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KAPITEL 2

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DONOVAN

Carol folgte Jon ins Haus, während er unseren Kollegen berichtete, was wir wussten. Heute waren nur Sho, Carol und Jim mitgekommen. Es war ungewohnt, Sho ohne Garrett zu sehen – normalerweise fand Garrett immer einen Grund, mit ihm zusammenzuarbeiten. Aber Jim versuchte, so wenig Leute wie möglich an den Wochenenden zu beschäftigen. Sho trug die Kameratasche und das Stativ, und ich half ihm beim Aufbau, damit er sich darauf konzentrieren konnte, allen Anwesenden Schutzhüllen für ihre Handys auszuhändigen.

Ich hörte Cain alle einander vorstellen, dann folgten Begrüßungen und Händeschütteln. Mehr als einer der Kollegen sah zweimal hin, als Dr. Bane vorgestellt wurde. Ich fing ihre Blicke auf und schüttelte diskret den Kopf, mit der stummen Bitte, nicht weiter nachzuhaken. Später würde es zweifellos ein Anlass für Fragen sein, aber für den Moment würden sie es nicht weiter thematisieren.

Nach der Vorstellungsrunde kamen die üblichen Hinweise wegen Jon und der elektronischen Geräte. Sho fasste sich kurz und erwähnte nur das Wichtigste. Hoffentlich würde später niemand leichtsinnig werden.

»Wie wollen Sie vorgehen, Captain?«, fragte Jim, nachdem alle um den Esszimmertisch herum Platz genommen hatten. »Jon braucht sicher nicht mehr als zwei Minuten mit jedem Ihrer Leute. Er muss ihnen eigentlich nur eine einzige Frage stellen. Aber wir können natürlich auch eine komplette Vernehmung vornehmen, die den Aufenthaltsort zur Tatzeit einschließt.«

»Ich brauche Informationen über die Ereignisse und die zeitlichen Abläufe«, bestätigte Cain zufrieden. Er zog das Jackett aus, da es im Haus warm war, und strich sich die schütteren grauen Haare zurück, die von der kühlen Brise leicht zerzaust worden waren. »Gute Idee, Jim. Lassen Sie es uns so machen. Jonathan, einverstanden?«

»Natürlich, Sir.« Jon zeigte mit einladender Geste zum oberen Ende des Tisches. »Waren Sie selbst hier, als es passierte?«

»Nein«, antwortete Cain. »Neil, Caleb und Victoria waren am Tatort. Victoria hat unsere Zeugin ins Krankenhaus begleitet, weil sie ohnmächtig geworden ist. Aber sie ist schon wieder auf dem Weg hierher.«

Jon nickte und wandte sich seinem Vater zu. »Dann will ich mal mit …« Hier stockte er, unsicher, wie er ihn ansprechen sollte. »Lassen Sie uns mit Ihrem Gerichtsmediziner beginnen.«

Caleb Bane war damit einverstanden und nahm am anderen Ende des Tisches Platz, sodass die Kamera ihn einfangen konnte. Er trug immer noch weiße Schutzkleidung, hatte allerdings inzwischen die Handschuhe abgestreift. Hier, bei der gedämpften Beleuchtung, sah er blass aus. Jon und sein Vater wirkten beide angespannt und verlegen. Der Gerichtsmediziner wandte den Blick nicht von seinem Sohn. Er schien jedes Detail in sich aufzunehmen. Jon war bemüht, einen professionellen Eindruck zu machen, aber ich bemerkte die kleinen Anzeichen für sein Unbehagen ganz genau: Er saß auf der Stuhlkante, hatte die Fäuste im Schoß geballt und starrte an Banes rechter Schulter vorbei, anstatt ihn direkt anzuschauen.

»Okay, Jon.« Damit gab Sho ihm das Zeichen, anzufangen.

Jon ratterte seine Lizenznummer herunter, und Caleb Bane nannte seinen Namen, seinen Beruf, das Datum und die Uhrzeit. Ich hielt mich im Hintergrund, an Shos Seite, der die Kamera bediente. Alle verhielten sich still, um keine störenden Hintergrundgeräusche zu verursachen.

