge erreicht haben, schätzte Sharif ein. Noch nie hatte er die sichere Oase verlassen und kein Gefühl für Distanzen entwickelt. Umso mehr reizte ihn jetzt die fremde Kulisse und sein Blick wanderte von Gipfel zu Gipfel.

Plötzlich fokussierte er einen ganz bestimmten Punkt. Das Gebirge öffnete sich mit einem weiten, dunklen Spalt. Vermutlich gelangte man dort in jenes Tal, in das schon viele Menschen hineingegangen waren und nie zurückkehrten. Zumindest wurde es so erzählt.

„Aber warum?“, überlegte Sharif. Manchmal hatte er den Geschichten vom schwarzen Beduinen gelauscht, wenn alle dachten, er würde schlafen. Dieser Beduine verbreitete Angst mit seinem großen schwarzen Hengst und sollte sich dort irgendwo versteckt halten.

Sharif gelang es nicht mehr, den Blick von dem dunklen Fleck abzuwenden. Da stimmte doch was nicht! Aber warum kümmert sich keiner drum? Die Gedanken wühlten ihn dermaßen auf, dass er dabei die Zeit vergaß. Es brach schon die Abenddämmerung ein, als er sich wieder an seine eigentlichen Aufgaben erinnerte.

„Ach je!“ Sharif sprang vor Schreck auf. Mit dem Finger zählte er die Ziegen ab. „Puh, Glück gehabt! Es sind noch alle da!“

Er wollte gerade mit seinen Tieren abziehen, als aus heiterem Himmel ein ungewöhnlich kühler Wind aufbrauste. Gänsehaut zog über seine Arme.

„Was ist das? Hoffentlich kein Sandsturm, oder?“ Er versuchte eine Erklärung am Horizont zu finden. Auch Zulu schaute bewegungslos in die Richtung der Muchal Berge. Und das hatte was zu bedeuten, wenn sie dabei das Fressen vergaß.

Dieser kalte Luftstrom schien direkt aus dem schwarzen Tunnel der Berge zu blasen, als hätte es ein Maul und würde daraus atmen. Der Wind gewann immer mehr an Stärke. Allerlei loses Gehölz und Wurzeln rollten über dem Boden hinweg. Die Grashalme bogen sich ergeben in den Luftmassen. Sand und Staub wirbelte auf. Es begann schon Sharifs Füße zu bedecken. Dabei pfiff der Wind eine Drohung, die einem die Gewissheit gab: „Nimm dich in acht, ich kann noch viel mehr!“

Mittlerweile wirbelte so viel Sand in der Luft, dass Sharif genau hinsehen musste, wo der Weg in die Oase zurückführte. Endlich reagierte er und pfiff einen kurzen hohen Laut. Alle Ziegen erkannten das Zeichen zum Aufbruch. Sie rissen die Köpfe hoch und versammelten sich um ihren Hirten.

„Nichts wie weg!“ Er schwang sich auf Zulus Rücken, nahm die Zügel auf und drückte dem Pferd die Fersen in den Bauch. Zulu sprang sogleich nach vorn. Die Ziegen folgten ihnen mit Angst im Nacken. So etwas hatten sie auch noch nie erlebt. Der kalte Wind peitschte den Flüchtenden Sand um die Ohren. Sharif musste die Augen zusammenkneifen und überließ der Stute den Weg. Sie brauchte nur wenige Galoppsprünge, um in den Palmenhain einzutauchen. Dort wurde der Wind wie mit einer vorgehaltenen Hand abgewehrt, und der lästige Sand vor den Augen ebbte schlagartig ab. Während Sharif das Tempo drosselte, drehte er sich nach den Ziegen um. Vater wäre sehr ärgerlich, wenn nur einem seiner Tiere etwas zustoßen würde. Aber alles schien in Ordnung zu sein.

„Geschafft Zulu!“ Er klopfte ihren Hals. Auch den restlichen Weg zum Stall überließ er ihr. Seine Gedanken trieben sich sowieso nur im Muchalgebirge herum.

„Wo steckt Sharif nur?“

„Hach, du hättest den Jungen nicht an den sonderbaren Ort schicken sollen! Warum habe ich das nur zugelassen!“, keifte seine Frau zurück. Energisch zog sie ihr großes Kopftuch in Position, um dann den Hirsebrei auf eine flache runde Holzschale zu schöpfen.

„Mach mir jetzt bloß keine Vorwürfe, Weib! Er ist nicht einmal unser eigenes Kind!“

„Was soll das denn heißen? Hätte ich ihn vor zehn Jahren einfach den Krokodilen zum Fraß überlassen sollen? Das ist doch die Höhe!“ Sie schnappte nach Luft. „Wenn ich ihn nicht aus seinem Körbchen gerissen hätte, dann hättest bestimmt du es getan! Er ist jetzt u n s e r Sohn. Irgendjemand hatte ihn mit Absicht an diesem einsamen Wassertümpel ausgesetzt. Die Krokodile sollten ihn verschlingen!“

„Ja, ja, und beinahe wärst du selbst in ihrem Verdauungskanal gelandet. Ich werde den Anblick nie vergessen, wie das Reptil mit nur einem Bissen den leeren Strohkorb zerfetzt hatte! Das hätte auch dein Arm sein können!“ Nicht nur die Nerven des alten Mannes waren recht ausgelutscht. Das arbeitsreiche und bescheidene Leben hatte auch an seinem Körper gezehrt. Sein Dishdash schlackerte an dem hageren Leib.

