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KAPITEL 4

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JON

An diesem Abend überließ ich Donovan das Steuer. Ich war viel zu abgelenkt von dem Gedankenkarussell in meinem Kopf, um mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Er fuhr schweigend, ohne Fragen zu stellen, und ließ mich nachdenken. Das konnte mein Donovan gut, mich die Dinge in meinem eigenen Tempo machen lassen. Ich fragte mich oft, ob das ein Naturtalent oder eine erlernte Fähigkeit war.

Im Augenblick drehten sich meine Gedanken buchstäblich im Kreis. Meine Gefühle waren so chaotisch, dass ich Mühe hatte, sie zu ordnen oder auch nur zu erkennen, was überwog. War ich froh, dass ich meinen Vater getroffen hatte? Wütend? Verletzt, weil er mich verlassen hatte?

All das, und noch viel mehr.

In der Hauptsache verwirrte mich, was ich gesehen hatte. Er empfand Schuld, ja, aber auch Freude über unsere Begegnung. Sogar Sehnsucht. Und diese kurze Momentaufnahme von seinen Gefühlen war so sehr das Gegenteil dessen, was ich glaubte, von diesem Mann zu wissen, dass sie mich ratlos zurückließ.

Ich folgte einem Impuls. »Donovan, was war dein Eindruck von ihm?«

Mit hochgezogenen Brauen warf er mir einen Blick zu. »Von deinem Vater?«

»Ja. Du kannst Menschen doch gut einschätzen. Was hältst du von ihm?«

Wenn er meine Frage merkwürdig fand, ließ er es sich nicht anmerken. Donovan wusste genau, dass ich meine Mitmenschen aufgrund meiner Fähigkeiten anders wahrnahm als die meisten Leute. Er bekam häufig Dinge mit, die ich nicht bemerkte, weil mein Blick auf die Meridiane konzentriert war. Er dagegen las die Körpersprache.

»Also auf mich wirkt er überglücklich, seinen Sohn vor sich zu haben. Total unsicher, weil er nicht weiß, wie er auf dich zugehen soll. Ich hatte das Gefühl, er wünscht sich, er könnte die Zeit zurückdrehen. Dass du nicht mit ihm sprechen wolltest, hat ihn getroffen, aber er ist voller Verständnis. So, als ob er gar nicht erwartet hätte, dass du mit ihm reden willst.«

Verdammt. Donovan schätzte das bestimmt richtig ein. Ich sah nur die Schuldgefühle, wenn ich meinen Vater anschaute, denn offen gestanden war es das, was ich sehen wollte. In dieser Sache konnte ich mein Talent gar nicht richtig nutzen. Was für ein schlechter Scherz.

Donovan bremste den Humvee ab, um durch eine Kurve zu fahren, und obwohl er mich nicht anfasste, war seine Stimme wie ein sanftes Streicheln. »Babe, ich weiß, dass du völlig aufgewühlt bist. Ich bin kein Empath, ich weiß nur, was ich sehe, und ich kenne dich. Dieser Mann sehnt sich mit jeder Faser danach, sich mit dir zu versöhnen oder wenigstens mit dir zu sprechen – aber ihm ist auch klar, dass du jetzt noch zu verletzt und zu wütend bist.«

Ich lehnte mich über die Mittelkonsole und legte den Kopf an seine Schulter. Er fuhr mit der freien Hand durch meine Haare, und ich spürte seine Handfläche warm und beruhigend an meinem Hinterkopf. »Du denkst, ich sollte mit ihm reden.«

»Hast du dich nicht immer schon gefragt, warum er gegangen ist?«

Ich versuchte, mich noch enger an ihn zu kuscheln, auch wenn das physisch unmöglich schien. »Oh, das weiß ich nur allzu genau.«

»Ja? Du hast gesagt, dass er dir nicht in die Augen schauen konnte, dass er Angst vor deiner Gabe hatte und vor dem, was du siehst. Und trotzdem ist er heute kein einziges Mal vor dir zurückgescheut. Er ist dir nicht ausgewichen. Er ist sogar mehrmals absichtlich auf dich zugegangen.«

Hatte er recht? Ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, in die andere Richtung zu blicken, nicht hinzusehen, dass ich es nicht beurteilen konnte. Aber ich vertraute Donovans Beobachtungsgabe. Und wenn er recht hatte, warf das eine ganze Menge neuer Fragen auf.

