Читать книгу Sharif und der schwarze Beduine - Johanna Bell - Страница 8

Das Symbol

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Die nächsten Tage vergingen im gewohnten Alltag. Zumindest machte es so den Anschein. Nur für Sharif änderte sich alles. Das lag daran, dass ihm die Dorfbewohner mit viel Respekt, aber auch Unsicherheit begegneten. Überall, wo er auftauchte, verstummten die Menschen, musterten ihn und tuschelten dann hinter seinem Rücken. Er war für sie unheimlich geworden, weder Freund noch Feind. Keiner wusste so recht mit ihm umzugehen.

Sharif fühlte sich ausgeschlossen und litt darunter. Er besaß eh keine Freunde in seinem Alter, und die Mädchen blieben lieber unter sich. Alle hatten ihn zum Sonderling gemacht, und er konnte nichts dagegen tun. Jeden Tag, wenn die Dämmerung einbrach und er mit Zulu seinen gewohnten Ausritt unternahm, vergaß er für eine Weile seine Traurigkeit. Die Stute war ihm das Liebste auf der ganzen Welt. Trotz allem hatte er etwas ganz wertvolles dazu gewonnen, einen außergewöhnlichen Freund, der ihn von tristen Gedanken abhielt – der Falke! Das Durchfüttern des Falken wurde zu einer ausfüllenden Aufgabe. Sharif versuchte den Speisezettel eines Raubvogels so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Meistens fing er Wüstenmäuse oder Vipern. Zulu stand dann immer gelangweilt, weit genug von einem Mäuseloch weg und hatte zu warten. Das passte ihr gar nicht. Lieber hätte sie Kamele gejagt und diese von Falken piesacken lassen. Ha, das wäre doch was Vernünftiges! Aber wer wusste schon von den geheimen Wünschen einer Arabervollblutstute! Stattdessen ging es auf Schlangenjagd und davor graute es ihr am meisten. Erst wenn Sharif die Schlange tot vor ihren Augen hielt, anschließend das Reptil in einem Leinenbeutel zuschnürte, ließ sie ihn aufsteigen. Sharif kostete das Erlegen der Tiere viel Überwindung. Aber er war es dem Falken schuldig.

Der Falke saß auf dem Balken und begrüßte Sharif mit heftigen Piepen. Der Vogel begann einen Freudentanz, zwei Hüpfer nach rechts, zwei Hüpfer nach links.

„He, man könnte meinen, du bist am verhungern!“ Sharif öffnete den Beutel und zog die Schlange heraus. Wie ein Seil hing sie an seiner Hand herunter. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und schlug das Reptil über den Balken. Der Falke stürzte sich augenblicklich auf die frische Beute. Sharif beobachtete ihn beim Fressen, wenn er mit seinem gebogenen Schnabel in das Fleisch stieß und kleine Fetzen herausriss.

„Wann können wir Aras den Verband abnehmen?“, wollte Sharif von seinem Vater wissen, der plötzlich neben ihm stand.

„Ah, einen schönen Namen hast du für ihn ausgesucht! Aber schau genau hin, wie unruhig er die Flügel bewegt! Das ist ein gutes Zeichen, er will bald wieder fliegen. Hm, ich denke, wir können den Verband sehr bald lösen!“ Der Mann zupfte nachdenklich an seinem Bart.

„Morgen vielleicht?“

„Gut, probieren wir es einfach.“

„Aras! Hast du gehört? Morgen ist dein Tag!“ Sharif schaute abwechselnd den Falken, dann seinen Vater an. Er war sich sicher, dass der Falke es schaffen würde.

Sharif lag schon Stunden vor dem Morgengrauen wach. Aber er wollte sich kein zweites Mal aus der Hütte schleichen und drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Endlich - als erste rieb sich seine Mutter den Schlaf aus den Augen. Sie gähnte leise, setzte sich auf und richtete ihren Umhang zurecht. Dann verließ sie kaum hörbar die kleine Zeribar und schnappte eine Kalibasse, um Wasser zu holen. Sharif wartete so lange, bis der würzige Duft von Tee hereindrang. Jetzt sprang er auf und überlegte kurz, wie er seinen Vater von null auf hundert bringen könnte. Vielleicht sollte er Aras holen, der ihn am Ohr wach zupfen würde. Sharif seufzte. „Das ist vielleicht doch keine so gute Idee. Besser abwarten!“, entschied er, und ließ ihn zufrieden. Dann schlüpfte er nach draußen. Seine Mutter saß am dampfenden Kessel und schöpfte Tee in einen Becher. Sie blickte ihn freundlich an.