Nervös ging er vor der Feuerstelle auf und ab. Er machte sich Sorgen um Sharif, denn er liebte den Jungen genauso sehr wie seine Frau. Die unbekannte Herkunft des Jungen war völlig bedeutungslos. Das wurde ihm jetzt wieder klar. In all den Jahren hatte sich kein Mensch nach Sharif erkundigt. Es blieb ein Rätsel, wer den Jungen zurück gelassen hatte und wer seine wahren Eltern waren. Aber da gab es eine verborgene Besonderheit. Weder Sharif noch sonst jemand wusste, dass er ein Zeichen hinter seinem linken Ohrläppchen trug. Die kleine Tätowierung zeigte das Bild einer Sonne und einem darüber liegenden Schwert.

Seine Frau seufzte demonstrativ. Immer wenn ihr Gatte angespannt war, fing er zu mosern an.

„Jetzt setzt dich, oder suche nach ihm! Aber hör mit dem Hin und Hergelaufe auf!“ Der Mann gehorchte und blieb abrupt stehen. Dann zupfte er nachdenklich an seinem grauen Bart, deren Form er sich wohl von den Ziegen abgeschaut hatte. „Du hast ausnahmsweise recht!“ Sie verdrehte die Augen. „Ich werde nach ihm sehen! Aber wehe, er hat nur Blödsinn angestellt. Dann...!“

„Wir fangen schon mal mit dem Essen an!“ Mittlerweile hatte sich ihre leibliche Tochter Jawa neben die Mutter gesetzt. Sie war nur ein Jahr jünger als Sharif und im Gegensatz zur Mutter steckte sie in einem bunten Hemd und einer Hose. Als Kind konnte sie ihre dicken schwarzen Haare ohne Kopfbedeckung tragen. Den geflochtenen Zopf warf sie nach hinten auf den Rücken und beobachtete die kleine Streiterei ihrer Eltern.

„Aber da, seht doch!“ Jawa sprang auf und deutete auf den Weg, der in den Palmenhain führte. Alle folgten ihrem Wink. Die Schimmelstute gewann mit jedem Galoppsprung an Größe und preschte wie ein weißer Fremdkörper durch den grünen Tunnel heran. Kurz vor dem Platz der Hütte zügelte Sharif das Pferd und trabte an seiner Familie vorbei.

„Ich bin gleich da!“

Im Schlepptau begrüßten die durcheinander laufenden Ziegen ihren alten Herrn und das vertraute Zuhause. Ihr Gemecker klang, als seinen sie eine fröhliche Kinderschar.

Während draußen in der offenen Wüste zwischen den Dünen die Sonne als rot glühende Kugel unterging, stieg im Gesicht des alten Mannes die Sonne auf. All sein Ärger war verflogen. Mit schnellen Schritten heftete er sich an die Bande. Die Stallungen befanden sich nur wenige Meter hinter der Hütte. Dazwischen wuchs eine Reihe stacheliger Had- und Dornsträucher.

„Du kommst spät!“ Die Begrüßung barg Vorwurf und Erleichterung. Der Vater gestikulierte mit den Händen und blickte kurz in den Himmel. Vermutlich schickte er ein Dankeschön an den Allmächtigen.

„Der Weideplatz war so gut, dass die Ziegen einfach nicht genug kriegen konnten!“, stammelte Sharif. Dabei raufte er sich die Haare. Eigentlich versuchte er ein ganz anderes Phänomen zu ergründen.

„Oho, tatsächlich! Ihre Bäuche sind prall und rund!“ Die Stimme des Vaters sang vor Freude. Die Ziegen genossen das Streicheln seiner Hände, als könnten sie ihr Bauchweh lindern. Mit einem kurzen Nicken war Sharif von seinen heutigen Aufgaben entlassen.

„Puh!“, entwich es ihm. Schnell führte er Zulu an ihren Platz und nahm Zaumzeug und Decke von ihr ab. Dabei flüsterte er zu ihr. „Ich möchte wissen, wie es in dem Tal der Muchal Berge ausschaut! Du auch?“ Zulus Ohren drehten sich vor und zurück, als lauschten sie seinen Worten. Und meistens konnte die schlaue Stute ihm auch folgen, schließlich war sie mit ihm groß geworden.

Als Fohlen steckte sie einmal mit ihren langen Beinen in einem Schlammloch fest und drohte langsam zu versinken. Sharif entdeckte sie als erster und rief nach seinem Vater und Onkel. Weil diese auch nicht recht wussten, was sie tun sollten, schmiss sich Sharif mit einem Bauchplatscher in den Schlamm. Dann packte er Zulu am Kopf und hielt ihre Nüstern überm Dreck. Nun steckte Sharif selbst in Gefahr und die Männer waren gezwungen zu handeln. Sie bildeten eine Menschenkette, einer hielt den anderen fest und der letzte zog sie aus dem tödlichen Morast. Seitdem blieben der Junge und die Stute unzertrennlich.

„Abgemacht! Morgen, noch ganz früh, reiten wir dort hin!“ Mit einem Klaps auf ihren Hals verabschiedete er sich. Frohgelaunt hüpfte Sharif die wenigen Schritte nach Hause.

Täglich legten Schweiß und Wind seine dichten, schwarzen Haare in ein neues Durcheinander. Auch die Leinenhose und sein knielanges Hemd waren schmutzig. Die Mutter verzog das Gesicht.

„Also gut, heute kannst du erst essen und dich anschließend waschen!“

„Danke! Ich sterbe gleich vor Hunger!“ Sharif setzte sich neben Jawa und griff mit der bloßen Hand in die runde Holzschale, in der ein warmer Hirsebrei duftete. Es machte ihm Spaß, mit den Fingern die Hirse in Klumpen zu formen und in den Mund zu schieben.

