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Löwenmutter-Manier


Dass ich in diesem Sommer 2019 wenige Schmetterlinge und dafür umso mehr langsame Klinik-Schiebetüren sehen und die Normalität meiner bisherigen Tage an diesem Punkt enden würde, davon war ich spätestens nach dem Wort „Notfall“ überzeugt. Es las sich für mich fast unwirklich, bedrohlich, ich wollte nicht wissen, was es in sich barg. In diesem Warteraum saß ich nun, zusammen mit sieben weiteren Personen, zwei davon an meiner Seite. Mittlerweile hatte sich auch bestätigt, dass es sich bei den ebenfalls Wartenden tatsächlich um die Familie des jungen Mannes handelte, der in denselben Unfall wie Papa verwickelt war. Zu diesem Zeitpunkt wusste aber auch diese Familie kaum etwas über Unfallhergang und Verletzungen.

Mama und ich erfuhren etwas mehr, nachdem wir wenige Minuten später in einen ersten Behandlungsraum eintreten durften. Umgeben von Vorhängen und ausgestattet mit allerhand Gerätschaften, wurden hier wohl die Unfallverletzten erstversorgt. Einer davon war Papa. Ich erinnere mich daran, dass eine tiefe Wunde auf seiner Stirn klaffte. Sie verzog sich ein wenig, als er uns jetzt in diesem Erstversorgungszimmer anlächelte.

So lange ich zurückdenken kann, erinnere ich mich an meinen Papa lächelnd. Es gab sehr wenige Momente, in denen ich ihn tatsächlich zornig erleben musste. Vielleicht dann, wenn der Drucker in seinem Büro zu Hause wieder einmal streikte und er neben Trainingslagern und Spielbeobachtungen lediglich einen Tag zur Verfügung hatte, um all seine E-Mails auszudrucken. Da flogen dann schon mal die Fetzen, oder besser gesagt die Druckertinte und das Papier. Ansonsten aber gab es tatsächlich sehr wenige Situationen, die Papa abseits vom Spielfeld in Rage bringen konnten.

Auf die Frage eines Journalisten, wie es denn um sein Temperament (als Trainer) stehe, hatte er hingegen einst geantwortet: „Ob ich impulsiv bin? Klar, i bin von einer Sekunde auf die andere in der Höh! Dabei bin i a unbändiger Optimist. Und a totaler Realist. Mit an eisernen Willen kannst alles machen. Früher hab i trainiert wie a Berserker, weil i als Kicker viel z’ langsam war. Zufrieden bin i praktisch nie, i will immer was verändern.“

Als Familie erlebten wir viel eher den optimistischen Realisten als irgendwelche Anzeichen eines wilden Berserkers. Den ließ Papa glücklicherweise stets auf dem Platz zurück.

Dass wir ihn sogar in dieser Situation, von der wir alle noch nicht wussten, wo sie uns hinführen würde, lächeln sahen, war nur eine weitere Bestätigung dafür.

Trotzdem kam ich mir vor wie in einer Blase. Was würde nun passieren? War die Wunde auf seinem Kopf die einzige Verletzung? Weit gefehlt, wie uns die Ärzte wenig später bestätigten. Zwar hatte Papa keine „lebensbedrohlichen Verletzungen“ erlitten, dafür ganze acht Rippenbrüche, ein gebrochenes Brustbein, Brüche an Hand- und Fußgelenken sowie eine ordentliche Gehirnerschütterung.

Es stellte sich nun auch heraus, dass es sich bei dem Unfall tatsächlich um den im Radio berichteten Geisterfahrerunfall auf der Brennerautobahn gehandelt hatte. Wie genau es dazu gekommen war, konnten zu diesem Zeitpunkt weder die Polizei noch die behandelnden Ärzte und schon gar nicht Papa oder der andere Unfallteilnehmer rekonstruieren.