„Na Sharif! Schon munter?“ Ohne eine Antwort abzuwarten sprach sie weiter: „Ich weiß, das wird ein aufregender Tag für dich. Aber trink und iss erst in Ruhe. Vater wird dir mit dem Falken helfen!“ Sie reichte ihm in ihren kleinen Händen einen Becher Tee. Sharif setzte sich neben sie auf eine staubige Matte. Aber viel lieber, wäre er gleich davon gestürmt. Er verstand nicht, dass Erwachsene sich in allem immer so viel Zeit lassen.

„Ja, danke!“ Er umklammerte den verbeulten Kupferbecher und schlürfte mit seiner Mutter am heißen Tee. Der stark gesüßte Grüne Tee mit Pfefferminzblättern strömte wie eine warme Woge in seinen Bauch hinein und machte gleichzeitig Kopf und Denken leicht. Mutter hatte wie so oft Recht. Nach dem Tee fühlt man sich viel besser.

„Zuerst testen wir, wie der Falke ohne Verband zurecht kommt!“, schlug Sharifs Vater vor, als die beiden zu den Stallungen gingen.

„Und denkt dran, Großmutter kommt heute!“, rief die Mutter hinterher. „Sie kann bestimmt bei der Entschlüsselung des Symbols helfen.“

„Na, da bin ich sehr gespannt, was ihr dazu einfällt!“ Ihr Mann drehte sich um und winkte kurz zurück. Im Moment blieb ihm das Symbol ziemlich gleichgültig.

„Also pass auf! Du lässt den Falken auf deiner Hand sitzen. Genauer gesagt, auf deinem gestreckten Zeigefinger kann er sich festhalten. Als Schutz vor seinen scharfen Krallen ziehst du diesen dicken Lederhandschuh über.“ Der weißbärtige Mann reichte Sharif einen viel zu großen Handschuh, der an ihm wie ein Beutel herunterhing. Sharif tat, wie befohlen und trat so nah wie möglich an den Falken heran. Dann hielt er ihm auffordernd die Hand entgegen.

„Komm Aras, hüpfe hier drauf! Ich halte dich schon!“ Aras guckte seinen neuen Sitzplatz erst mal mit dem rechten, dann mit dem linken Auge an. „Na los! Was ist denn?“ Endlich hüpfte der Falke mit einem Satz auf Sharifs Handschuh. Die Krallen drangen fest in das brüchige Leder ein. Sharif gefiel diese Berührung.

„Sehr gut! Jetzt drücke mit dem Daumen sachte gegen seine Krallen. Somit weiß er, dass er dort zu sitzen hat. Erst wenn du den Daumen öffnest und die Hand in die Luft wirfst, versteht er das Zeichen zum Fliegen.“ Vorsichtig hielt der Junge den wertvollen Vogel fest, der etwa die Größe einer Krähe besaß, und betrachtete sein blassgraues Gefieder. Die dunklen nach hinten verlaufenden Augenstreifen schenkten dem Gesichtsausdruck etwas Kriegerisches und eine gewisse Strenge. Ausschließlich Scheitel und Nacken waren rostrot gefiedert. Sharif fand den Wüstenfalken wunderschön. Er staunte und genoss die Nähe des rätselhaften Greifvogels. Dann fiel sein Blick auf den schmalen Ring, der im schummrigen Licht schimmerte.

„Heute werden wir mehr über dich erfahren!“ Aras bewegte seinen Kopf kurz und ruckartig, als würde er alles verstehen. Der kleine Falke strahlte Ruhe und Klugheit aus. Jeder, der ihn sah, war beeindruckt.