Während einer Lesung ließ Jon die betreffende Person normalerweise keinen Moment aus den Augen. Für ihn war es, als würde er ein Buch lesen – er betrachtete die Energiebahnen, eine nach der anderen, als wären es Textzeilen, und seine Augen standen keine Sekunde still. Jetzt aber warf er nur einen kurzen Blick auf die Meridiane seines Vaters – und plötzlich verzog er das Gesicht zu einer Grimasse, bevor er rasch wieder einen gezwungen neutralen Gesichtsausdruck aufsetzte. Er musste etwas wahrgenommen haben, das ihm zusetzte. Statt weiter hinzuschauen, tat er das genaue Gegenteil: Er starrte ins Leere und ignorierte den Rest.

Das war alles andere als gut. Wenn Jon sich schlichtweg weigerte, eine Lesung an Bane vorzunehmen, sah er entweder etwas, das ihm nicht gefiel, oder er war immer noch zu zornig oder zu verletzt, um sich dazu überwinden zu können. Verdammt, ich wollte, ich könnte ihn hier rausziehen.

»Dr. Bane, bitte berichten Sie, was sich heute Morgen abgespielt hat.«

»Ich wurde gegen acht Uhr morgens zum Tatort eines Mordes gerufen«, begann der Gerichtsmediziner ruhig und besonnen. Dabei konnte ich sehen, dass auch er die Hände im Schoß zu Fäusten geballt hatte. »Ich habe meine Ausrüstung ins Einsatzfahrzeug geladen und bin hierhergefahren. Detective Singleton hat mich an der Haustür empfangen und mich in den ersten Stock begleitet. Officer Ware war mit der weinenden Tochter des Opfers im Nebenzimmer und versuchte, sie zu beruhigen. Ich habe mehrere Fotos von dem Opfer und seiner Position auf dem Bett gemacht, dann die Bettdecke zurückgeschlagen. Es waren zwei Wunden zu erkennen, die von einem Messer stammten: ein Einstich unterhalb der Rippen und ein Schnitt durch die Kehle. Den Rücken konnte ich noch nicht untersuchen. Interessanterweise war wenig Blut zu sehen, fast überhaupt keins, um genau zu sein. Keinerlei Blutspritzer, obwohl das bei dem Kehlschnitt eigentlich gar nicht sein kann. Ich habe weitere Fotos gemacht und eine Blutprobe genommen, außerdem eine Probe aus dem Wasserglas neben dem Bett. Das Opfer war ein kräftiger Mann und zu schwer, als dass ich ihn alleine in einen Leichensack hätte umlagern können. Also ging ich noch mal hinunter, um Detective Singleton um Hilfe zu bitten. Als wir wieder oben ankamen, war der Leichnam verschwunden.«

»Wie lange hat es gedauert, Detective Singleton zu holen?«

Bane überlegte kurz. »Eine Minute, vielleicht zwei. Er war draußen, und ich bin auf die Veranda gegangen, um ihn zu rufen.«

»Und es war niemand anders oben außer den beiden Frauen?«

»Das ist richtig. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Aber ganz offensichtlich muss ja doch noch jemand da gewesen sein, der mit der Leiche auf und davon …«

Ein lautes Scheppern hinter mir ließ uns alle zusammenzucken. Es war eindeutig ein metallisches Geräusch, und mein erster Gedanke war, dass etwas von der Ausrüstung heruntergefallen sein musste. Ich drehte mich ruckartig nach dem Geräusch um, nur um festzustellen, dass es etwas völlig anderes gewesen war. Der Besen des Kaminsets war umgefallen und auf den Holzfußboden geknallt. Wir starrten alle darauf, dann wechselten wir verblüffte Blicke.

»Warum ist der denn umgefallen?« Carol hob ihn auf und stellte ihn wieder an seinen Platz. »Es war doch gar niemand in der Nähe.«

»Der Legende zufolge ist in der Familie einmal jemand mit einem Schürhaken umgebracht worden«, bemerkte Cain nebenbei, ohne hochzuschauen. Auf seinem runden Gesicht zeigte sich nur ein kurzes Aufflackern von Neugier.

