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KAPITEL 1

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DONOVAN

Ich löste mich so abrupt aus meiner Dehnübung, dass mein Kopf nach oben schnellte, und starrte Garrett an.

»Du willst das Haus kaufen?«

Mein Freund saß vor mir auf einer Hantelbank, leicht verschwitzt von dem Training, das wir gerade beendet hatten. Sein T-Shirt klebte an seinem Oberkörper, und er zupfte daran, während er mich aus seinen blauen Augen unverwandt ansah.

»Ich wollte euch schon ein Angebot machen, bevor ihr die ersten Interessenten hattet, aber dann wart ihr euch so schnell einig mit denen, dass ich nicht mehr dazu kam. Aber das hat sich ja jetzt zerschlagen. Oder?«

»Ja, die sind mit ihren Finanzen nicht klargekommen.« Darüber war ich etwas betrübt gewesen, als ich es gestern gehört hatte, und hatte mich schon damit abgefunden, das Haus noch ein paar Wochen zu inserieren. Lange würde es nicht auf dem Markt bleiben in einer Stadt wie dieser – Häuser wurden hier mit Lichtgeschwindigkeit verkauft. Mit knapp 300.000 Dollar war das Haus nicht überteuert, und ich wusste, dass Garrett es sich leisten konnte. Er war immer schon vernünftig mit seinem Geld umgegangen, und dank der Erbschaft, die er nach dem Tod seines Großvaters im vergangenen Jahr gemacht hatte, würde es überhaupt kein Problem für ihn sein, eine Anzahlung zu leisten. »Das Haus gefällt dir wirklich so gut?«

»Du hast es einfach super hergerichtet. Ich muss gar nichts mehr daran machen. Und es ist nicht weit bis zur Arbeit.« Garrett klimperte mit den Wimpern. »Ich sage auch schön ›Bitte, bitte‹.«

Mit einem belustigten Schnauben stand ich vollständig aus der Stretchposition auf. »Du weißt ganz genau, dass meine Familie es dir liebend gern überlassen wird. Wir hätten einfach nicht gedacht, dass du jetzt schon bereit bist, hier ein Haus zu kaufen.«

»Ja, ich weiß. Es sind erst zwei Monate, und das scheint womöglich etwas übereilt, aber …« Er sah beiseite und zog den Kopf ein. Plötzlich wirkte er fast scheu. »Mir gefällt der Job richtig gut. Die Kollegen sind klasse. Ich freue mich, dass wir beide wieder zusammenarbeiten. Und wenn alles gut läuft, kann ich Michael vielleicht sogar schon bald zu einem richtigen Date überreden.«

Ich setzte mich zu ihm, rittlings auf die Hantelbank. Das war das erste Mal seit längerer Zeit, dass er über Sho sprach. »Du hast doch gesagt, dass es ganz gut läuft. Hast du Fortschritte bei ihm gemacht?«

»Schon. Bloß sehr langsam.« Er rieb sich den Nacken, während ein Schmunzeln über sein Gesicht huschte. »Deine bessere Hälfte hat mir ein paar gute Tipps gegeben. Mir Zeit zu lassen und Geduld mit ihm zu haben. Und das scheint auch gut zu funktionieren. Michael verbringt immer mehr Zeit mit mir, und er wird nicht mehr jedes Mal zum Nervenbündel, wenn ich frage, ob er mit mir etwas essen oder einen Film gucken will. Er wird immer entspannter, wenn wir etwas unternehmen. Als ob er langsam wieder Boden unter die Füße bekommt und in seinem Leben Platz für mich macht.«

Das war mir im Büro auch schon aufgefallen. Sho war niemand, der gerne viel Körperkontakt hatte, aber ich hatte mehrmals beobachtet, wie er nach Garretts Arm oder Hand griff, wenn sie miteinander sprachen. Es war unglaublich süß.

Nicht, dass ich das je laut aussprechen würde. Mein Kiefer war mir lieber, wenn er mir nicht ausgerenkt wurde.