„Los, gehen wir an den Rand der Oase, wo er die Freiheit besser erkennen kann. Sein Instinkt sagt ihm, in welche Richtung er fliegen soll.“ Der Vater schritt gedanklich zur nächsten Tat, während Sharif zusammenzuckte! Das war ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass Aras auf nimmer Wiedersehen davonfliegen könnte. Und doch, es war seine Pflicht ihn loszulassen. Die beiden gingen auf einem abgelegen Weg und hofften, dass ihnen niemand begegnen würde. Das hätte sonst wieder nur Gerede ausgelöst. Aber sie hatten Glück. Keiner bemerkte ihr Vorhaben.

Je mehr sie sich der offenen Wüste näherten, desto heftiger wühlte der Wind die Palmenwedel auf. Die großen Blätter rieben aneinander, winkten sich zu, oder raschelten im Luftstrom.

Der alte Mann führte Sharif hinaus auf eine freie Ebene. Nach ein paar Schritten machten sie halt. Der Wind pfiff gedämpft sein Lied. Während Sharif andächtig den Falken hielt, löste sein Vater den Verband von dessen Flügel.

„Na siehst du! Der Stein hatte nichts gebrochen. Es sah viel schlimmer aus, und nun ist es gut verheilt. Zufrieden?“ Skeptisch beäugte Sharif die Stelle, an dem der Stein eingeschlagen war und es schmerzte ihn. Ein tiefer Schnitt hatte einige Federn gelöst und einen Muskel verletzt. Die Wunde war sauber verheilt. Jetzt galt es, den Muskel wieder zu stärken.

„Stell dich mit ihm gegen den Wind!“, forderte sein Vater ihn auf und Sharif drehte sich um. „Ja, so ist`s gut, und halte ihn fest.“ Unruhe stieg im Falken auf. Er übte sich bereits im Strecken seiner Flügel. Bei einer Spannweite von etwa 80 cm gewann er dabei schnell an Auftrieb.

„He, langsam!“ Sharif hatte Mühe den Vogel festzuhalten. Er musste ihn nun weit von sich strecken, damit er von den Flügeln nicht geohrfeigt wurde. Aras zog langsam seine Flügel wieder an. Er piepte aufgeregt, als sei es ein Kampfesschrei. Sharif freute sich über seine Lebenskraft.

„Du kannst es, ich weiß es! Du willst und kannst fliegen! Der Wind hilft dir!“ Sharif meinte, der Zeitpunkt sei nun gekommen und schaute seinen Vater fragend an.

„Gut, mein Junge! Dann lass es uns probieren. Du musst dich nun verabschieden!“ Sharif seufzte.

„Vielen Dank Aras! Du hast mein Leben gerettet und auch das von Zulu! Das werden wir dir nie vergessen. Du kannst jetzt nach Hause fliegen, oder auch hier bleiben, wenn du willst. Na ja, ich hoffe, du kommst mich bald wieder besuchen!“ Sein Vater legte die Hand auf seine Schulter, was so viel bedeutete, wie, mach endlich! „Also gut!“ Sharif konzentrierte sich auf das, was er gleich tun musste. Sein Vater hatte es ihm einige Male mit einem Strohknäuel vorgemacht, wie man einen Falken zum Fliegen bringt.

Sharif holte mit seiner Hand langsam aus und warf den gestreckten Arm hoch in die Luft. Im letzten Moment löste er dabei seinen Daumen. Den Falken warf es einige Meter nach oben. In diesem kritischen Augenblick musste sich der Vogel selbst helfen. Vater und Sohn standen gespannt da und hofften auf ein kleines Wunder. Aras gelang es mit ein paar wenigen Schlägen noch höher zu steigen. Dann stellte er seine Flügel geschickt in den Wind und ließ sich tragen, als hätte er es nie verlernt. Jetzt ging alles sehr schnell. Immer höher zog es ihn in den Himmel und weit in die Wüste hinaus, bis sein Körper vom Licht geschluckt wurde.

Sharif wusste nicht, ob er aus Freude oder Abschiedskummer weinte. Wahrscheinlich beides. Er hing an dem Falken mehr als ihm bewusst war.

„Komm, lass uns nach Hause gehen! Vielleicht ist Danka schon da.“ Der Vater versuchte ihn abzulenken. Der Schmerz des Jungen tat auch ihm weh.