„Hm, schön scharf!“, lobte er seine Mutter. Sie dankte es mit einem Lächeln. Dabei bröselten ihr ein paar haften gebliebene Hirsekörner von den Lippen. Sharif war schnell satt und blieb still, obwohl er innerlich erregt war. Gerne hätte er von dem seltsamen kühlen Wind erzählt. Aber er fühlte, dass der Zeitpunkt ungünstig lag.

Sharifs Gemüt fand auch während der Nacht keine Ruhe, so sehr nagte die Neugierde an seinem Schlaf. Was er wohl am nächsten Tag entdecken würde? Natürlich hatte er auch dieses Vorhaben geheim gehalten. Man hätte es ihm eh nur verboten.

Als der erste Vogel sein Morgengesang trällerte, glaubte Sharif, der richtige Zeitpunkt sei gekommen. Alle um ihn herum schliefen noch. Es war gar nicht so einfach, sich zwischen den gedrängten Leibern der Schlafenden durchzumogeln. Vorsichtig schlich er zur Öffnung der Lehmhütte. Als er den schweren Vorhang hinter sich wieder zuzog, hielt er inne und lauschte. Nein, niemand rief nach ihm. Gut - und wie gut erst die frische Luft war! Hm! Sharif war zufrieden und hellwach. Jetzt eilte über den sandigen Platz zwischen Lehmhütte und Stallungen. Das Feuer am Kochplatz war schon längst erloschen. Nur der Geruch von kalter Asche stieg ihm in die Nase.

Nach wenigen Schritten hatte er den offenen Stall der Tiere erreicht. Kopf an Kopf oder Kopf an Hintern lagen oder standen die Ziegen unter einer Überdachung. Dazwischen ragten ein paar Schafe hervor. Zulu teilte ihr Reich mit zwei Eseln, die auf dem Boden kauerten. Sie hatte ihren Freund gehört, noch bevor er die Bildfläche betrat und bog den Hals nach ihm. Mit einem leisen Wiehern begrüßte sie ihn. Was so viel hieß wie: „Da bist du ja endlich!“ Sie stand immer für ein Abenteuer parat. Sharif klopfte ein paar Mal auf ihre Schulter. Eine Ziege hatte was zu meckern.

„Psst!“, befahl er. Damit sie ihn nicht verraten würden, schmiss er den Viechern eine ordentliche Portion Dattelkerne hin. „Gebt bloß Ruhe! Fresst lieber!“ Und so geschah es auch. Dann wählte er ein schlichtes Zaumzeug und eine bunt bestickte Decke für den Ritt. Die Sonne verbarg sich noch hinter den Bergen, und die Nachtluft sorgte für eine angenehme Frische.

Die Oase erwachte wie in einem großen Vogelkäfig. Unglaublich, was die Vögel sich morgens schon alles zu erzählen hatten, wunderte sich Sharif. Jetzt aber los – es drängte ihn!

Er nahm denselben Weg wie gestern und ließ Zulu freien Lauf. Das dumpfe Geklapper ihrer Hufe wurde bald von dem sandigen Boden geschluckt. Zulus lange, dicke Mähne hüpfte im Wind und Sharif liebte es, wenn die vielen Haare seine Nase dabei kitzelten. Recht bald passierten sie die gestrige Weidestelle. Sharif ritt geradewegs drüber hinweg und suchte den Eingang der Berge. Dieser lag gestern noch zum Greifen nah. Doch jetzt konnte er ihn nicht finden, da das Gebirge wie ein dunkler schlafender Riese vor ihm lag. Egal, einfach drauf zu reiten!

Sehr bald schon musste er feststellen, dass sie eine gehörige Anzahl von Sanddünen zu überqueren hatten, die als große Wellen vor ihnen ruhten und ein Kräfte zehrendes Auf- und Absteigen forderten. Es heißt nicht umsonst, in der Wüste könne man in einem Meer ohne Wasser untergehen! Aber die Vollblutstute war zäh und ausdauernd.

Die alte Sage trifft wohl zu, dass der Allmächtige nur aus einer Handvoll Wüstenwind das Araberpferd geschaffen hat! Ohne zu ermüden, nahm Zulu eine Düne nach der anderen. Je mehr sich die beiden dem Ziel näherten, desto größer und gespenstischer wirkten die kargen und spitzen Berge. Sharif fühlte, dass er in eine andere Welt ritt. Mit dem Höherwachsen der Berge nahm auch seine Neugierde zu. Ohne zu zögern, galoppierte er auf den dunklen Koloss zu. Irgendwo würde er das Tal schon finden. Sie mussten jetzt nur noch eine flache Ebene überqueren.

Auf den letzten Kilometern dorthin begegneten sie einer Herde wildlebender Kamele. Sie lagen in einer Gruppe zusammen und schauten verwundert auf. In aller Frühe schon so viel Hektik, das forderte kritische Blicke heraus. Mit einem Brummen des Unverständnisses folgten ihnen ihre Köpfe.

„Oh nein! Da ist ja Osram, das wilde Rennkamel. Hoffentlich hat er uns nicht bemerkt!“ Sharif duckte sich und gab Zulu Schenkeldruck. Wie fatal! Denn Osram war das schnellste Rennkamel weit und breit. Viele Scheichs wollten es schon einfangen und in ihren Rennstall aufnehmen, aber Osram lief jedem davon. Natürlich hatte Osram die beiden vorbeiflitzen sehen und empfand dies als Herausforderung für ein Wettrennen. Es dauerte auch nicht lange, da zog Osram mit lang gestrecktem Hals an Zulu vorbei.