Was Papa anging, so folgten an jenem Nachmittag noch einige Untersuchungen, Röntgenaufnahmen und ein CT. Wie lange wir währenddessen in dem kühlen Warteraum gesessen hatten, weiß ich heute nicht mehr. Jedenfalls fühlten sich die Stunden wie eine Ewigkeit an. Und wir waren extrem beunruhigt, besorgt um Papa und den Schweregrad seiner Verletzungen. Besorgt um den jungen Mann, der ebenso in den Unfall verwickelt gewesen war. Aber auch beunruhigt darüber, was genau passiert sein konnte. Dass es die kleine Raupe früher aus den Klinikgemäuern geschafft hatte, dafür war ich auch im Nachhinein sehr dankbar. Das kleinste Fleckchen Grün hätte ich diesem unbequemen Raum mit der langsamen Schiebetüre wohl auch vorgezogen.

Andererseits waren Mama und ich sehr froh, immer wieder zu Papa in die Untersuchungsräume gehen zu dürfen. Mit ihm ein paar Worte wechseln zu können. Dabei beteuerte er immer, wir sollten uns keine zu großen Sorgen machen. Ganz wie einst diese zitierte „Löwenmutter“ eben.

Zwischendurch konnten wir jedoch mit Ärzten sprechen, um nachzufragen, welche Untersuchungen als Nächstes folgen würden. Und außerdem erfuhren wir im Erstversorgungsbereich zu unserer Beruhigung, dass der junge Mann nur leichte Verletzungen davongetragen hatte und die Klinik wohl bald werde verlassen können. Auch mit ihm konnten wir, es war mittlerweile Abend, noch einige Worte wechseln, als er in seinem Krankenbett an unseren Wartezimmerstühlen vorbeigeschoben wurde. Zu diesem Zeitpunkt war mein Freund Matthias bereits nach Hause gefahren – schließlich musste auch unser Vierbeiner mit Wasser und Futter versorgt werden.

Meine Schwester Leni, die seit vielen Jahren in Wien lebt, hielten wir inmitten des Trubels immer wieder telefonisch auf dem Laufenden.

Kurz nachdem wir das letzte Gespräch an diesem Abend mit ihr beendet hatten, klingelte Mamas Telefon erneut.

„Mama, eine unbekannte Nummer ruft dich an.“

„Heb du bitte ab!“, sagte sie. Sie wirkte müde. Kein Wunder, schließlich befanden wir uns zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Stunden in der Klinik, mal im Erstversorgungszimmer, mal im Wartebereich der Notaufnahme und nun endlich mit Papa auf der etwas ruhigeren Station.

„Hallo?“, sagte ich ins Telefon.

Eine laute Stimme ertönte: „Frau Constantini, Autobahnpolizei. Ich rufe wegen der Einvernahme an.“

Ich merkte, wie meine Kräfte schwanden und mir die Tragweite dieses Unfalls langsam, aber sicher bewusst wurde.

„Ja. Hallo. Ich bin die Tochter. Meine Mutter kann gerade nicht“, erwiderte ich.

Der Mann von der Exekutive wollte mir einige Fragen zum Unfallhergang stellen.

„Ich bin nicht dabeigewesen“, dachte ich bei mir. „Ich war im Wald. Mit meinem Hund, den Eichhörnchen und der kleinen Raupe.“

Schließlich wollte ich meinen Gesprächspartner nicht zu sehr irritieren: „Ich bin nicht bei dem Unfall dabeigewesen“, sagte ich ins Telefon, „und mein Vater ist derzeit nicht vernehmungsfähig. Ich kann Ihnen zum Unfallhergang nichts sagen.“

Ich wusste, dass nur mein Papa ihm die Informationen zum Unfallhergang geben konnte, und versuchte dies dem Polizisten schließlich zu vermitteln.