„Hm hm!“ Sharif streifte den Handschuh ab und reichte ihn dem Vater. Schweigend gingen sie in die Oase zurück. Sharif drehte sich noch mal um. Aber Aras blieb verschwunden.

„Sharif, mein Junge! Was bist du groß geworden! Komm zu mir und lass dich umarmen!“ Danka sagte dies jedes Mal, wenn sie hin und wieder mit einer Karawane zu Besuch kam. Keiner wusste ihr exaktes Alter. Trotz ihrer zusammen geschrumpelten Statur wirkte sie voller Würde und Weisheit. Unbekümmert zeigte sie ihr falten durchzogenes Gesicht, welches ihre fröhlichen Augen hervor stechen ließ. Man meinte, diese Frau bestünde nur noch aus Haut und Knochen. Aber ihre Zähigkeit war mit nichts vergleichbar. Sharif mochte die alte Frau sehr gut leiden. Sie konnte die besten Geschichten erzählen.

Die Sippschaft saß versammelt im Schatten der Palmen. Es war Mittagszeit und sie aßen ein bescheidenes Mahl aus gekochtem Getreide und Gemüse. Erst am Abend würde man dieses Wiedersehen mit den Nachbarn ausgiebig feiern. Mutter wollte wissen, wer in Dankas Heimat geheiratet hatte und wie viele Kinder daraus entstanden waren, während Vater nur Ohren für Ziegengeschichten, Zucht von Kamelen und Eseln hatte. Sharifs Gedanken jedoch weilten bei Aras und dem goldenen Ring. Er verstand das alles nicht. Dem Plausch der Erwachsenen hörte er gar nicht richtig zu. Lustlos kaute er auf dem Inneren eines Grantapfels herum.

„Und stellt euch vor, bis zu unserer Oase, und das ist ein Achttages-Ritt, erzählt man sich eine faszinierende Geschichte von Sharif und dem schwarzen Beduinen!“ Endlich lenkte Danka das Gesprächsthema in eine neue Richtung. Aus Respekt vor ihrem Alter überließ man ihr die Auswahl der aktuellen Themen. Plötzlich war Sharif hellwach und spitzte die Ohren. Mit seinen dunkelbraunen Augen schaute er die Alte erwartungsvoll an. Auch für die anderen wurde das Essen plötzlich zur Nebensache.

„Nun, da gibt es ein Symbol! Wer kann mir dies aufzeichnen?“ Danka blickte in die Runde.

„Schau her!“ Mit einem Finger grub der Vater exakt die einfachen Formen in den Sand. Danka bückte sich nach vorne, um die Figuren besser erkennen zu können. Sie überlegte angestrengt, denn das verriet ihr heftiges Lippenspiel. Lange studierte sie das Bild der Sonne mit dem darüber liegenden Schwert.

„Mach es doch nicht so spannend!“, dachte Sharif und er war mit diesen Gedanken nicht der einzige. Doch niemand wagte zu fragen.

„Hm hm hm, das ist eigenartig! Ich kenne es, ja gewiss, denn ich hatte damit zu tun. Es stammt aus einem anderen Ort, aber ich weiß nicht mehr aus welchem!“, murmelte sie vor sich hin. „Über diesem Symbol liegt ein Geheimnis!“ Sie schüttelte den Kopf und ärgerte sich offensichtlich über den Gedächtnisschwund.

„Na wunderbar, dann sind wir genauso schlau wie vorher!“, konnte man in Sharifs Gesicht lesen.

„Lasst mir Zeit! Ganz bestimmt kann ich euch später davon berichten. Aber jetzt möchte ich mich gerne zurückziehen. Die Reise war doch sehr anstrengend.“ Plötzlich wollte Danka die Runde verlassen. Die Anwesenden waren von ihrem Stimmungswechsel nicht sonderlich überrascht. Man hatte sehr wohl bemerkt, wie tief die Zeichnung sie getroffen hatte. Es würde ihr keine Ruhe lassen, bis sie sich an die Hintergründe erinnern konnte. Danka verschwand in der Hütte von Sharifs Eltern.