»Babe. Ich weiß nicht, was damals passiert ist. Du weißt es auch nicht. Du kennst nur die Geschichten von deiner Mutter und deiner Schwester, und von Rodger. Unparteiisch sind die alle nicht gerade. Willst du dir nicht lieber deine eigene Meinung bilden und die Wahrheit von ihm erfahren? Und selbst wenn du ihm dann nicht verzeihen kannst, weißt du wenigstens, wie es wirklich war – und kannst vielleicht damit abschließen.«

Das klang tatsächlich nicht so übel. Ich hatte diese schmerzhafte Narbe an meinem Herzen sehr satt. Wenn ich sie heilen konnte oder wenigstens den Schmerz so weit lindern, dass ich ihn ignorieren konnte, wäre das schon ein großes Glück. Allerdings würde ich dazu mit ihm sprechen müssen, und ich war nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Vor meinem inneren Auge entstand gerade das Bild von einem Hamster im Laufrad. Etwas bringt sein Rad plötzlich zum Stillstand, und er kommt nicht weiter und weiß nicht, was er tun soll.

»Jedenfalls denke ich, dass du zumindest deiner Schwester erzählen solltest, dass du ihm begegnet bist«, fügte Donovan noch hinzu.

Wie jetzt? »Natalie?«

»Warum sagst du das so, als wüsstest du nicht, von wem ich rede? Natürlich Natalie. Hat sie nicht das Recht, zu erfahren, dass du ihn getroffen hast?«

Das zwar schon. Aber … »Sie wird Fragen stellen, auf die ich keine Antwort habe.«

»Das klingt nach einem Jon-Problem.«

Ich gab ihm einen Klaps mit der flachen Hand.

»Aua! Ich fahre Auto, Babe.«

»Ja, aber du sollst lieb sein und mir den Rücken stärken«, murrte ich.

»Dazu gehört auch, dass ich dich manchmal zu etwas dränge. Zu deinem eigenen Besten. Wenn du sie nicht heute noch anrufst, schreibe ich ihr gleich selbst.«

Ich nahm mir vor, später etwas Gemeines mit ihm anzustellen. Er hatte einen festen Schlaf, also standen die Chancen für einen nächtlichen Überfall gut.

Die Vorstellung, Natalie von heute zu erzählen, war alles andere als verlockend. Ich zwang mich mehrmals dazu, die Idee etwas näher an mich heranzulassen, aber jedes Mal flohen meine Gedanken schreiend, wie ein nervöser Hund, der gebadet werden soll. War an Donovans Vorschlag etwas dran? Natürlich. Und wenn Natalie zuerst über jemand anderen davon hörte, war mein Schicksal besiegelt: Sie würde mir eigenhändig den Garaus machen.

Im höchsten Maße resigniert, seufzte ich abgrundtief. »Dann gib mir vorher wenigstens was zu essen.«

»Ich würde dir solchen Stress nie auf leeren Magen zumuten. Dafür solltest du mich gut genug kennen!«

Donovan hielt Wort. Während er eincheckte und unser Gepäck aufs Zimmer brachte, wartete ich im Humvee. Es war einfacher, wenn er die ganze Elektronik da drin auf mich vorbereiten konnte, ohne dass ich dabei war. Als er zurückkam, suchten wir uns ein bei Yelp empfohlenes Restaurant und gingen essen.

Leider war das für meinen Geschmack viel zu schnell vorbei. Eine gute Stunde später waren wir zurück im Hotel. Ich rollte mich auf dem breiten Doppelbett zusammen und sah mich genauer um, als ich das sonst tun würde, immer noch auf der Suche nach einem Grund, den Anruf nicht zu tätigen. Ich hatte Angst davor, es Natalie zu erzählen, und verstand nicht genau, warum. Das Gefühl schwebte in meiner Brust wie eine rot glühende Kugel – wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich es für schlimmes Sodbrennen gehalten.

Leider bot das Hotelzimmer wenig Ablenkung. Weiße Bettwäsche, weiße Vorhänge, der dunkelblaue Teppichboden, den so viele Hotels heutzutage bevorzugten, und eine einzelne nichtssagende Landschaftsansicht an der Wand. Mit einem Seufzer nickte ich Donovan zu, wie ein Gefangener seinem Henker. Ich war bereit fürs Schafott.

Donovan, der Schuft, schien sich bei meiner dramatischen Vorstellung ein bisschen zu amüsieren, auch wenn er nichts dazu sagte. Er zog das Handy aus der Tasche, wählte Natalies Nummer, dann stellte er auf Lautsprecher um und legte das Gerät auf ein Kissen vor meiner Nase. Ich blieb reglos auf dem Bett liegen, damit es nicht verrutschte.

Donovan ging ins Bad, vermutlich, um zu duschen, als der Anruf angenommen wurde.

»Hi, Donovan!«, grüßte meine Schwester fröhlich. Der guten Stimmung gab ich noch genau drei Sekunden, dann würde sie schmelzen wie die Polkappen.

»Äh, ich bin dran, nicht Donovan.«

»Oh, hallo, anderer Bruder!«

»Anderer Bruder? Na das ist ja eine nette Begrüßung. Da fühle ich mich doch richtig geliebt.«

»Das solltest du auch«, erwiderte sie aufgeräumt.

