Читать книгу Lug und Spuk - Johanna Hofer von Lobenstein, Aj Sherwood - Страница 11
KAPITEL 5
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Jim hatte uns geschrieben, dass noch eine weitere Lesung gemacht werden musste, bevor wir nach Nashville zurückkehren konnten. Keiner von uns hatte mehr als eine Garnitur Wechselsachen dabei, also mussten wir sowieso zurück, wenn auch nur kurz. Ich hatte schlecht geschlafen. Hotelbetten waren mir fast immer zu hart, daher war das Aufstehen eine Erleichterung. Aber selbst wenn das Bett im früheren Leben kein Folterwerkzeug gewesen wäre, hätte ich aus Sorge um Jon vermutlich sowieso keine Ruhe gefunden. Übernächtigt duschten wir, rasierten uns, machten uns fertig und packten unsere Sachen.
Nach einigem Hin und Her trafen wir uns auf dem Parkplatz. Jim und Carol hatten schon zusammengeräumt und waren aufgebrochen, aber Sho war noch dabei, seine Ausrüstung ordentlich im Kofferraum des Humvees zu verstauen.
Jon hielt vorsichtig einen Meter Abstand von den Geräten und fragte: »Es macht dir doch nichts aus, wenn wir kurz am Krankenhaus anhalten, oder? Die Vernehmung der Tochter dauert bestimmt nicht länger als dreißig Minuten.«
»Kein Problem«, stimmte er bereitwillig zu. »Wenn ihr mich dafür mit zurück nach Nashville nehmt und mich vor der Agentur bei meinem Auto absetzt.« Dann neigte er sich näher zu Jon. »Und, wie ist es so, ihn nach der langen Zeit wiederzusehen?«
»Eine emotionale Achterbahn, würde ich sagen«, gab Jon unumwunden zu. »Ich habe noch gar nicht richtig mit ihm gesprochen. Aber das muss ich.«
Sho nickte verständnisvoll.
Da öffentliche Parkplätze neuerdings anscheinend der Ort für offene Gespräche waren, schaute Jon Sho ernst an und sagte: »Du hast also in letzter Zeit ein paarmal Roys Wagen gesehen.«
Sho erwiderte den Blick unglücklich, die Arme defensiv vor der Brust verschränkt. »Ich habe jedes Mal ein Foto gemacht und ihn angezeigt.«
Das beruhigte mich. »Gut so. Und?«
»Die Cops haben ihn weder an der bekannten Adresse noch bei seinem letzten Arbeitgeber angetroffen.« Sho rieb sich die Stirn und verzog das Gesicht. »Er ist nicht zu greifen. Aber da er nichts Schlimmes angestellt hat, hat er bei ihnen nur eine niedrige Priorität. Wenn sie ihn erwischen, prima. Doch dass er mich möglicherweise stalkt, reicht nicht für irgendwelche polizeilichen Aktionen aus. Ihr wisst ja, wie beschäftigt Polizisten sind. Sie sind immer völlig überarbeitet.«
Das wusste ich in der Tat. Es war eine gute Frage, wie viele Verbrechen einfach wegen der Überlastung der Beamten ungelöst blieben. Ihnen fehlte schlicht die Zeit und Energie dafür, alle Hinweise und Verdächtigen ordnungsgemäß zu überprüfen. Man konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Sie waren schließlich auch nur Menschen. Genau wie alle anderen Menschen mussten auch sie sich mal ausruhen. Aber unter diesen Umständen, wenn ein Freund von mir potenziell in Gefahr schwebte, ärgerte es mich doch. »Verdammt.«
Auf Shos Wangen breitete sich eine leichte Röte aus, und er senkte den Blick. »Garrett holt mich jetzt immer morgens ab und fährt mich abends nach Hause. Nur für alle Fälle. Er sagt, es ist besser, dem Typ keine Gelegenheit zu geben, mich zu überrumpeln.«
Sho war zwar an der Waffe ausgebildet, wie wir alle, aber sein eigentlicher Gefechtsbereich waren nun mal Computer und IT. Ob er es im Ernstfall wirklich schaffen würde, zu schießen, war fraglich. Dass Garrett sich schon eingeschaltet hatte, ließ mich ruhiger atmen. »Okay. Gut. Wir könnten Carol bitten, ihn ausfindig zu machen …«
Er schüttelte den Kopf. »Das hätte ich schon längst beantragt. Aber ich brauche mindestens zwei Personen, um ihn aufzuspüren, und sie müsste mehrere Lesungen vornehmen. Ihr wisst genau, wie anstrengend das für sie ist. Mehr als drei pro Tag kann sie nicht schaffen, und in letzter Zeit wissen wir doch kaum, wo uns der Kopf steht.«
Jon stieß geräuschvoll die Luft aus. »Ja. Das stimmt leider. Okay. Dann müssen wir einfach ständig Ausschau nach ihm halten. Wir finden bestimmt noch Zeit dafür, das aufzuklären. Nach diesem Fall vielleicht. Und das nächste Mal, wenn du den Wagen siehst, rufst du uns an. Donovan hilft Garrett, den Typ ans Licht zu zerren, und wir schleppen ihn persönlich aufs Revier.«
Sho nickte, einen Ausdruck der Vorfreude auf dem Gesicht. »Mach ich. Danke.«
Detective Singleton fuhr in einem roten Pick-up vor und parkte neben uns. Er stieg aus und winkte. »Morgen. Alle startbereit?«
»Na klar.« Jon zog die Autoschlüssel hervor und ging zur Fahrerseite.