Diese Information machte mich mehr als nervös. Von mir aus hätte er sich die Bemerkung ruhig sparen können. »Hier?«

»Nein, ich glaube, im Salon«, antwortete Cain geistesabwesend. »Ich habe als Teenager manchmal Führungen hier gemacht. Als Ferienjob. Komisch, wie viel man vergisst mit den Jahren. Damals hatte ich das alles im Kopf. Gut, also, die Unterbrechung soll uns nicht weiter stören. Fahren Sie bitte fort, Mr Bane.«

Ich klopfte unauffällig ein paarmal mit der Hand auf mein Herz, um meiner Nervosität Herr zu werden. Nein, ich mochte dieses Haus ganz und gar nicht. Es würde mir noch einen Herzinfarkt bescheren. Gleichzeitig war ich heilfroh, dass Garrett nicht mitgekommen war. Er hätte hier so viel Munition sammeln können, dass es schon nicht mehr witzig war.

Jon schien die Störung nicht besonders zu irritieren. Er fuhr einfach mit der Vernehmung fort. »Dr. Bane, ist die Treppe, die Sie benutzt haben, Ihres Wissens die einzige Treppe zum Obergeschoss?«

»Nein, es gibt noch eine zweite, die von oben zum früheren Dienstbotentrakt hinunterführt. Heute endet sie direkt in der Küche. Aber sie ist ausgesprochen schmal und wackelig. Ich kann mir kaum vorstellen, wie man einen Leichnam dort hinunterschaffen sollte, erst recht einen, der knapp hundertvierzig Kilo wiegt. Ehrlich gesagt hatte ich auch schon überlegt, wie ich ihn die große Treppe hinunterbekommen sollte.«

»Mir ist bewusst, dass die Frage redundant klingt. Bitte antworten Sie trotzdem. Haben Sie die Leiche entwendet?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wer es getan hat?«

»Keine Ahnung.«

Jon nickte zufrieden. »Danke. Fürs Protokoll: Der Zeuge hat während der gesamten Aussage die reine Wahrheit gesprochen.«

Sho hielt mit erhobenem Daumen die Kamera an. »Das war’s bei Ihnen, Dr. Bane. Der Nächste bitte!«

»Ist ja wie beim Casting«, murmelte Carol halblaut.

Ich verkniff mir das Lachen, als ich zu ihr hinuntersah. »Stimmt.« Im Tonfall eines Werbesprechers sagte ich: »Werden auch Sie ganz einfach zum Leichendieb! Besuchen Sie das nächste Casting in einem Spukhaus in Ihrer Nähe!«

Mit einem Schnauben schlug sie mit dem Handrücken nach mir. »Sei still. Das ist so was von böse! Aber jetzt mal ernsthaft. Wie konnte irgendjemand unbemerkt eine so schwere Leiche auf einer schmalen Treppe an drei Cops vorbei hier rausschmuggeln?«

»Es ist wie in einem dieser klassischen Krimis, in denen die Leiche in einem hermetisch verschlossenen Raum gefunden wird«, antwortete ich nachdenklich. Ich war zwar durchaus in der Lage, ein solches Gewicht wegzutragen, aber ich wollte nicht wie ein Angeber klingen, also sagte ich es nicht laut.

Carol musterte mich von Kopf bis Fuß, dann spekulierte sie: »Ich wette, du könntest etwas so Schweres von A nach B transportieren.«

Zum Glück hatte ich Carol, die solche Sachen für mich aussprach. »Wahrscheinlich schon, ja.«

Natürlich hatte Jon das gehört und gab vom Tisch aus seinen Senf dazu: »Mich hat er schon zweimal Treppen runtergetragen. Ich wiege siebzig Kilo, und das doppelte Gewicht ist auch denkbar. Trotzdem, und ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, ich glaube kaum, dass ein anderer Anwesender das könnte.«