„Nicht jetzt, verschwinde!“, rief Sharif ihm nach. Noch auffälliger konnten die beiden sich dem geheimnisvollen Tal wirklich nicht nähern. „Herrje!“ Er zügelte die Stute, um dem ungewollten Rennen ein Ende zu machen. Als Osram der Abstand groß genug schien, wendete er und trabte mit hoch erhobenem Kopf, als sei er eine Giraffe, an den beiden vorbei. Zulu tänzelte ärgerlich herum. Sie legte die Ohren an und schlug nach ihm aus. Kamele konnte sie nicht ausstehen und schon gar nicht dieses hier. Sharif hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

„Hach Zulu! Bleib ruhig! Du weißt doch, dass du viel schöner und klüger bist! Jetzt komm, wir haben keine Zeit für solche Spielchen!“ Sharif wurde unruhig, denn der Weg erwies sich viel länger als gedacht. Osram verschwand endlich und die Stute galoppierte gleichmäßig weiter.

Der Tag rückte heran. Die Morgensonne färbte bereits die Bergspitzen in ein kräftiges Rot und würde sie bald zum Glühen bringen. Sharif ritt schon eine ganze Weile am Fuß der Berge entlang, bis ein großer Spalt den Einlass ins Gebirge anbot.

„Hier ist es ja endlich!“ Sharif ließ Zulu in Trab fallen und bog ab. Ein schotterartiger Weg wollte sie in die Berge führen und schlängelte sich aufwärts. Alles hatte die Farbe von einem Einheitsgrau. Nur der Blick nach oben schenkte einen hellblauen Himmel, und die frische Nachtluft lag noch unangetastet im schattigen Tal.

Bald sah Zulu ein, dass es klüger war, langsamer zu gehen, denn der steinige Weg machte es schwierig, mit ihren kleinen Hufen sicheren Halt zu finden. Sharif blickte um sich, unschlüssig, was er hier eigentlich suchte. Trotzdem trieb er die Stute vorwärts. Sie drangen immer tiefer in das Tal ein. Der unliebsame Weg wurde enger und ging in ein starkes Gefälle über. Zulu kam nur noch langsam voran. Jetzt fiel mehr Licht ins Tal, was aber die Umgebung auch nicht freundlicher aussehen ließ.

„Irgendwas ist hier faul!“, bemerkte der Junge instinktiv. Die meisten Menschen glauben, die Wüste sei tot. Aber das ist ein Irrtum. Man muss nur genau hinschauen und hinhören. Doch selbst Sharif konnte nicht das geringste Lebenszeichen erkennen. Es schienen weder Pflanzen noch Tiere zu existieren, nur eine unheimliche Stille. Außer Stein und Geröll konnte er nichts finden. Nicht mal einen Schwarzkäfer, die in Massen sonst überall herum krabbelten.

„Und wovon sollte dieser kalte Wind herrühren? Versteh ich nicht!“ Sharif sprach zu seiner Stute. Diese prustete Rotz aus den Nüstern und blieb einfach stehen. Sie mochte nicht mehr. Erst die Begegnung mit dem Kamel und jetzt sollte sie hier noch herumstolpern! Sharif spürte ihren Missmut, und auch ihm verging die Abenteuerlust. Es machte keinen Sinn, weiter zu reiten. Schade, er hatte mehr erwartet. Enttäuscht überlegte er kurz und wollte dem Pferd schon das Zeichen zur Wendung geben, als ein schriller Laut die Luft zerriss! Es tat richtig weh in den Ohren.

Der Schreck schoss den beiden dermaßen in die Glieder, dass sie wie angekettet stehen blieben. Noch einmal ertönte dieser Schrei, jedoch viel näher und Sharif griff geschwind nach der Steinschleuder, die in seinem Gürtel steckte. Jetzt konnte er den Laut zuordnen. Es kam aus der Luft. Es war ein Vogel, ein Falke!

Der Junge suchte den Himmel ab, konnte aber in der zunehmenden Helligkeit nichts orten. Ein drittes Mal stieß der Falke seinen Warnschrei aus, und kurz darauf spürte Sharif einen beißenden Schmerz auf seinem Kopf. Er konnte es kaum glauben. Dieser Falke hatte ihn tatsächlich angegriffen und mit seinen scharfen Krallen einige Haarbüschel ausgerissen, und das im Fluge!

„He, was soll das!“, rief er entrüstet. Seine Kopfhaut brannte vor Schmerz. Vorsichtig tastete er danach, schnellte aber sofort mit dem Finger zurück, als die Berührung alles verschlimmerte.

„Seit wann jagen Falken Menschen?“ Sharif war verwirrt. Egal, warum und ausgerechnet hier? Er musste handeln, sich wehren und schoss mit einem Stein nach ihm, blind vor Zorn. So oder so, hätte er ihn nie getroffen, denn in der Luft ist ein Falke unbesiegbar.

„Ich kann ihn nicht sehen!“ Hektisch rotierte sein Kopf herum. Zulus Ohren kreisten nervös. Sie ahnte nichts Gutes. Ein tiefes Höhö Höhö Höhö verriet ihre Anspannung. Da ertönte auch schon der nächste Angriffsschrei und dieser klang gefährlich nahe.

Jetzt bekam Zulu den spitzen kleinen Schnabel des Falken zu spüren, denn der Falke hatte es auf ihr Hinterteil abgesehen. Bevor die Stute es bemerken konnte, war er auf ihrer ungeschützten Kruppe gelandet und hackte mehrmals durch das Fell in den Muskel hinein. Das saß wie Messerstiche!