Singleton setzte sich vorn neben Jon, um uns zu lotsen. Keiner von uns wusste, wo das Krankenhaus lag. Ich hätte zwar das GPS nutzen können, aber es war einfacher, Singletons Anweisungen zu folgen. Er sah sich gründlich im Fahrzeug um, während er sich anschnallte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, wurde sein inneres Kind gerade etwas neidisch. Diese Reaktion war bei Männern nichts Ungewöhnliches – viele wünschten sich insgeheim auch ein so cooles Spielzeug.
»Wo geht’s lang?«, fragte Jon, als Sho und ich auf dem Rücksitz Platz genommen hatten.
»Nach rechts. Wir müssen zur 66 und dann nach links.«
Jon ließ den Motor an und fuhr los.
Singleton drehte sich halb um, sodass er uns alle sehen konnte. »Ich habe noch nicht oft mit Paranormalen gearbeitet, und mit einer ganzen Agentur schon gar nicht. Ich hätte da eine Frage: Sind Sie eigentlich immer nur auf Stippvisite? Rein, Beweise finden, Vernehmungen durchführen und wieder raus? Oder übernimmt die Agentur auch komplette Fälle?«
»Wir machen beides«, antwortete Sho. »Meistens ist es Ersteres, aber es kommt auch vor, dass wir einen Fall von Anfang bis Ende betreuen. Das passiert dann, wenn die Polizei nicht genügend Spuren für die Ermittlung hat. Und manchmal fehlt auch Manpower, und sie borgen uns aus. Warum fragen Sie, Detective?«
»Nennen Sie mich bitte Neil. Bei uns ist es gerade eine Mischung aus beidem.« Sein Blick hing an Jon, und obwohl ich ihm glaubte, spürte ich, dass er noch ein unterschwelliges weiteres Motiv hatte. »Das halbe Revier ist wegen Grippe krankgeschrieben. Und die einzigen Spuren, die wir hatten, sind gerade in Rauch aufgegangen. Ich bin nicht sicher, wie viel Caleb aus den Überresten noch wird ersehen können.«
Das schien mir kein großes Problem zu sein, außer dass wir nicht für mehr als eine Übernachtung gepackt hatten. »Ich hätte nichts dagegen, einzuspringen. Wir müssten nur für einen längeren Aufenthalt packen und ein Hotel finden. Allerdings weiß ich nicht, wie lange wir tatsächlich abkömmlich wären. Wir werden auch in Nashville noch gebraucht.«
»Und wenn wir Sie offiziell anfordern würden?«
»Im Prinzip geht das, aber das müssten Sie mit Jim ausmachen. Er ist für unsere Einsatzpläne zuständig.«
Ich warf Jon einen Seitenblick zu, konnte aber seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Wie er das wohl fand? Immerhin protestierte er nicht.