Da nun keine aufregenden Neuigkeiten verkündet wurden, folgte ein jeder dem Drang seines voll gefutterten Bauches, und suchte den nächsten schattigen Platz für ein Schläfchen auf. Es war sowieso das Klügste die heiße Mittagszeit zu verschlafen. Sharif hingegen fand keine Ruhe. Unzufrieden schlenderte er durch die Oase. Ihn plagte der Gedanke, dass er niemals das Geheimnis des Falken erfahren könnte. Wenn Danka nichts dazu einfiel, ist die Geschichte schon zu Ende.

„So ein Mist!“ Er kickte einen Stein zur Seite, der ihm wie gerufen im Weg lag. Dann blieb er stehen und überlegte, wo er sich gerade befand. Plötzlich hörte er das Flattern eines Vogels. Sofort schaute er nach oben. Sharifs Herz hüpfte vor Freude und Erwartung. „Aras?“, rief er. Zwischen den Palmenwedeln konnte er einen schwarzen Vogel davonfliegen sehen. Es war nur ein Wüstenrabe, der ihm mit einem schrecklichen Krähen antwortete.

„Ach sei still mit deinem Gekrächze!“ Enttäuscht ging Sharif weiter.

Irgendwann erreichte er den großen See mitten in der Oase. Ja, das war jetzt genau der richtige Ort um Trost zu finden. Er setzte sich nah ans Ufer und beobachtete die kleinen Wellen, in denen sich die Sonnenstrahlen brachen. Licht und Wasser formten Tausende von glitzernden Perlen, die auf dem See schwammen. Das Funkeln erinnerte Sharif an das Schwert des Beduinen. Ständig tauchten die Bilder des Erlebten auf. Und so viele Fragen blieben unbeantwortet.

„Wer ist nur dieser Beduine? Warum trägt er ein so schönes Schwert? Hat das was mit dem Symbol auf Aras Ring zu tun?“ Er raufte sich die Haare. Er konnte ja nicht ahnen, dass dies mit seiner unbekannten Herkunft verknüpft war. Woher auch! Es blieb ihm keine Wahl und er musste einfach abwarten. Dieses Gedankenkarussell machte Sharif müde, bis er einnickte. Doch kurz darauf fuhr er wieder nach oben.

„Was ist los?“ Irgendwas hatte ihn geweckt. Verwirrt blickte er um sich und rieb sich den Sand von der Wange. Dann sah er, wie seine Halbschwester Java am Uferweg vorbeilief. Weil sie es so eilig hatte, rief er neugierig nach ihr: „Java, suchst du mich? Ich liege hier unten am See!“ Das Mädchen blieb abrupt stehen und drehte sich in die Richtung, aus der sie die Stimme vernahm.

„Ach du bist es! Nein, dich suche ich nicht! Ich soll ganz schnell Bishwar, unseren Heiler holen. Danka geht es schlecht. Aber ich muss weiter!“, und sogleich eilte sie davon. Sharif wollte nachfragen, aber sie war bereits außer Hörweite. Da stimmte doch was nicht! Mit einem Satz sprang er auf und lief so schnell er konnte nach Hause.

Von weitem hörte er sie schon brüllen: „Wo ist er? Bringt ihn zu mir, schnell!“ Sharif blieb hechelnd vor der Lehmhütte stehen. Der Schweiß rann ihm über die Stirn und das Dishdash klebte an seiner Brust. Mit dem Hemdsärmel versuchte er das nasse Gesicht zu trocknen. Er wollte gerade hineingehen, als sein Vater ihm entgegentrat. Der Mann blickte Sharif ernst an und schüttelte den Kopf.

„Bleibe hier draußen! Großmutter braucht viel Ruhe. Sie scheint ganz wirr zu sein und verdreht die Augen. Ich habe nach unserem Heiler rufen lassen. Wo bleibt er bloß?“ Er war nervös und gereizt. Sharif verstand zwar immer noch nicht, was hier gerade geschah, aber er hielt es für klüger jetzt keine Fragen zu stellen. Schweigend setzte er sich zu den Nachbarn, die sich neugierig um die Hütte versammelt hatten. Keiner wechselte ein Wort mit ihm und gafften ihn nur an. Manche hatten sogar ihre Ziege an einer Leine mitgebracht. Abwechselnd meckerte eine andere und irgendwie beruhigte es ihn sogar. Sharif war das Verhalten seiner Mitmenschen mittlerweile egal geworden. Es beschäftigten ihn sowieso andere Dinge.