Kurz nachdem ich das Gespräch mit dem Polizisten beendet hatte – wir waren dahingehend verblieben, dass wir uns in den nächsten Tagen wegen einer Einvernahme bei der Exekutive melden würden –, kam ein Anruf von Lenis Freund Sebastian: „Johanna, ein Polizist hat mich angerufen und gefragt, ob Didi eine Demenz hat. Ich habe den Kontakt von Irmi weitergegeben. Ich konnte auch keine Antwort darauf geben. Überhaupt ist es mir komisch vorgekommen, dass die mich sowas einfach so fragen.“

Nicht nur die Art, telefonisch Auskünfte einzuholen, sondern auch diese sehr plumpe und zudem unbefugte Nachfrage bei Sebastian empfanden wir als Familie in diesem Moment sehr unpassend. Allerdings war uns klar, dass diese Nachfrage Gerüchten geschuldet war, wie sie schon länger zu Papas Gesundheitszustand kursierten. Den „Didi“ kannte schließlich jeder, und so lag es wohl nicht fern, gleich direkt nachzufragen, auch ohne die genauen Familienverhältnisse des Gesprächspartners vorab zu klären.

Bis heute wissen wir nicht genau, ob es tatsächlich ein Polizist gewesen ist, der Sebastian angerufen hat, und wir wissen auch nicht, wie er ausgerechnet an seine Nummer gekommen war. Möglicherweise durch den Fund von Papas Handy am Unfallort und die darin gespeicherten Daten. Jedenfalls hatte der Anrufer Sebastian nicht nach seinem Bezug zur Familie gefragt. Und Sebastian hatte das einzig Richtige getan, indem er dem Anrufer Mamas Nummer weitergegeben und darum gebeten hatte, sich doch an die primären Angehörigen und demnach auch die einzigen Informationsberechtigten zu wenden.

Was wir zudem in den Tagen nach dem Unfall erfahren konnten war, dass sich in den Stunden nach Bekanntwerden von Papas Verwicklung darin einige Personen ungefragt an die Autobahnpolizei gewandt hatten. Um ihre Vermutungen kundzutun. Vermutungen, die als Gerüchte, wie erwähnt, schon lange kursiert waren. Diese waren zwar kaum persönlich an uns als Familie herangetragen worden, dafür aber umso mehr aus zweiter Hand – und relativ rasch nach Papas Rückzug aus seiner aktiven Karriere – in Umlauf gebracht. Auch ehemalige Freunde fragten sich, ob Papa denn an einer Depression, einer Demenz oder einer Nervenkrankheit leide, ohne sich dabei jemals an uns direkt zu wenden. Unsere aktuellen Freunde waren es, die solche Gerüchte immer wieder an uns weitergaben. Schon vor dem Unfall fragte ich mich oft enttäuscht, warum uns die Menschen denn nicht direkt konfrontierten, sondern statt dessen irgendwelche Vermutungen unreflektiert verbreiteten.

Genau so wie dieser Anrufer, der Polizeibeamter war oder auch nicht. Und viele weitere Menschen sollten in diesen Stunden ihr „ersehntes Fressen“ erhalten. Lange bevor wir in irgendeine Richtung bestätigen oder dementieren konnten, wie es um Papas Gesundheitszustand tatsächlich stand, wurde nämlich die Kunde etwas später an diesem Abend auch medial weiterverbreitet ...

„Sie werden nichts schreiben. Die Redakteure haben versprochen, erst einmal keine Namen zu nennen“, versicherte mir Helli, einer von Papas besten Freunden, noch am selben Abend telefonisch, nachdem er von den ersten Journalisten, noch mehr von den Chefredakteuren, persönlich zum Unfall kontaktiert worden war. Schließlich war niemand Geringerer als der „Ex-Nationaltrainer Didi“ in einen Unfall verwickelt worden. In einen Geisterfahrerunfall noch dazu. Obwohl Helli sich noch darum bemüht hatte, die Schlagzeilen abzuwenden, blieben seine Versuche am Ende doch vergeblich. Beinahe im Sekundentakt folgte in jener ersten Nacht ein Artikel nach dem anderen über den Unfall. Und das fast ausschließlich unter Angabe des vollen Namens und nicht, wie eigentlich bei derartigen Unfallberichten üblich, anonymisiert. Storys rund um den „Didi“ eben. Es waren somit auch jene Veröffentlichungen, die unsere bisherige Normalität für immer verändern würde.

Abseits

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