»Freut mich wirklich, Mann. Für ihn und für dich. Jon ist geradezu beglückt über alles, was er bei euch so sieht. Aber natürlich sagt er keinen Pieps.«

»Er kann erstaunlich verschwiegen sein, dafür, wie gesprächig er sonst manchmal ist.« Garretts Mundwinkel kräuselten sich, was mich vermuten ließ, dass er etwas im Schilde führte. »Du weißt nicht zufällig, wie Michaels Ex heißt?«

»Neee«, gab ich gedehnt zurück, denn ich wusste schon, worauf er hinauswollte. »Aber ich kann es bestimmt rausbekommen. Wir müssen schließlich noch ein ernstes Wörtchen mit dem Mann reden.«

»Nur ein paar Sätze, damit er auch kapiert, dass es ein absolutes No-Go ist, die Hand gegen jemanden zu erheben«, bekräftigte Garrett trocken. »Zum Wohle der Allgemeinheit sozusagen.«

»Absolut«, stimmte ich mit gespieltem Ernst zu. »Ich kümmere mich darum. Du hast ihn nicht irgendwo gesehen, oder?«

Garrett antwortete erst nach kurzem Zögern. »Nein, das nicht. Aber manchmal taucht ein dunkelblauer Wagen auf, wenn wir unterwegs sind. Michael ist das unheimlich. Es passiert nie etwas, und ein paarmal hat er sich auch schnell wieder abgeregt, als ob ihm klar geworden wäre, dass es ein anderes Auto war. Aber manchmal eben auch nicht, und das macht mir Sorgen.«

Diese Recherche hatte soeben einen Platz ganz oben auf meiner Prioritätenliste bekommen. »Ich frage nach. Und wenn Jon nicht darüber reden will, können wir auch einfach in den Gerichtsakten nachschauen. Sho hat schließlich eine einstweilige Verfügung gegen das Arschloch erwirkt.«

»Guter Hinweis. Vielleicht sollten wir einfach gleich das machen.«

Ja, vielleicht wäre das besser. Dann würden wir uns zumindest nicht sofort verraten. Ich gab Garrett einen Klaps auf die Schulter und bedeutete ihm, sich in Bewegung zu setzen. »Und jetzt ab in die Dusche. Ich muss nach Hause. Skylar kommt gleich bei uns vorbei.«

Garrett setzte schmunzelnd die Wasserflasche an. »Das gefällt dir, ›bei uns‹ zu sagen, stimmt’s?«

Ich schnaubte und knuffte ihn freundschaftlich, dann steuerte ich die Männerumkleide an. Er hatte recht. Jon und ich lebten jetzt schon einen ganzen Monat zusammen – den Probemonat nicht mitgerechnet –, und ich war immer noch ein bisschen überwältigt. Mein Lover hatte seine Vorbehalte völlig aufgegeben. Keine Spannungen, keine Hindernisse mehr zwischen uns, und er hatte nicht mehr die ständige Angst, dass unsere Beziehung durch das Zusammenleben zu Bruch gehen würde. Ich wusste immer noch nicht ganz genau, wie es mir schließlich gelungen war, ihm über die letzte Hürde zu helfen und ihn zu überzeugen, dass er uns beiden ganz und gar vertrauen konnte, aber irgendwie hatte ich es geschafft. Was immer es gewesen war, ich stellte es nicht infrage.

Die Umkleiden waren hier schöner als in den meisten Fitnessstudios, also beschloss ich, mich hier abzuduschen und umzuziehen, bevor ich nach Hause fuhr. Skylar wollte heute irgendein Software-Update vornehmen. Manchmal war das ein Code für »Ich habe keine Lust auf zu Hause und will lieber mit euch abhängen«, und manchmal ging es wirklich um ein Software-Update. Was heute zutraf, würde ich ja gleich sehen.