„Sollen die doch denken was sie wollen!“, sprach er zu sich selbst. Trotzig brach er einen Zweig in kleine Teile und blickte keinem in die Augen.

Anscheinend waren Java und Bishwar im Anmarsch. Die Menschen um ihn herum standen auf und deuteten auf die Rettung. Auch Sharif blickte in die besagte Richtung. Bishwar ritt auf seinem alten, fast blinden Esel daher. Das Tier benötigte immer die doppelte Zeit, weil es mit Schlangenlinien seinen Weg bahnte. In den meisten Fällen kam der alte Mann auch deshalb zu spät, und konnte nur noch den Tod des Kranken feststellen. Trotzdem traute man ihm heilende Kräfte zu.

„Wieso hat er nie seinen Esel geheilt?“, fragte sich Sharif. Ein Rennkamel wie Osram müsste er unter seinem Hinterteil reiten! Sharif grinste in sich hinein bei der Vorstellung, wie der Alte mit einem unbändigen Kamel durch die Oase sauste. Aber sogleich wurde er wieder ernst.

Danka rief erneut. Mit einer rauen, heißeren Stimme flehte sie: „Schnell, es ist nicht mehr viel Zeit! Bringt ihn mir - sofort!“ Die Nachbarn tuschelten aufgeregt. Auch die Ziegen schienen nervös und meckerten alle auf einmal. Jeder spürte die wachsende Spannung.

Mit einer gewissen Wichtigkeit stieg Bishwar von seinem Esel ab. Er war ein kleiner Mann mit einem runden Gesicht, das fast halslos auf einem fülligen Körper saß. In beiden Händen hielt er Knochen und Palmwedel gegen alle möglichen Krankheiten parat. Ohne Eile watschelte er in die Hütte. Den Zuschauern schenkte er keinen Blick. Alle starrten ihn an. Am liebsten hätte Sharif ihm einen Stein zwischen die Pobacken gejagt, damit er auf Trab käme.

Als Bishwar endlich das Tuch hinter sich zuzog, hörte er Vaters Stimme. Diese klang erleichtert: „Danka, er ist da. Jetzt wird alles gut!“ Für einige Augenblicke blieb es still und die Schaulustigen glaubten, die alte Frau wäre nun in Frieden gestorben. Aber da irrten sie sich.

„Ohhh!“, grollte es aus der Hütte. „Ihr allerdümmsten Kameltreiber! Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“, schallte es nach. Danka schien zu toben. Entsetzt blickten sich die Umstehenden an. So kannte man die alte und sonst beherrschte Frau gar nicht.

„Ich brauche doch keinen Heiler! Der soll sich seine Knochen in die Haare wickeln und mit dem Palmwedel Fliegen verjagen, aber mich in Ruhe lassen! Ich muss Sharif sprechen! Versteht ihr, SHARIF! Niemanden sonst!“ Sharif reagierte blitzartig als er seinen Namen hörte. Er sprang auf und schoss regelrecht in die Hütte. Diese erwies sich als überfüllt mit wichtigen und unwichtigen Leuten. Sharif drängte sich zwischen den Leibern durch. Die Menschen brummten entrüstet, aber man machte ihm Platz. Endlich hatte er Danka erreicht, die man auf mehreren Matten gebettet hatte. Im Schein der Öllampen glänzte ihr verschwitztes Gesicht. Weiße Haarsträhnen klebten auf Stirn und Schläfen. Sie atmete schnell und flach. Sharif griff nach Dankas Hand. Diese wiederum fühlte sich kalt an. Er versuchte ruhig zu sprechen: „Ja, hier bin ich! Was ist denn los?“

Die alte Frau entspannte sich augenblicklich. Einen lauten Seufzer der Erleichterung stieß sie aus, aber ihre Augen blieben weiterhin geschlossen.

„Ich möchte, dass alle gehen, sofort! Lasst mich mit Sharif alleine!“, befahl sie.

„Aber...“, protestierte Bishwar kleinlaut. Sharifs Vater zog den beleidigten Heiler am Hemdsärmel nach draußen, während die anderen ihnen folgten. Als die beiden endlich alleine waren, öffnete Danka die Augen. Ihre Pupillen waren klein und starrten an die Decke. Sharif erschrak über den toten Blick. Aber ihre wiedererlangte sanfte Stimme dämpfte ein wenig seine Furcht. Die Alte kam gleich zur Sache.