Aus dem Stand heraus machte das verstörte Pferd einen riesigen Satz nach vorn und galoppierte vor Schreck den Berg hinauf. Darauf war Sharif nicht gefasst. Vergeblich versuchte er, sich an der Mähne fest zu halten. Stattdessen rutschte er ihren Rücken entlang, drehte ungewollt einen Salto und schlug mit gestrecktem Rückgrat auf den Boden. Klatsch, da lag er nun. Sharif war schon oft vom Pferd gestürzt, aber noch nie so unglücklich gelandet.

Zuerst durchzuckte ihn ein Schmerz, der ihm den Atem raubte. Dann schnappte er nach Luft und mit dem nächsten Lidschlag spürte und hörte er gar nichts mehr. Der Junge hatte das Bewusstsein verloren.

Währenddessen erklomm Zulu den steinigen Berghang wie eine Gämse und entwickelte in ihrer Panik unglaubliche Kletterfähigkeiten. Der stechende Schmerz jagte sie den Berg hinauf. Geröll und Steine purzelten dabei ins Tal hinab. Es sah fast so aus, als ob sie in einer selbst ausgelösten Gerölllawine mit nach unten gerissen werden würde. Aber sie war immer ein Sprung schneller. Zulu hatte Glück und erreichte bald ein kleines Plateau. Hier machte die Stute halt. Ihre Nüstern waren gebläht und der Atem ging stoßweise, während der Schweiß in grauen Bahnen durch ihr Fell rann.

Vor Sharifs Augen war es immer noch schwarz, aber er konnte ganz genau Zulu wiehern hören. Er schlug die Augen auf und sah in den hellen Himmel. „ZULU!“, schrie es in seinem Kopf, sie ist in Gefahr! Fühlte er noch Schmerzen? Wenn ja, dann nahm er sie nicht zur Kenntnis. Es galt nun einzig allein, der Stute zu folgen. Sharif rappelte sich auf und stand schnell auf den Füßen. Er schaute, aus welcher Richtung das Wiehern her drang.

„Ah, da oben bist du! Warte ich komme!“ Sie stand als weißer Fleck etwa 100 Meter über ihm. Mit gestrecktem Hals trompetete Zulu ihre Laute ins Tal. Sharif rannte los. Nach wenigen Schritten war er gezwungen, auf allen Vieren zu krabbeln. Der Hang war zu steil. Er kam nicht so schnell voran, wie es Zulu gelungen war. Immer wieder rutschte er mit den losen Steinen ein Stückchen talwärts. Zulu feuerte ihn mit den höchsten Tönen an. Sharif blickte zu ihr auf und hatte das Gefühl, kaum vom Fleck zu kommen.

„Das kann doch nicht sein!“ Er biss auf die Zähne und mühte sich weiter ab. Da erschien das nächste Übel. Schnell duckte der Junge den Kopf, als der Falke mit einem Schrei über ihn hinweg schoss. Sharif konnte sogar die Zugluft spüren. Der Vogel drehte und kam erneut im Tiefflug angesaust. Immer und immer wieder. Sharif hing schutzlos am Geröllhang, aber der Falke griff ihn nicht mehr an. Es schien eher so, als wollte er ihn vorantreiben. Manchmal schlug Sharif nach dem Falken, wie nach einem lästigen Insekt. Natürlich konnte er ihn nicht treffen.

„Hau bloß ab!“, zischte er, mehr Puste blieb ihm nicht übrig. Gleich hatte er es geschafft. Zulus Anblick schenkte ihm die restliche Kraft und er zog sich aufs Plateau. Hier blieb er erst mal liegen und japste nach Luft. Zulu schnupperte sogleich an ihm. Sharif stöhnte vor Erschöpfung, wusste aber, dass er sich hier nicht ausruhen durfte. Er setzte sich auf und wischte mit dem Hemdsärmel Staub und Schweiß von der Stirn. Plötzlich machte sein Herz einen Satz vor Freude: Hinter ihnen bot sich eine Öffnung im Felsen an.

„Zulu, komm!“ Noch schwach auf den Beinen, stolperte er die wenigen Schritte dort hin. Zulu folgte brav, und beide verschwanden in einer kleinen Höhle. Geschafft! Hier waren sie vorerst sicher. Sharif lehnte sich an den warmen Körper seiner Stute, grub sein Gesicht in ihre Mähne und fand ein wenig Entspannung.

„Wie gut, dass ich dich hab!“ Er klopfte den muskulösen Hals und ließ wieder von ihr ab. „Lass mal sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist.“ Im Halbdunkel ging er um die Stute und untersuchte sie nach Verletzungen.

„Ho ho, Zulu, jetzt ist alles gut!“, versuchte er das Pferd ruhig zu halten. Schnell entdeckte er einen roten Punkt auf Zulus Hinterteil, aus der eine feine Blutspur floss. Sonst schien sie unversehrt. „Na schön!“ Die Erleichterung darüber verjagte den Schrecken, aber ließ stattdessen Zorn aufsteigen. Er streichelte Zulu noch einmal, kraulte ihr den Hals und ließ sie in der Ecke stehen. Dann kroch er zum Höhlenausgang zurück. Von hier aus hatte er einen sehr guten Rundumblick ins Tal.

Vor ihm erstreckte sich ein Geröllhang, der unten an einem schmalen Weg endete und auf der anderen Seite wieder aufstieg. Sharif blickte nach links, woher er gekommen war, dann nach rechts, dem Weg in die Berge folgend. Nichts regte sich.