Als ich gerade Garrett zum Abschied zuwinkte, klingelte mein Handy, und ich nahm den Anruf mit einem Lächeln an. »Mom, perfektes Timing! Ich habe gute Neuigkeiten für dich.«

»Ja?«, erwiderte meine Mutter fröhlich. »Ich habe auch welche für dich. Ich fange mal an: Das FBI hat deinem Bruder gerade ein Angebot gemacht.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen und musste laut lachen. »Haben sie ihn also doch gekriegt!«

»Ich dachte, Jon macht Witze, als er uns das erzählt hat, aber anscheinend haben sie es doch ernst gemeint.«

»Auf jeden Fall! Ich meine, es klang zwar wie ein Scherz, aber sie waren wirklich beeindruckt von Brandon. Na, dann hoffe ich mal, der neue Job wird ihm Spaß machen. Wenn er bei dem Team landet, mit dem wir zu tun hatten, bekommt er ein paar tolle Kollegen.«

»In seinem alten Job war er nicht mehr so recht zufrieden, also ist es so oder so eine gute Chance für ihn. Aber was hast du denn zu erzählen?«

»Garrett will das Haus kaufen«, erklärte ich.

»Oh, Don! Da bin ich aber froh. Dann kommt es ja in die besten Hände. Warum hat er nicht schon längst etwas gesagt?«

»Er meint, er war zu spät dran. Kannst du der Maklerin Bescheid geben? Damit sie keine anderen Bewerbungen mehr annimmt.«

»Mach ich. Und Garrett rufe ich auch gleich an. Ach, wird das nett sein, ihn bei uns in der Nähe zu haben!«

Garrett hatte ein etwas eigenartiges Verhältnis zu seiner eigenen Familie. Sie mochten sich zwar alle, schienen sich aber kaum darum zu bemühen, miteinander in Kontakt zu bleiben. Manchmal verging ein komplettes Jahr, ohne dass sie ein Sterbenswörtchen miteinander redeten. Garretts Beziehung zu meinen Eltern war enger. Er sprach beinahe jede Woche mit Mom und Dad.

»Dann überlasse ich den Rest euch. Wir haben gleich Teenagerbesuch.«

»Skylar ist oft bei euch, oder?«

»Ja. Sie hat manchmal Stress in der Schule, und dann klinkt sie sich aus und kommt zu uns. Was total in Ordnung ist, sie ist ein cooles Mädchen.« Mein Handy machte Geräusche, das Anklopfen eines zweiten Anrufers. Auf dem Display sah ich, dass es Jim war. An einem Freitagmorgen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Mom, der Chef ruft an. Ich muss auflegen.«

»Na klar. Bis später.«

Ich nahm Jims Anruf an und blieb noch vor dem Gemeindezentrum stehen. Es war jetzt Mitte Oktober und somit schon etwas kühler. Ich genoss die leichte Brise. »Hey, Jim. Alles in Ordnung?«

»Ich würde mal sagen: alles ein bisschen seltsam …« Jim klang amüsiert und neugierig zugleich.

»›Seltsam‹ nehme ich auch. Was ist denn los?«

»In Sevierville hat es einen Mord gegeben. Wissen Sie, wo das ist?«

»Äh, östlich von Knoxville, glaube ich.«

»Richtig. Etwa vier Stunden von hier. Jedenfalls: Ein Hausbesitzer ist im eigenen Bett umgebracht worden. In einem berühmten Spukhaus.«

Ein Schauer überlief mich, und an meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Ich verabscheute alles Okkulte, und Geister waren überhaupt nichts für mich. »Ich kann mir schon denken, worauf Sie hinauswollen. Aber ich bin kein Geisterjäger.«

»Das ist keiner von uns. Ich verdächtige auch kein Gespenst, und das ist auch nicht der Grund, warum wir hinfahren sollen. Es ist so: Denen ist die Leiche abhandengekommen.«

Ich blinzelte in den hellen Sonnenschein – das unpassendste Wetter schlechthin für eine Gruselgeschichte. Es war auch noch nicht kurz genug vor Halloween für so einen Mist. »Moment mal. Wie meinen Sie das, die Leiche ist abhandengekommen?«

»Ich meine es ganz wörtlich. Die Details kenne ich noch nicht genau, aber offenbar hat außer der Tochter des Opfers und den Polizeibeamten niemand das Haus betreten. Sie sind kurz aus dem Zimmer gegangen, und als sie wiederkamen, war auf einmal keine Leiche mehr da. Sie haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt und trotzdem keine Spur gefunden. Nun sieht es ganz danach aus, als hätte sich jemand damit davongemacht, und die Ermittlungen können nicht fortgesetzt werden, solange nicht alle Beamten von dem Verdacht befreit sind.«