»Keine Sorge«, antwortete Neil Singleton, während er sich auf den Stuhl plumpsen ließ, den sein Kollege gerade frei gemacht hatte. Er hatte inzwischen die Lederjacke ausgezogen, und man konnte sein Schulterhalfter sehen, in dem eine Glock steckte. Er war schlank und fit und hatte auch in der Situation als Befragter eine selbstbewusste körperliche Präsenz. Er setzte sich so selbstverständlich auf den Stuhl, als sei er hier zu Hause. »Das können nicht viele. Was wahrscheinlich bedeutet, dass wir nach zwei Personen fahnden.«

»Oder sogar drei, je nachdem, wie viel Kraft sie haben. Leblose Körper sind schwer zu manövrieren.« Cain sah nicht sonderlich erfreut aus. Es warf ja auch kein besonders gutes Licht auf sein Revier, dass ihnen eine Leiche abhandengekommen war.

»Okay, Detective, Sie sind dran.« Jon lockerte seine Nackenmuskeln, dann bedeutete er Sho, die Kamera wieder einzuschalten. Caleb Bane stand neben dem Tisch und schaute zu, offen fasziniert von seinem Sohn. Jon ignorierte ihn eisern. Der Detective warf Bane interessanterweise einen warnenden Blick zu und machte neben dem Oberschenkel eine Geste, die wohl so etwas bedeuten sollte wie: Bleib cool, Mann. Diese beiden Männer waren auf jeden Fall mindestens gute Freunde.

Jon hatte das Intermezzo entweder komplett übersehen, oder er war weiterhin fest entschlossen, alles, was nichts mit dem Job zu tun hatte, auszublenden. Er ging wieder Lizenznummer, Datum und Zeit durch, dann begann er mit der Befragung. »Detective Singleton, bitte berichten Sie, was sich abgespielt hat.«

»Wir wurden gegen sieben Uhr angerufen. Die Tochter des Opfers, Maggie Witherspoon, hatte den Notruf getätigt. Sobald Officer Ware und ich vor Ort waren und den Tod von Richard Witherspoon festgestellt hatten, rief ich unseren Gerichtsmediziner dazu. Er kam gegen halb neun an. Officer Ware saß bei der Tochter, um ihre Aussage aufzunehmen, und ich bin nach draußen gegangen, um nach Anzeichen für gewaltsames Eindringen zu suchen. Etwa um Viertel vor neun rief mich Dr. Bane zu Hilfe, um die Leiche zu bewegen. Ich habe ihn nach oben begleitet, nur um festzustellen, dass der Leichnam fehlte.«

Jon nickte zu dem sachlichen Bericht. »Ich verstehe. Gab es irgendwelche Hinweise darauf, dass sich noch weitere Personen auf dem Gelände aufhielten?«

»Nein, aber ich war auch noch nicht um das ganze Haus gegangen, als ich gerufen wurde.«

»Gab es Einbruchsspuren?«

»Das wäre offen gestanden gar nicht notwendig gewesen. Ich habe drei Fenster und eine Seitentür vorgefunden, die nicht verschlossen waren.«

Autsch. Das war leichtsinnig. Andererseits wusste ich sehr wohl, dass die Leute auf dem Land ihre Türen oft unverschlossen ließen. Die Kriminalitätsrate war so niedrig, dass Abschließen gar nicht notwendig war.

»Detective, ich muss Sie das fragen: Haben Sie den Leichnam fortgebracht?«

»Nein. Ich weiß auch nicht, wer es getan hat, aber Sie können gewiss sein, dass ich es herausbekommen werde.« Singleton hatte einen Glanz in den Augen, der für den Mörder nichts Gutes verhieß.

»Danke sehr.« Jon schien erleichtert zu sein, als er in die Kamera sprach: »Der Zeuge hat während der ganzen Befragung die Wahrheit gesagt. Detective, Sie sind entlastet.«

»Danke.«

Cain räusperte sich. »Mr Bane, ich habe es mir überlegt. Befragen Sie mich am besten auch gleich. Ich möchte nicht, dass später jemand moniert, dass ich nicht vernommen wurde. Bringen wir es hinter uns.«

»Natürlich, Captain. Nehmen Sie Platz.«

Es war zwar fast überflüssig. Wir wussten alle, dass der Captain nichts damit zu tun hatte. Er hatte aber recht – die Interne Revision konnte ihm später einen Strick daraus drehen, falls sie den Fall aufrollten. Jon wiederholte ein weiteres Mal Lizenznummer, Datum und Uhrzeit, als hätte er das nicht schon mehrmals getan.