„Mein Junge, ich fühle mich plötzlich sehr schwach! Ich kann es mir selbst nicht erklären warum. Aber ich weiß jetzt, wofür das Symbol steht. Mir bleibt nicht viel Zeit, dann muss ich in eine andere Welt gehen.“ Sharif drückte noch stärker ihre Hand, in der Hoffnung sie davor bewahren zu können. „Nicht so fest, Sharif! Das nützt auch nichts mehr. Pass auf! Das Symbol ist sehr alt. Es stammt von unserer ältesten Herrscherfamilie aller Wüsten und entstand, als der große und mächtige Sultan Obrim mit Hilfe des Sonnenlichts ein Schwert erschaffen ließ! Ja, so wird es von den Weisen erzählt. Das Bild der Sonne und des darüber liegenden Schwertes, stehen für den Herrscher dieses Landes. Nur einer aus dieser alten Familie kann das Schwert führen und rechtens handeln.“ Danka unterbrach um nach Luft zu schnappen. Das Sprechen fiel ihr merklich schwerer. Als ihr Atmen sich wieder beruhigt hatte, wagte Sharif zu fragen:

„Was hat der Falke damit zu tun?“ Danka nickte sachte und ein Lächeln huschte über ihre Lippen.

„Du überlegst richtig, mein schlauer Sharif! Er wird jemandem aus dieser alten Familienabstammung gehören. Erstaunlich ist nur, dass die Existenz solcher Herrscher plötzlich wieder auftaucht!“

„Großmutter! Der schwarze Beduine trug ein wunderschönes Schwert! So was habe ich noch nie gesehen! Glaubst du, dass das mit dem Symbol zu tun hat?“ Sharif war erregt und fasziniert von diesen Neuigkeiten.

„Ich weiß es nicht mein Junge. Aber ich weiß, was dein Name SHARIF bedeutet:

Sonne und Schwert – fürstliche Zeichen,

Himmel und Erde sind ihr Revier,

Alle Ziele kannst du erreichen,

Recht und Großmut walten hier.

Innere Stimme, bewahre die Seele,

Fristen des Lebens man niemals verfehle!...Ah!“ Sie begann zu stöhnen.

„Mir ist schwindelig. Ich höre meine eigene Stimme wie aus der Ferne. Ach, gib mir doch einen Schluck Wasser bitte!“ Sharif tat wie ihm befohlen und führte einen Becher Wasser, welches neben ihr stand, an ihre Lippen. Mit der anderen Hand hob er ihren Kopf an. Danka trank in mehreren kleinen Schlucken. Dann reichte sie ihm mit zittriger Hand den Becher zurück. Sharif spürte, dass es ihr rapide schlechter ging. Angst stieg in ihm auf und er wollte schon nach Hilfe rufen. Aber Danka hielt ihn am Arm fest und schüttelte den Kopf.

„Nicht!“ Dann winkte sie Sharif an ihren Mund. Er ahnte, dass dies ihre letzten Worte sein würden.

„Wenn der Falke wieder aufkreuzt, dann folge ihm! Er ist des Rätsels Lösung!“

Und plötzlich erschlaffte ihr ganzer Körper und sank in sich zusammen. Ihr Händedruck gab nach. Die Finger blieben steif wie geschnitztes Holz. Sharif begriff nicht gleich, dass seine Großmutter gestorben war. Er hatte zuvor noch nie jemanden sterben sehen. Ihr Kopf war zur Seite gekullert, Augen und Mund geöffnet. Kein schöner Anblick. Erschrocken starrte er sie an.

„Danka?“, fragte er vorsichtig. Vielleicht hatte sie ihn nicht richtig gehört. „Danka?“, versuchte er es erneut. Als sie nicht antwortete, legte er seinen Kopf auf ihre Brust. Der Körper war noch warm. Doch sie blieb reglos. Mit einem Mal schossen ihm Tränen übers Gesicht, die er nicht zurückhalten konnte.

Sharif und der schwarze Beduine

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