Jetzt ergab die Sache langsam Sinn. »Und wir wurden einbestellt, damit wir abklären, ob jemand von der örtlichen Polizei etwas damit zu tun hatte?«

»Einmal das, aber auch, um die Leiche zu finden. Anscheinend ist in der Gegend gerade kein einziges Medium abkömmlich. Ich war schon der Siebte, den der arme Captain angerufen hat, und er ist sehr daran interessiert, dass wir ihm vor Ort behilflich sind, den Stein ins Rollen zu bringen.«

»Kann ich mir vorstellen. Okay, ich vermute mal, wir sollen sofort aufbrechen?«

»Da vermuten Sie richtig. Packen Sie am besten für mindestens zwei Tage.«

Vier Stunden Fahrt, am Fall arbeiten, eine Übernachtung. Immer vorausgesetzt, wir konnten den Fall schnell aufklären, und, nun ja … da war ich mir nicht ganz so sicher. Fälle waren selten so einfach: rein, raus – jedenfalls dann, wenn wir damit zu tun bekamen. »Okay. Ich bin noch nicht zu Hause, aber ich fahre gleich los und hole Jon. In dreißig Minuten sind wir startklar. Schicken Sie mir die Adresse.«

»Mache ich. Sie werden wahrscheinlich vor uns da sein. Wir müssen noch die Kamera und ein paar andere Sachen holen. Und Carol habe ich auch noch nicht erreichen können.«

»Verstanden. Dann sehen wir uns dort.« Ich legte auf, dann rief ich sofort Jon an. Ich wollte ihn schon mal vorwarnen, denn für den Heimweg würde ich noch fünfzehn Minuten brauchen. Er nahm nach dem dritten Klingeln ab. »Hey, Babe? Wir haben einen Job.«

»Heute?«, protestierte er klagend. »Komm schon. Wir haben jetzt zehn Tage durchgearbeitet. Ich hatte Pläne!«

»Jetzt bin ich erst richtig genervt. Sexy Pläne?«

»Sonst wäre ich nicht so sauer … Was ist denn jetzt schon wieder passiert?«

»Wir haben ein gruseliges Leichenrätsel zu lösen, in Sevierville. Und eins kann ich dir jetzt schon sagen: Auf diese Ermittlungen freue ich mich überhaupt nicht.«

* * *

Eine Stunde später waren wir unterwegs. Die schmollende Skylar war bei uns zu Hause zurückgeblieben. Es war kein schlechter Tag für eine längere Autofahrt. Jon saß am Steuer, damit ich navigieren und Anrufe entgegennehmen konnte. Wir kamen gut voran. Während wir Nashville hinter uns ließen und auf die geradlinig durch den Bundesstaat führende 40 East abbogen, erzählte ich ihm, was sonst noch passiert war. »Garrett will das Haus kaufen.«

»Na so was!«, bemerkte er mit einem nachdenklichen Seitenblick. »Ich hatte mich schon gefragt, was die interessanten Emotionen zu bedeuten haben, die ich in letzter Zeit von ihm aufgeschnappt habe. Sehnsucht nach Stabilität hauptsächlich. Ich glaube, er will in der Nähe von dir und deiner Familie sein.«

»Ja, er hat sich immer wohlgefühlt bei uns. Meine Eltern behandeln ihn wie ihren eigenen Sohn – mehr als seine eigenen. Seine Familie und er stehen sich nicht besonders nahe. Jedenfalls wird er uns das Haus abnehmen, und meine Mom ist superglücklich. Außerdem hat er gesagt, dass Sho und er jetzt mehr zusammen unternehmen. Das waren die guten Nachrichten.«

Jon verzog das Gesicht. »Natürlich gibt es auch schlechte Nachrichten. Was ist los?«

»Wenn er mit Sho unterwegs ist, wird der manchmal ganz nervös. Immer dann, wenn er eine dunkelblaue Limousine sieht.« Ich beobachtete Jons Reaktion genau. Sein Griff um das Steuerrad wurde so fest, dass die Knöchel durchschienen, während sein Gesicht zu einer frustrierten Grimasse wurde. »Das ist der Wagen von Shos Ex, richtig?«