»Captain, waren Sie hier, bevor Sie von Detective Singleton angerufen wurden?«

»Nein.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo sich der verschwundene Leichnam befindet?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wer die Leiche entwendet haben könnte?«

»Ich wollte, ich wüsste es, und nein.«

Jon lächelte leicht und bestätigte dann: »Der Zeuge hat die volle Wahrheit gesagt. Sie sind entlastet, Sir.«

»Vielen Dank.« Cain stand nicht auf, sondern ließ sich bequemer auf dem Stuhl zurücksinken.

Da jetzt die beiden wichtigsten Befragungen hinter uns lagen, würde sich sicher auch mein Freund etwas entspannen können. Officer Ware war noch nicht zurück, und ich wandte mich an Carol: »Könntest du vielleicht in der Zwischenzeit nach der Leiche Ausschau halten?«

»Warum nicht?« Sie warf den beiden Chefs einen kurzen Blick zu, um ihr Einverständnis einzuholen. »Je früher ich sie finde, desto besser. Ihre Leute sind ja jetzt weitgehend entlastet.«

Cain nickte zustimmend. »Ja, ja, legen Sie los. Was brauchen Sie?«

»Kamera, Sie als Zeugen und etwas vom Leichnam. Dr. Bane …«

»Caleb, bitte«, bat er mit einem charmanten Lächeln, das mir sehr vertraut war. Offensichtlich war es erblich.

Carol entspannte sich zusehends und erwiderte das Lächeln. »Caleb. Sie sagten vorhin, dass Sie eine Blutprobe genommen haben. Haben Sie die noch hier?«

»Ja, natürlich. Damit können Sie also arbeiten? Ich hole sie Ihnen.« Er lief sofort aus dem Haus und zum Einsatzfahrzeug. Dem hoffentlich abgeschlossenen Einsatzfahrzeug. Diesem Mörder war es ohne Weiteres zuzutrauen, dass er sich auch noch mit den Proben davonmachte.

Carol zog eine Karte des Countys aus der Handtasche und breitete sie auf dem Tisch aus. Sie musste unterwegs an einer Tankstelle oder sonst wo angehalten haben, um sie zu besorgen. Gut, sie hatte schließlich gewusst, dass eine Leiche vermisst wurde. Natürlich hatte sie schon eine entsprechende Karte besorgt, ohne konnte sie nun mal nicht arbeiten.

Jon machte ihr Platz und manövrierte sich wieder neben mich. Der Tisch füllte fast den kompletten Raum aus, sodass es einem Geschicklichkeitsspiel glich, sich an den anderen vorbeizuquetschen. Dabei erklärte er Detective Singleton: »Sie ist eine der Besten, wenn es darum geht, verschwundene Objekte aufzuspüren. Sie braucht ein bisschen Zeit, um ihre Utensilien aufzubauen, aber danach sollte es nicht länger als ein paar Minuten dauern, dann haben wir den Ort. Carol kann, auch wenn sie einen schlechten Tag hat, Positionen auf knapp fünfzig Meter genau bestimmen – und sogar noch genauer, wenn sie in Hochform ist.«

»Sie meinen, ich sollte mich darauf einstellen, dass es gleich schnell gehen muss.« Singleton griff schon nach seiner Jacke und schlüpfte hinein. Mit einem wachen Blick aus seinen grauen Augen beobachtete er Carols Vorbereitungen.