„Du kleiner Bastard!“, schimpfte Sharif. „He, zeig dich doch, wenn du den Mut hast!“, rief er ins Tal hinab. „Das war gemein! Und das kriegst du zurück! Warte es nur ab!“ Er wühlte in den Steinen und fand gleich ein scharfkantiges Exemplar. Diesen legte er in den Riemen seiner Steinschleuder, spannte sie und hielt den Stein fest zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Ich habe jede Menge Zeit!“, sprach er zu sich selbst. Allerdings blieb ihm auch nichts anderes übrig, als geduldig auf der Lauer zu liegen. Alles blieb wie ausgestorben. Keine Bewegung, kein Geräusch. Sharif hörte einzig seinen Atem, doch dieser war nicht sonderlich beruhigend.

Plötzlich flatterte etwas vor seiner Nase. Sharif riss die Augen auf. Völlig überraschend landete der Falke in der Nähe des Höhleneingangs. Etwa einen Steinwurf entfernt hockte er da und beäugte seine Umgebung. Obwohl Falken ein ausgezeichnetes Sehvermögen besitzen, konnte er den Jungen in der Dunkelheit des Höhleneingangs nicht erkennen. Jetzt lag die Gunst auf Sharifs Seite. Besser hätte sich der Vogel zum Abschuss nicht präsentieren können. Sharif nutzte die Gelegenheit, diesem abnormen Falken eine Lektion zu erteilen. Er spannte den Riemen noch stärker an und zielte ruhig und konzentriert. Dann ließ er den Riemen los. Der Stein traf den Falken so heftig, dass dieser umgerissen wurde. Reglos blieb er auf dem Rücken liegen.

„Juchu! Habe ich dich erwischt!“ Sharif sprang auf und hüpfte auf der Stelle. Dann wandte er sich seiner Stute zu und triumphierte: „Den nehmen wir mit nach Hause! Vater wird mir sonst nicht glauben!“ Zulu blieb immer noch wie eine gemeißelte Statue stehen. Sie schien zu ahnen, dass noch etwas folgen würde. Gerade wollte Sharif nach dem Falken sehen, als Donnerschläge vom anderen Ende des Tals aufbrausten. Erschrocken zog er sich wieder in die Höhle zurück.

„Was ist denn jetzt schon wieder los? Hier gehen aber seltsame Dinge vor sich!“ Die Neugierde trieb ihn, nachzusehen. Vorsichtig auf dem Bauch liegend, robbte er wieder zum Höhlenausgang. Dann blickte Sharif ins Tal hinunter. Das Donnern und Krachen glich einem Gewitter, was jedoch sehr selten in der Wüste vorkam. Sharif fühlte den Erdboden leicht beben. So etwas kannte er nicht einmal von Erzählungen. Mit nur einem Herzschlag war sein Körper voller Angst vergiftet und verspannte seine Muskeln. Aber es sollte noch unheimlicher werden.

Zuerst stieß sein Blick auf eine dunkle Wolke, die in das Tal vom Berginnern kommend, hineinströmte. Dieses fremde Ding schürte seine Furcht noch mehr an. Er wagte nicht mal einen Lidschlag, denn da gab es noch mehr zu entdecken. Im Schatten der Wolke und unten im Tal sprengte an vorderster Front ein riesiges Tier alles zur Seite! Steine spritzten wie Matsch auf. Eiseskälte durchströmte den kleinen Jungen, als ihm klar wurde, wer da durchs Tal preschte.

„Der schwarze Beduine!“, hämmerte es in seinem Kopf. Aber dessen ebenso schwarzer Hengst schien im Moment viel gefährlicher zu sein. Das Tier besaß Hufe, so groß wie Sharifs Kopf. Endlich löste sich der Junge aus der Starre und rutschte langsam in die Höhle zurück.

„Oh Zulu, was wird jetzt nur geschehen? Da unten reitet der große Schwarze! Ich glaube, er ist kein so freundlicher Mann! Aber vielleicht findet er uns gar nicht. Wenn wir ganz still bleiben? Also, psst!“ Die Stute rührte sich nicht. Schließlich war ihr das Donnern und Beben unter den Hufen auch nicht geheuer.

Mit einem Mal brach das Donnergetöse ab. Das weckte Sharifs Neugierde. Wieder robbte er auf dem Bauch liegend zum Höhlenausgang. Ganz vorsichtig spitzte er nach unten. Der schwarze Beduine stand jetzt unterhalb seines Verstecks. Aber irgendwie war der Tag dunkler geworden. Der Junge blickte nach oben. Und tatsächlich, diese seltsame Wolke, aus der ein lautes Summen ertönte, schwebte über Sharifs Versteck. Genaues konnte er nicht erkennen. Dieses Fremdartige im dämmrigen Licht jagte ihm noch mehr Angst ein. Es wurde feucht zwischen seinen Beinen. „Oh!“, entwich es ihm. Er petzte die Beine zusammen, als könnte dies weiteres verhindern. Dann fokussierte er den Beduinen. Dessen Hengst tänzelte nervös auf der Stelle, und weißer Schaum tropfte aus seinem Maul. Sharifs Blicke hafteten an dem Reiter. Er war mit einem langen grauen Tuch umwickelt, nur für die Augen blieb ein Schlitz offen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen Beduinen. Der Fremde blickte suchend um sich. Und Sharif grübelte natürlich, nach was er wohl suche!

„Doch nicht nach mir, oder? Er kennt mich ja nicht einmal! Und woher weiß er, dass ich in dieses Tal geritten bin? Ach, Blödsinn!“ Wenn er nicht von den schrecklichen Geschichten des schwarzen Beduinen gewusst hätte, wäre er jetzt einfach aufgestanden und hätte dem da unten einen Gruß zugerufen und gefragt, was diese komische Wolke da sei. Aber so! Sharif wusste keinen Rat. Sein Herz pochte. Er hatte Angst und fühlte sich hilflos.