»Damals, als ich mit ihm zu tun hatte, hat er einen dunkelblauen Nissan gefahren, ja.« Jon seufzte genervt auf. »Verdammt. Ich dachte, er hat es endlich aufgegeben.«

»Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass dieser Typ Sho ein Jahr nach der Trennung noch hinterhersteigt?«

»Weil das Arschloch ein totaler Kontrollfreak ist, der fast schon von Sho besessen war. Hör mal. Was ich dir jetzt sage, bleibt unter uns, in Ordnung?«

Ich nickte sofort. »Okay.«

»Willst du wissen, warum er Sho misshandelt hat? Weil er ab und zu auch mit anderen Leuten etwas unternommen hat. Sogar bei Shos eigenem Bruder hatte er etwas dagegen. Roy – so heißt der Kerl – wollte die totale Kontrolle über Sho. Er wollte um Erlaubnis gefragt werden, bevor Sho einkaufen gegangen ist. Es war völlig irre. Sho hatte deswegen ständig Zoff mit ihm, und die Beziehung war sowieso schon fast am Ende. Dann hat er einmal so die Beherrschung verloren, dass er zugeschlagen hat. Sho ist sofort abgehauen und hat mich angerufen, weil ich ihm damals am nächsten stand. Ganz ehrlich, es hat mir Angst gemacht, die Energiebahnen von dem Typ zu lesen. Ich wusste schon beim Kennenlernen, dass er ein bisschen komisch war, aber er ist mir danach immer aus dem Weg gegangen, sodass ich nicht mitbekommen habe, wie sehr es eskaliert ist.«

Bis jetzt hatte ich nicht genau gewusst, was eigentlich passiert war. Sho sprach nicht gerne darüber, und Jon fühlte sich verpflichtet, sein Vertrauen nicht zu missbrauchen. Doch mit diesem Hintergrundwissen konnte ich die Situation besser einschätzen. Wenn Jon jetzt so viel dazu sagte, obwohl er es vorher nicht angebracht gefunden hatte, dann war es ernster als gedacht, das spürte ich genau.

»Können sich Menschen wirklich so grundlegend ändern?«

»Ja, klar. Ständig. Zum Guten wie zum Schlechten. Darum urteile ich auch nie zu schnell, wenn ich jemanden lange nicht getroffen habe. Man kann nie wissen, wie sich jemand in der Zwischenzeit verändert hat.« Mit einem erneuten gestressten Seufzer fuhr Jon fort: »Ich wollte, Sho hätte etwas gesagt. Wenn er ihm so nahe kommt, dass er den Wagen sehen kann, ist das ein klarer Verstoß gegen die einstweilige Verfügung.«

»Wie weit muss sich der Typ denn von Sho fernhalten?«

»Ich glaube, eine Meile. Oder anderthalb Meilen. Das sollte nicht schwer einzuhalten sein. Sho wohnt jetzt in Mount Juliet, weit weg von Roys Wohnung. Wenn er regelmäßig sein Auto bemerkt, bedeutet das nichts anderes, als dass Roy es nicht sein lassen kann. Wir müssen Beweise sammeln und ihn anzeigen.«

»Glaubst du wirklich, Sho hat das noch nicht gemacht?« Das zu glauben, fiel mir schwer. Sho war kein Weichei, und technikaffin genug obendrein.

Jon warf mir einen besorgten Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Du wirst recht haben. Das hat er bestimmt getan. Lass uns mal in Ruhe nachfragen, wenn wir die verschwundene Leiche wiedergefunden haben.«

Wir wandten uns angenehmeren Themen zu, und die Zeit verging wie im Flug, wie immer, wenn wir zusammen waren. Ich behielt das GPS im Auge, und wir folgten den Anweisungen zu unserem Ziel. Ich hatte definitiv keine Lust auf diesen Fall. Gespenster waren mir wirklich unheimlich, und Horror war absolut nicht mein Ding. Ich versuchte, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Schließlich war ich der Beschützer in dieser Beziehung, oder etwa nicht? Wenn ich selbst Angst hatte, hatte ich nicht das Gefühl, meiner Aufgabe richtig nachzukommen. Wenn ich Angst hatte, trübte das mein Urteilsvermögen.