»Dann frage ich mal beim Captain nach, ob er sich für die Idee erwärmen kann.« Singleton lehnte sich zurück. »Ich gebe zu, im Moment stehen wir vor einem Rätsel. Es gibt keinen einzigen Verdächtigen in diesem Fall. Ich glaube nicht, dass es die Tochter war.«
»Sie erscheint Ihnen überhaupt nicht verdächtig?«
»Nein. Sie war ehrlich bestürzt über seinen Tod. Hat kaum zusammenhängende Sätze herausbekommen, weil sie so weinen musste. Außerdem hätte sie einen Komplizen gebraucht, und sie ist ganz alleine hier. Zumindest habe ich keine Spur gefunden, dass jemand ihr gefolgt ist. Ehrlich gesagt fehlt mir auch das Motiv. Vielleicht die Erbschaft, aber ich weiß noch nicht, wie vermögend Richard Witherspoon eigentlich war. Wir sind noch nicht dazu gekommen, seine Finanzen zu prüfen. Jon, Sie würden es erkennen, wenn die Tochter etwas damit zu tun hätte, richtig?«
»Ja«, bestätigte er. Er verlangsamte das Tempo und bog auf den zweispurigen Highway ab.
»Wie funktioniert das denn genau? Was sehen Sie, wenn Sie einen Verdächtigen vernehmen?«
»Es zeigt sich in der Aura, insbesondere auf den Energiebahnen«, erklärte Jon. »Jeder Mensch hat eine Aura, das wissen Sie ja bestimmt. So, und ich kann die Meridiane lesen, aus denen sich die Aura zusammensetzt. Es ist nicht nur eine hübsche Energie, aus der die Seele besteht, oder was für pseudopsychologische Erklärungen Sie bisher so gehört haben. Die Meridiane sind direkt mit der lebenden Energie des Körpers und seiner physischen Struktur verbunden. So ähnlich wie die Chakrapunkte, nur etwas variabler. Diese Bahnen kann ich lesen. Bestimmte Farben in Verbindung mit bestimmten Bereichen des Körpers bedeuten bestimmte Dinge. Die meisten Emotionen, die wir erleben, sind flüchtig, sogar trivial. Aber Erlebnisse, die sich auf die Psyche auswirken, begleiten uns unser ganzes weiteres Leben lang. Ich sehe zum Beispiel, dass Sie Ende fünfzig sind, dass Sie zeit Ihres Lebens in Tennessee gelebt haben und dass Sie bisexuell sind. Ich kann außerdem sehen, dass Sie eine stabile Beziehung führen, aber noch nicht sehr lange, etwa seit fünf Jahren.«
Singleton machte ein Geräusch, als hätte er sich verschluckt. »Du meine Güte. Das ist ja …«
Ich beobachtete ihn scharf, um sicherzugehen, dass er das ohne Probleme hinnahm. Es waren nicht alle so locker wie ich. Er schien mehr als überrascht, aber auch fasziniert.
Jon fühlte sich wahrscheinlich etwas schuldig, denn er zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Es ist nicht einfach, emotionale Geheimnisse vor mir zu haben.«
Singleton entspannte sich und lachte. »Damit hat Ihre bessere Hälfte bestimmt viel Spaß.«
Ich beugte mich vor und sprach ihn direkt an: »Ich schaffe es eigentlich besser, als man denkt. Aber ich muss mir ziemliche Mühe damit geben.«
Singleton fuhr herum. »Wie bitte? Sie beide sind ein Paar? Nicht nur Medium und Anker?«
»Ja, das sind wir.« Ich machte mir keine Sorgen über seine Reaktion, da er ja bisexuell war. Allerdings war er so überrascht, dass es mir so vorkam, als steckte da noch mehr dahinter. Was, blieb unklar. »Das überrascht Sie?«
»Äh«, antwortete er nicht sonderlich intelligent. Dann schluckte er und fuhr fort: »Caleb dachte immer, seine ganze Familie sei homophob.«
Ich schnaubte. »Im Gegenteil! Alle drei Frauen haben mich geradezu genötigt, mich um Jon zu bemühen.«
»Das hat mich anfangs fast schon dazu gebracht, mich zu sträuben«, warf Jon beiläufig ein, mit einem süßen Lächeln über die Schulter. »Ein Glück, dass du so unwiderstehlich bist, Babe.«
»Ja, ja, schieb nur alles auf mich. Neil, Sie sollten allerdings wissen, dass nicht alle Leute so entspannt mit Jons Gabe umgehen. Es kommt regelmäßig vor, dass ihm deswegen jemand nach dem Leben trachtet. Personenschutz für ihn war mit ein Grund, warum ich überhaupt bei der Psy angefangen habe.«
Jon brummte unwillig. »Das sollst du ihm doch nicht erzählen! Das macht immer den Eindruck, als wäre ich ein Fräulein in Not.«
»Na logisch werde ich ihm das erzählen, denn er ist Polizeibeamter, und hier läuft ein Mörder frei herum«, gab ich sofort zurück. »Du solltest deine Sicherheit nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Donovan? Wie oft passiert es denn, dass er in die Verlegenheit kommt, einen Bodyguard zu brauchen?«, erkundigte sich der Detective freundlich.