Natalie war heute Abend offensichtlich in Hochform. Schade, dass ich das gleich zunichtemachen würde. Ich atmete tief ein, dann versuchte ich, alle Informationen in einen einzigen Atemzug zu pressen. »Nat. Ich muss dir was erzählen, keine Ahnung, ob es gut oder schlecht ist. IchhabeheuteunserenVatergetroffen.«

Totenstille.

Aus der Leitung kamen komische Geräusche, als würde das Handy am anderen Ende hin und her gereicht, dann war Aarons Stimme zu hören: »Donovan? Was hast du gerade gesagt?«

»Aaron, hier ist Jon. Alles okay bei Nat?«

»Sie sieht so aus, als hätte jemand ihr den Strom abgestellt. Sie ist wie versteinert und krächzt vor sich hin. So habe ich sie noch nie erlebt. Was hast du denn gesagt?«

»Ich habe heute unseren Vater getroffen«, wiederholte ich mit einer Grimasse. Hoffentlich hatte sie gerade nichts Gefährliches gemacht. Ich hätte vorher fragen sollen.

Aaron pfiff durch die Zähne. »Ja, dann verstehe ich die Reaktion. Wie, äh, wie war er denn so?«

»Keine Ahnung, wie ich das beantworten soll. Er ist Gerichtsmediziner beim Polizeirevier von Sevierville. Ich bin für einen Fall hier draußen, und er stand auf einmal vor mir. Er ist …« Ich stockte, ratlos, was ich noch hinzufügen sollte.

Natalie fand jetzt ihre Stimme wieder. »Was? Er ist was? Hast du mit ihm gesprochen?«

»Kaum. Also, nur beruflich. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, etwas anderes zu ihm zu sagen. Oder ihn richtig anzusehen.«

Noch eine lange Pause, die mich zusehends nervöser machte. »Du hast ihn nicht angesehen.«

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und rieb meine Nasenwurzel. Mein Kopf tat weh vor lauter Anspannung. Ich war auf dem besten Wege zum Stress-Kopfschmerz.

Als Natalie wieder das Wort ergriff, schwang eine ganze Welt des Mitgefühls in ihrer Stimme mit, aber sie sprach auch in dem Tonfall der älteren Schwester, den sie schon fast mein ganzes Leben lang anschlug. »Jon. Ich kann total verstehen, warum du zögerlich bist, ihm gegenüberzutreten. Ich weiß, wie du dich fühlst, ehrlich. Aber ich brauche Antworten. Das tun wir beide. Und du bist jetzt in seiner Nähe. Du musst hinsehen. Für mich. Du musst mit ihm reden.«

Nach allem, was sie für mich getan hatte, war es ein Ding der Unmöglichkeit, ihr das abzuschlagen. Natalie bat mich so selten um etwas, hatte aber ihr ganzes Leben für mich auf den Kopf gestellt, als ich jünger gewesen war. Das tat sie immer noch gelegentlich, wenn ich Hilfe brauchte. Und sie hatte recht, die Antworten brauchten wir beide. Ich musste dafür etwas tun, worum ich mich liebend gern gedrückt hätte, aber das war leider Teil des Erwachsenendaseins.

»Okay. Morgen. Ich überlege mir etwas. Ich kann aber nicht versprechen, dass ich ihn alles frage, was du wissen möchtest.«

»In Ordnung. Das erwarte ich auch gar nicht. Ich komme und frage ihn selber, wenn es sein muss. Aber schau ihn einfach einmal richtig an, und sag mir, ob du Reue über sein Verschwinden siehst. Ich erinnere mich noch, dass er ein liebevoller Vater war, der für uns da war. Wenn von diesem Mann noch etwas übrig ist, muss ich es wissen.«

Sie hatte mehr Zeit mit unserem Vater gehabt als ich. Darum war das Verlassenwerden für sie auch schlimmer gewesen. Natürlich brauchte sie Antworten, in gewisser Weise sogar mehr als ich. Meine Erinnerung an Caleb Bane war weniger deutlich als die an seine Abwesenheit. »In Ordnung.«

»Und wenn es zu viel für dich ist oder wenn du es mir überlassen willst, sag Bescheid. Gib mir seine Nummer, und ich rufe ihn an«, fuhr sie fort. »Es tut mir leid, dass ich dir das aufbürden muss. Aber ich glaube, dass du es auch für dich selbst tun musst.«

»Das meint Donovan auch.« Ich atmete langsam und lange aus, in dem Versuch, den Stress abzubauen. »Okay. Ich probiere es auf jeden Fall.«

»Mehr verlange ich gar nicht.«

Lug und Spuk

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