»Ja, das sollten wir alle.«

Der Gerichtsmediziner kam zurück und reichte Carol ein kleines Fläschchen mit weißem Schraubdeckel. »Sie müssen es nicht öffnen, oder?«

»Nein, es reicht, wenn ich es hierhabe. Danke schön. Sind alle bereit?«

Nachdem alle das bestätigt hatten, ratterte sie Datum und Lizenznummer herunter, bevor sie die Lesung begann. Mit der Blutprobe in der Hand konzentrierte sie ihre Energie. Das hellblaue Licht, das aus ihrer Hand herausleuchtete, breitete sich zunächst auf der ganzen Karte aus, dann verdichtete es sich und bündelte sich schließlich an einem Punkt. Mit geschürzten Lippen erklärte sie: »Der Leichnam ist noch hier auf dem Gelände.«

»Können Sie das genauer eingrenzen?«, fragte Jim hoffnungsvoll.

Ohne den Blick von der Karte zu lösen, nickte Carol. »Ich glaube schon. Ja, er liegt irgendwo dort hinten … hier. In diesem Umkreis. Was ist denn dort?«

Cain sah ihr mit zusammengekniffenen Augen über die Schulter. »Verdammt, ohne meine Brille kann ich kaum etwas erkennen. Ich glaube, das müsste der Friedhof sein. Okay, Leute, lasst uns das Gelände dahinten absuchen. Beeilt euch. Es sind zwar schon ein paar Stunden vergangen, aber vielleicht können wir den Kerl doch noch heute schnappen. Kann bitte jemand hierbleiben und auf die Ausrüstung aufpassen, nur für alle Fälle?«

»Sho und ich machen das«, sagte Jim.

»Danke. Wir sind bald zurück.«

Ich folgte den anderen nach draußen, und wir fielen mehr oder weniger gleichzeitig in Trab. Wer eine Waffe hatte, zog sie. Ich hielt meine beim Laufen mit beiden Händen auf den Boden gerichtet. Es waren fünf Stunden vergangen, also war der Täter vermutlich über alle Berge. Aber Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.

Der hintere Bereich des Geländes passte sich in die für diese Gegend typische Landschaft ein: sanfte, grasbewachsene Hügel mit kleinen Gehölzen hier und da. Zu dieser Jahreszeit, wenn es auf den Winter zuging, war die Landschaft in Herbstfarben getaucht, und das Laub leuchtete in verschiedenen Rot-, Gold- und Orangetönen. Es hätte wirklich malerisch sein können, wenn wir nicht gerade auf der Suche nach einer Leiche gewesen wären. Die Luft war kühl, und ich wünschte geistesabwesend, ich hätte eine wärmere Jacke angezogen.

»Es riecht nach Räucherspeck«, bemerkte Dr. Bane plötzlich misstrauisch, mit geweiteten Nasenflügeln wie ein Spürhund. Seine kurzen blonden Haare wurden vom Wind zerzaust, als er den Kopf suchend nach rechts und links wandte. »Oh Gott, das kann nichts Gutes bedeuten.«

Ich begriff sofort, was er meinte. Verbrannte Leichen rochen sehr ähnlich wie gebratener Speck. »Verdammt. Er versucht nicht, Beweismittel zu vergraben – er versucht, sie zu verbrennen. Sieht jemand irgendwo Rauch?«

»Nein, aber ich rieche welchen. Es kann nicht weit weg sein.« Cain lief schneller, die Waffe nach wie vor gezogen und auf den Boden gerichtet. Für einen Mann mit gut vierzig Kilo Übergewicht war er erstaunlich schnell, wenn es sein musste.

Wir umrundeten eine kleine Ansammlung von Bäumen, und die Frage hatte sich erledigt. Nicht nur der Rauch, der bisher von den Bäumen verdeckt worden war, kam in Sicht, sondern auch ein lustig brennendes Lagerfeuer, knappe hundert Meter vor uns. Eine dunkle Rauchsäule stieg in den klaren blauen Himmel auf. Es sah so aus, als läge die Leiche auf einem Haufen Holz. Wie es hergekommen war, war auch kein Geheimnis: Neben der Feuerstelle stand ein verlassener Pick-up, die Ladefläche voller Holzscheite.