»Einmal im Monat, im Schnitt«, antwortete ich missmutig. »Mal abgesehen davon, was manchmal während der Vernehmungen passiert.«
»Oh, wow. Gut zu wissen. Dann halte ich also die Augen offen.«
Jon seufzte resigniert. Es war ja gar nicht so, dass meine Ängste unbegründet waren. Leider geriet er übermäßig oft in Gefahr. Hier fühlte er sich wahrscheinlich sicherer, weil ihn niemand kannte. Wir waren vier Stunden von zu Hause entfernt, wo die Verbrecher wussten, wer wir waren. Hier draußen war Jon vermutlich tatsächlich sicherer als überall sonst, selbst wenn sich ein Mörder hier herumtrieb. Aber deswegen in meiner Wachsamkeit nachlassen? Keine Chance.
Während der Fahrt auf der kurvenreichen Straße versuchte ich, mich zu orientieren. Das hier sollte der Weg zum Krankenhaus sein? Es war nicht mehr als eine zweispurige Straße, die an mehreren Langzeitcampingplätzen und ärmeren Wohngegenden vorbeiführte. Hier draußen gab es nichts außer Bäumen und baufälligen Gebäuden.
Shos Handy klingelte, und er nahm mit einem fröhlichen »Was gibt’s, Boss?« ab. »Ach ja? Darüber haben wir auch gerade gesprochen. Ja klar, von uns aus gerne. Und … könnten wir vielleicht Garrett mit dazuholen?« Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. »Ja, okay. Dann ab Montag. Wiederhören.«
»Biegen Sie nach rechts auf die Piedmont Road ab«, dirigierte Singleton, dann drehte er sich wieder zu uns um. »Und? Was hat Ihr Chef gesagt? Stoßen Sie zu uns?«
»Ja, Ihr Captain hat uns offiziell angefordert. Ich glaube, er hatte den gleichen Gedanken wie Sie – dass Sie unterbesetzt sind und ein bisschen Unterstützung brauchen könnten. Unser Kollege Garrett wird auch noch dazukommen. Wir holen unsere Sachen für einen längeren Aufenthalt und sind am Sonntagabend wieder da, dann können wir Montag früh loslegen.«
Der Detective wirkte erleichtert. »Das ist ja toll. Ist Garrett auch ein Medium?«
»Nein, Kriminalberater«, erläuterte ich. »Wie ich. Ein bisschen Muskeln und Personenschutz für unsere Übersinnlichen.«
»Nur etwa halb so groß wie du«, scherzte Jon.
Ich schnaubte durch die Nase. »Das macht er durch sein Mundwerk mehr als wett.«
Niemand widersprach, und Jon zuckte die Achseln. »Also gut. Lass uns die Zeugin vernehmen. Hoffentlich bekommen wir dadurch ein paar neue Hinweise.«
* * *
Das Gespräch mit Maggie Witherspoon brachte uns leider überhaupt nicht weiter. Sie wusste nichts, und selbst Jons kluge Fragen brachten keine wertvollen Hinweise zutage. Neil Singleton war die Enttäuschung anzumerken – er hatte auf neue Spuren gehofft. Das einzig Gute war, dass sie die Bank ihres Vaters und seinen Rechtsanwalt kannte und uns den zeitlichen Ablauf des Vortages mitteilen konnte. Im Augenblick war jedes bisschen Information hilfreich.
Danach kehrten wir Sevierville den Rücken und machten uns wieder auf nach Nashville. Während der Fahrt unterhielten wir uns angeregt. Sho fühlte sich in kleinen Gruppen offensichtlich wohler – ich hatte ihn noch nie so gesprächig erlebt –, und die vierstündige Fahrt verging wie im Flug.
Sho ließen wir vor der Agentur raus, wo er in sein eigenes Auto umstieg. Ich schrieb Garrett heimlich eine Nachricht, denn mir war klar, dass er beruhigter sein würde, wenn er wusste, dass Sho gut angekommen war.