Plötzlich stach der suchende Blick des Beduinen exakt in seine Richtung und Sharif glaubte, entdeckt worden zu sein. Vor Schreck wandte er sein Gesicht ab.

„Oh, nein! Er hat mich bestimmt gesehen und kommt gleich!“ Seine Finger gruben sich tief in die Kieselsteine, und die Harnblase gab erneut nach. Ihm kam nicht einmal der Gedanke zur Flucht. Wie auch, er wäre ihm ja direkt in die Arme gelaufen. Stattdessen wartete er auf einen festen Griff im Nacken. Sharif bibberte.

„Wäre ich doch bloß nicht hier her geritten!“, tadelte er sich im Stillen. Aber es geschah nicht, was er befürchtet hatte. Verdutzt blickte Sharif auf und traute sich, erneut ins Tal zu sehen.

Der schwarze Beduine stand immer noch am selben Fleck. Der riesige Hengst jedoch verlor die Geduld und bäumte sich auf. Was für ein Kraftprotz, staunte Sharif. Dabei fiel das dunkle Gewand des Beduinen nach hinten und Sharif wurde nun Zeuge eines außergewöhnlichen Zaubers: Es kam ein funkelndes Schwert zum Vorschein. Es war von ganz besonderem Wert, was der Junge zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte. Die bunten Edelsteine, die das Schwert zierten, strahlten selbst im schummrigen Licht. Sharifs Augen weiteten sich. Die Angst verflog sogar für einige Momente, so sehr faszinierte ihn der völlig unerwartete Glanz. Es erinnerte ihn an seinen geliebten See mitten in der Oase, auf dessen Oberfläche die Sonne Perlen formte, die so intensiv glitzerten, dass sie einen fast schon blendeten.

„Bah!“, entwich es dem Jungen.

Der Hengst beruhigte sich wieder und trat auf allen vier Beinen. Dann scharrte er abwechselnd mit den Vorderhufen. Der Beduine saß fest im Sattel und ließ sich von der Eigenwilligkeit seines Pferdes nicht beirren. In dieser Pose fiel sein Umhang wieder zurück über das leuchtende Schwert und verbarg es wie einen Schatz. Sharif hoffte es noch mal sehen zu können und streckte den Hals. Aber der Beduine setzte zum Rückzug an. Er wendete das Pferd und ließ es losgaloppieren. Endlich konnte der Hengst seiner Spannung freien Lauf lassen und schoss nach vorne. So schnell wie er gekommen war, ritt er wieder in die Berge zurück und sollte dort irgendwo verschwunden bleiben. Die dunkle Wolke folgte ihm im selben Tempo wie ein großer Schirm. Für einige Momente hallte das Donnern der Galoppsprünge nach. Als sich der aufgewirbelte Staub langsam legte, kehrte auch die Stille wieder ein. Die Sonne füllte das Tal jetzt vollends aus und es machte den Eindruck, als wäre überhaupt nichts Besonderes geschehen. Sharif wagte sich immer noch nicht zu bewegen. Das eben Erlebte hielt ihn starr, wie elektrisiert. Erst als er einen vertrauten warmen Atem im Nacken spürte, löste er sich. Zulu war an ihn herangetreten und gab ihm zu verstehen, dass die Luft jetzt rein sei. Er stand auf und umarmte Zulus Hals. Als er ihre Wärme spürte, fiel auch der restliche Schrecken von ihm ab.

„Puh! Da haben wir noch mal Glück gehabt! Am besten wir hauen ganz schnell ab, bevor der Beduine zurückkommt.“ Zulu nickte mit dem Kopf – jawohl, nichts wie weg! Ihre Geste hätte auch jeder Nichtpferdekenner verstanden. Die beiden stolperten aus dem Dunkel der Höhle hinaus in den hellen Tag. In dem Moment, als Sharif sich aufs Pferd schwingen wollte, hörte er ein schwaches Piepen.

„Ach, dich hätte ich beinahe vergessen!“ Er ließ Zulu stehen und suchte nach dem Falken. Nach wenigen Schritten hatte er den Vogel gefunden und kniete sich vor ihn nieder. Er spürte nicht einmal die spitzen Steine, die sich in seine Haut gruben.

„Du lebst ja noch!“ Überrascht musterte er den Falken, der wie eine tote Henne auf dem Rücken lag. Sein Piepen wurde heftiger, als sei es ein Hilfeschrei. Sharif wusste im Moment nicht, was er tun sollte und glotzte den Falken einfach nur an.

Dieser erwachte aus seiner Starre und versuchte sich zu drehen. Dabei stellte er den linken Flügel etwas auf, ganz sachte, dann immer weiter bis er auf den Bauch rollte. Jetzt blieb der Vogel eine Weile hocken, als müsste er den Schmerz erst mal verdauen. Dann stellte er sich auf die Beine und streckte den linken Flügel. Sharif glaubte schon, er würde gleich davon fliegen, aber der andere Flügel schien nicht in Ordnung zu sein. Wie angewachsen blieb er am Körper des Falken haften. Blut klebte an seinem Gefieder. Der Vogel piepte aufgeregt und hüpfte hilflos vor Sharif umher.

„Oje, wenn er nicht mehr fliegen kann, dann ist das sein Tod! Entweder wird er verhungern, oder ein Schakal frisst ihn!“, überlegte Sharif. Ihm tat es unsagbar leid, dass er diesen Greifvogel verletzt hatte, wo er doch mit allen Tieren eine innige Freundschaft pflegte. Aber wie sollte er auch ahnen, was der Angriff zu bedeuten hatte?