»Oh, verflucht noch mal!«, stieß Bane hervor. Er rannte los, stürzte sich auf den Wagen und fischte eine Axt heraus. Damit sprang er zum Feuer, stieß sich dabei fast die Hüfte an der Motorhaube und schob die Axt unter den schon halb verbrannten Oberkörper. Er schaffte es aber nicht, den Leichnam von dem brennenden Holzstapel herunterzuziehen, und mit einem ekelerregenden Knacken rutschte die Leiche wieder ins Feuer zurück.

»Oh Gott.« Jon war ganz grün im Gesicht. Er stolperte zur Seite und atmete ein paarmal tief ein und aus. Carol schien es nicht viel besser zu gehen.

Es war kein schöner Anblick, so ein verbrannter Körper. Leider hatte ich bei meinen Einsätzen in Afghanistan und im Irak schon einige Male solche Dinge sehen müssen. Ich griff mir ein langes Holzscheit vom Pick-up und trat neben Bane. »Sie die Hüfte, ich die Schulter.«

»Ich hab die Beine«, bellte der Gerichtsmediziner. »Schieben Sie die Spitze drunter, und wir rollen ihn auf drei. Eins, zwei, drei!«

Widerstrebend bewegte sich die Leiche, allerdings brachen dabei ein paar Finger ab. Sie war ziemlich stark verbrannt, was darauf hindeutete, dass sie schon eine ganze Weile vor sich hin geschwelt hatte. Glücklicherweise hatte der Täter nicht genug Holz auf das Feuer gelegt, also war sie nicht völlig zerstört worden. Es rauchte und qualmte, und die Kleidungsreste brannten und glühten noch an den Rändern. Aber wir konnten den Körper nicht noch einmal bewegen – dafür war er nicht mehr stabil genug.

Dr. Bane starrte erzürnt auf den Leichnam hinunter. Wäre der Mörder hier gewesen, hätte er zweifellos versucht, ihm den Hals umzudrehen. »Das Feuer hat bestimmt nicht sämtliche Indizien vernichtet, aber es verkompliziert die Sache auf jeden Fall erheblich. Verdammt. Danke, Mr Havili. Ich glaube nicht, dass einer von den anderen mir hätte helfen können, ohne sich zu übergeben.«

»Apropos …« Ich sah mich um, und da stand Jon tatsächlich schon vornübergebeugt, gegen den Brechreiz kämpfend. »Ich bringe ihn besser hier weg.«

»Ja, gehen Sie ruhig«, sagte Caleb Bane mit besorgtem Blick auf seinen Sohn.

Ich ließ das Holzscheit fallen, umrundete die Feuerstelle und ging zu Jon. Carol stützte sich an seiner Schulter ab. Sie war auch grün im Gesicht und machte Würgegeräusche. Ich hakte jeden auf einer Seite unter und schob die beiden in Richtung Haus zurück. »Wir gehen. Haltet euch an mir fest.«

Carol lehnte sich zittrig und schwer atmend an mich. »Eigentlich dürfte Jon kein Problem mit verstümmelten Leichen haben, als Sohn von zwei Gerichtsmedizinern.«

»Sie soll nicht ›verstümmelt‹ sagen«, protestierte Jon stöhnend. »Donovan. Mach, dass sie sich benimmt.«

»Als ob ich diese Frau unter Kontrolle hätte. Außerdem zählt Lauren nicht, Carol. Sie muss nie Leute aufschneiden oder sie rösten, um ihren Job zu machen.«

»Trotzdem«, presste sie hervor. »Oh mein Gott, ich werde ganz lange keinen Bacon mehr essen.«

Die beiden stützten sich auf mich, während wir uns dem Haus näherten. Unterwegs hielt ich Ausschau nach Fremden auf dem Gelände. Vermutlich war der Täter schon längst weg, aber ich blieb trotzdem wachsam. Mein sechster Sinn schickte mir ein kribbliges Gefühl durch den Körper, und ich fühlte mich beobachtet. Ich ließ den Blick schweifen, konnte aber nichts entdecken, was das Phänomen erklärt hätte – Moment. War das nicht ein Schatten bei den Bäumen gewesen? Waren das nicht menschliche Umrisse?