Es war spät, als wir endlich zu Hause waren, und wir fielen nur noch ins Bett.
Am nächsten Morgen wachte ich vor Jon auf. Das war nicht ungewöhnlich. Ich duschte, dann schlenderte ich hinunter, um Kaffee zu kochen. Während er durchlief, inspizierte ich den Inhalt des Kühlschranks und überlegte, was davon wir vorsorglich wegwerfen sollten. Wir würden mindestens eine Woche unterwegs sein, vielleicht sogar länger, und das Obst würde sich kaum länger halten als bis morgen. Ich nahm mir vor, nach dem Frühstück den Kühlschrank etwas aufzuräumen.
Ich bereitete gerade Eier und Toast zu, als Jon gähnend mit nassen Haaren hereingetappt kam. Er kuschelte sich wie so oft an meinen Rücken und machte das Schnurrgeräusch, das ich so liebte.
»Hi, Babe. Möchtest du Frühstück?«
»Mmmm«, antwortete er verschlafen.
»Und einen starken Kaffee? Du hast noch ein bisschen Zeit, bis wir losmüssen.«
Stöhnend löste er sich von mir und machte sich seinen Kaffee zurecht. »Erinner mich bloß nicht daran. Ich bin nicht besonders scharf darauf.«
Jetzt war wohl der Zeitpunkt gekommen, nachzufragen. »Du hast also vor, mit ihm zu reden, wenn wir wieder hinfahren?«
Jon zuckte resigniert die Achseln. »Ich weiß, dass ich Antworten will. Dass Nat Antworten will. Aber ich bin ehrlich gesagt nicht mehr sicher, wie ich mich bei der ganzen Sache fühlen soll. Das bisschen, was ich gesehen habe, machte den Anschein, als würde er sich sehr wünschen, dass wir wieder Kontakt haben. Und ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll. Ob da nur sein schlechtes Gewissen spricht.«
»Schon möglich. Wenn Menschen große Fehler machen, begreifen sie die Konsequenzen manchmal erst Jahre später. Das habe ich schon öfter erlebt.«
Er stocherte mit der Gabel in seinem Rührei und schob es auf dem Teller herum. »Weißt du, was mich richtig fertigmacht? Völlig verrückterweise leuchtet er total hell. Also nicht Havili-hell …«
Wie cool, jetzt hatten wir also unsere eigene Schattierung auf der Skala.
»… aber doch ziemlich hell. Wenn er ein Unbekannter wäre, an dem ich auf der Straße vorbeilaufen würde, dann würde ich ihn kennenlernen wollen. Mich mit ihm anfreunden.«
»Autsch. Das klingt nach Salz in der Wunde.«
»Eher Salzlauge.« Er sank in sich zusammen und starrte sein langsam erkaltendes Rührei an. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wenn ich die richtigen Antworten bekomme, verzeihe ich ihm dann?«
»Das weiß ich auch nicht. Was ich weiß, ist, dass du ihn vermisst hast.«
Er ließ die Gabel fallen, stützte den Kopf in die Hände und versuchte gar nicht mehr, so zu tun, als würde er essen. »Ja. Und das macht mich wütend.«
Ich ging zu ihm hinüber, legte den Arm um ihn und drückte ihn an mich. Ich wünschte mir, ihm den Schmerz abnehmen zu können, aber gegen gebrochene Herzen konnte man nun mal nicht viel machen. »Was würdest du denn gerne von ihm hören?«
»Dass er es bereut. Dass er alles tun würde, um die Zeit zurückdrehen zu können. Dass er mich liebt. Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass ich irgendetwas davon hören werde?«
»Für verdammt wahrscheinlich, würde ich sagen. Schließlich bist du sehr liebenswert.«
Das brachte ihn fast zum Lachen. Ich fühlte seine Schultern zucken, dann drehte er sich um und bohrte den Kopf in meine Brust. Ich nahm ihn fest in die Arme. So verharrten wir eine Weile, ineinander versunken, für einen gestohlenen Augenblick. Leichen und Mörder konnten warten. Oberste Priorität hatte für mich der Mann in meinen Armen.
»Du bist für mich da?«
»Immer.«
»Okay.« Er richtete sich auf, atmete tief durch, und da war das eiserne Rückgrat von Jonathan Bane wieder. »Dann bringen wir’s hinter uns.«