„Jetzt verstehe ich!“, stieß er aus. „Ohne dich wären wir direkt in die Arme des Beduinen gelaufen! Du hast uns vermutlich das Leben gerettet!“ Der Falke hatte sein Hüpfen eingestellt und hörte dem Jungen zu. Sein Kopf wechselte ruckartig in verschiedene Richtungen. „Weißt du was? Wir nehmen dich mit und pflegen dich gesund! Was hälst du davon Zulu?“ Aber er drehte sich nicht einmal zu ihr um. Sharif war viel zu aufgeregt.

„Hoffentlich hackst du nicht in meine Finger!“ Langsam und ganz behutsam legte er seine Hände wie Schaufeln um den Vogel und hob ihn auf. Der Falke ließ dies bereitwillig zu. Jetzt erst bemerkte Sharif, dass der Vogel einen kleinen goldenen Ring um einen Fuß trug.

„Nanu, du musst wohl jemandem gehören! Das schauen wir uns zu Hause genauer an. Aber jetzt sollten wir wirklich schnellstens fort! Wer weiß, wie viel Zeit uns zur Flucht noch bleibt!“

Der Abstieg ins Tal erwies sich viel beschwerlicher als der rasante Aufstieg. Sie rutschten und stolperten mehr als sie gingen. Sharif sorgte sich um Zulus zierliche Beine, die im losen Geröll keinen festen Halt fanden. Er selbst hatte Mühe, das Gleichgewicht auf dem Pferderücken zu halten. Mit viel Geschick bewältigte die Stute diese Wegstrecke und fand endlich sicheren Halt unten im Tal.

Sharif überließ ihr das Tempo und freie Zügel. Am gleichmäßigen Gang erkannte er, dass sie nicht zu Schaden gekommen war. Als der Weg sich besserte und sie sich dem Ausgang des Tals näherten, legte Zulu an Geschwindigkeit zu. Sharif drehte sich ein paar Mal um. Nein, verfolgt wurden sie nicht.

Mit Leichtigkeit überquerte die Stute auch diesmal die Sanddünen. Sharif fühlte sich jetzt sicher und gerettet. Immer wenn er mit Zulu galoppierte, der heiße Wüstenwind ihm durchs Haar fuhr und an seinem Hemd rüttelte, spürte er die Weite der Freiheit. Hin und wieder schaute er nach dem Falken, den er sachte an seine Brust drückte.

„Hoffentlich überlebt er! Vater weiß bestimmt, was in so einem Fall zu tun ist!“

Zwischen der letzten Düne und der Oase erstreckte sich eine flache Ebene. „Gleich sind wir da! Ich sehe schon die ersten Palmen!“, rief er seiner Stute zu, als wüsste sie es nicht besser, wohin sie die ganze Zeit lief. Plötzlich bemerkte Sharif einen Reiter, der ihnen entgegenkam. Für einen kurzen Moment dachte Sharif an den schwarzen Beduinen. Aber schnell verschwand der Schreckensgedanke, denn der Junge erkannte die vertraute Person.

„Vater! Vater, wir kommen! Hier sind wir!“ Zulu raste direkt auf die Person zu.

„Oh, dem Himmel sei Dank! Mein Sohn ist wieder Heim gekehrt!“ Der alte Mann jubelte und ließ seinen Esel so schnell laufen, wie ein Esel nur laufen kann. Zulu machte kurz vor dem Grautier eine Vollbremsung und begrüßte diesen mit einer ordentlichen Salve aus Sand. Dann standen die beiden Nüstern an Nüstern und beschnupperten sich. Sharif hob sein rechtes Bein über Zulus Hals und sprang auf den Boden. Sein Vater kam mit offenen Armen auf ihn zu und schloss ihn darin ein.

„Vorsicht Vater, nicht so fest!“ Sharif versuchte, sich aus dem herzlichen Griff zu lösen. „Ich halte nämlich einen Falken in den Händen. Er ist verletzt! Sieh mal!“

Der Mann ließ den Jungen los, trat einen Schritt zurück und schaute nach dem Mitbringsel. Sharif streckte seine Arme aus und hielt ihm den Vogel entgegen. Beide beäugten sich. Sharifs Vater wusste nicht, was er davon halten sollte.

„Wo warst du überhaupt? Und wo hast du den Falken her? Die fallen nicht einfach vom Himmel!“ Trotz der Wiedersehensfreude lag eine Spur Gereiztheit in seiner Stimme. Sharif wollte schon mit seinen Erlebnissen loslegen, aber der Vater winkte ab.

„Ach, nicht jetzt! Gehen wir besser nach Hause. Deine Mutter wird weinen vor Freude. Sie hat sich nämlich große Sorgen gemacht!“

„Ja - aber das wollte ich nicht!“ Sharif überfiel ein schlechtes Gewissen.

„Nun gut, du bist ja wieder da, und das ist das Allerwichtigste! Komm, ich helfe dir aufs Pferd und wir reiten in die Oase!“ Sharif nickte.

Auch der Vater machte sich insgeheim Vorwürfe. Er hatte seinen Sohn am Rande der Oase die Ziegen weiden lassen, obwohl er von der magischen Anziehungskraft der Muchal Berge wusste, an dieses Phänomen aber nicht mehr geglaubt hatte. Umso größer war jetzt der Schrecken! Sein kleiner Sohn schien dort gewesen zu sein und ist als einzig lebender Mensch wieder herausgekommen, und obendrein mit einem Falken!

Sharif und der schwarze Beduine

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