Ich verlangsamte meine Schritte und schaute mir die Stelle genauer an. Meine Nackenhaare stellten sich auf, denn ich war ehrlich gesagt nicht sicher, was ich da wahrgenommen hatte, Mensch oder Geist.

Jon hob den Kopf und blickte auch hin. »Was denn?«

»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«

»Etwas oder jemanden?«, hakte Carol nach und befreite sich aus meiner Umarmung.

»Das ist die Frage. Lasst uns in Deckung gehen.« Mir war nicht wohl dabei, ungeschützt im Freien zu sein, wenn uns etwas auf den Fersen war. Hier gab es nichts, hinter dem ich die beiden hätte verstecken können. Wir gingen schneller, und ich blieb wachsam. Aber ich konnte nichts weiter erkennen, was darauf hätte schließen lassen, dass wir einen Beobachter hatten. Wahrscheinlich setzte mir dieser Ort einfach zu.

An der Hintertür angekommen, schob ich die beiden ins Haus, platzierte sie auf Stühlen und drückte jedem eine Wasserflasche in die Hand, die ich aus einem offenen Regal nahm. Beide tranken in tiefen Zügen, in dem verständlichen Versuch, den ekligen Geruch wegzuspülen – ein sinnloses Unterfangen, wie ich sehr wohl wusste.

Nachdem Carol ihre Flasche zur Hälfte geleert hatte, schaute sie Jon von der Seite an. »Also, dieser Dr. Bane ist …«

»Mein Vater, ja.« Jon ließ seine Flasche lose zwischen den Knien baumeln und starrte blind die Küchenschränke an. »Und nein, ich hatte keine Ahnung, dass er hier sein würde. Ich habe ihn seit … Gott … achtzehn Jahren schon … nicht mehr gesehen. Und es hat auch keiner mehr von ihm gehört in all der Zeit.«

Ich ging vor ihm in die Hocke und legte meine Hände auf seine. »Du hast vorhin irgendetwas auf seinen Meridianen entdeckt.«

Jon musterte mich aus diesen klaren blauen Augen. Manchmal war es, als könnte er geradewegs in mich hineinblicken. Und dann wieder kam es vor, dass er am liebsten gar nichts sehen wollte. Gerade schien er zwischen diesen beiden Impulsen hin- und hergerissen zu sein.

Er atmete tief durch, dann senkte er zustimmend den Kopf. »Ich habe einiges entdeckt. Zu viel. Jetzt will ich nicht mehr hinschauen. Und auch nichts mehr sehen.«

Wenn es um einen Kriminellen oder einen Zeugen gegangen wäre, hätte Jon es sicher leichter damit gehabt, die Energiebahnen zu deuten. Er hätte die Informationen einfach herunterbeten können, wie er es sonst immer tat. Es waren seine eigenen Gefühle, die ihn gerade betriebsblind zu machen schienen. Er war zu gekränkt, um zu verarbeiten, was er wahrnahm, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ich ihn nicht unter Druck setzen durfte. Der Trick war nicht, den Druck zu erhöhen, sondern die Barriere abzubauen. »Was willst du machen, Babe? Wenn du lieber wieder fahren möchtest, bringe ich dich nach Hause.«

Noch bevor ich den Satz fertig gesprochen hatte, schüttelte Jon den Kopf. »Nein. Nein … ich muss … ich weiß auch nicht.«

Mit der Antwort hatte ich schon gerechnet. »Dann bleiben wir noch ein bisschen. Du musst sowieso noch die letzte Beamtin vernehmen. Dein Dad muss die Leiche bergen. Vielleicht willst du ja später mit ihm reden, wenn das Berufliche erledigt ist.«

»Okay.«

Carol, die wahrscheinlich spürte, dass Jon sich kurz sammeln musste, erhob sich. »Ich gehe den Tisch aufräumen.«

Sie verschwand ins Esszimmer, und ich setzte mich auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Jon lehnte sich sofort an mich, und ich nahm ihn in die Arme und hielt ihn einfach fest. Ich sagte nichts, und das musste ich auch gar nicht. Manchmal brauchte auch der stärkste Mann einfach einen Moment.

Lug und Spuk

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