Außerdem gab es ja auch gar keine Geister, richtig? Genau.

Unser Ziel war ein dreistöckiges Ziegelgebäude mit einer breiten, weiß gestrichenen Veranda an der Vorderseite. Das Haus sah alt aus. Sehr alt. Ich wusste nicht viel über die Geschichte des Anwesens, aber es hatte die typische Atmosphäre historischer Gebäude. Gerade war es ziemlich belebt: Ein gerichtsmedizinischer Einsatzwagen, zwei Polizei-SUVs mit der Aufschrift Sevierville Police Department und ein brandneuer Ford-Pick-up standen in der Einfahrt und auf dem Rasen des Vorgartens.

»Hier sind wir auf jeden Fall richtig«, bemerkte Jon, als auch er in der Einfahrt parkte. Er musste sich in eine Lücke auf der rechten Seite quetschen, und wir landeten zum Teil auf dem Rasen. Unsere Kollegen würden ihre Autos wohl auf der Straße lassen müssen. »Sieht so aus, als ob die alle auf der Veranda sind und auf uns warten.«

»Wir können uns ja schon mal vorstellen, bis die anderen hier sind.« Ich sprang aus dem Humvee und warf die Tür zu, dann lief ich um die Motorhaube herum, um neben ihm zum Haus zu gehen.

Neugierig war ich schon. Jons Fälle waren oft genug seltsam, und es war durchaus denkbar, dass ihm so etwas schon mal untergekommen war. »Das ist jetzt aber sogar für dich Neuland, oder?«

Er schnaubte, dann warf er mir ein schiefes Lächeln zu. »Es ist nicht gerade an der Tagesordnung, dass Leichen verschwinden, Babe. Zum Glück. Na ja, jedenfalls verschwinden sie für gewöhnlich nicht mehr, nachdem der Gerichtsmediziner sie …« Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und starrte geradeaus.

Ich folgte seinem Blick in Richtung Veranda und betrachtete die drei Männer, die dort saßen. Einer von ihnen erhob sich langsam, und in einem Sekundenbruchteil hatte ich die Puzzlestückchen zusammengesetzt. Es war unmöglich, die Ähnlichkeit nicht zu erkennen. Die gleichen dichten blonden Haare, der gleiche schlanke Körperbau und diese Augen – diese durchdringenden blauen Augen, die alles zu sehen schienen. Der Mann war schon etwas älter, vielleicht Ende fünfzig, aber er musste mit Jon verwandt sein. Und angesichts dessen, wie sehr mein Lover erschrak, konnte es niemand anders sein als …

»Dad«, flüsterte Jon verblüfft.

Ach du Scheiße.

Ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob das jetzt gut oder schlecht war. Dieser Mann hatte seine Familie verlassen, als Jon gerade mal sieben Jahre alt gewesen war, und so wie es die anderen erzählten, hatte er nie wieder versucht, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Von solchen Männern hatte ich keine sonderlich hohe Meinung. Ich rechnete damit, dass Jon ihm den Kopf abreißen, sich auf dem Absatz umdrehen und den Fall innerhalb der Psy abgeben würde. Doch seine Miene zeugte von widerstreitenden Gefühlen und sagte mir, dass er das nicht tun würde.

Caleb Bane wirkte wie vom Donner gerührt. Aber er konnte den Blick nicht von seinem Sohn abwenden, während er langsam die Verandatreppe herunter- und auf uns zukam. Kurz vor uns blieb er stehen. Er nahm kaum Notiz von mir, so sehr war er auf Jon konzentriert. Sie waren gleich groß, Jon vielleicht zwei Zentimeter kleiner, und wenn man die grauen Schläfen außer Acht ließ, hätte er Jons Spiegelbild sein können – und das nicht nur, was sein Aussehen betraf. Sie machten beide das gleiche verstörte Gesicht.

Und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, tat mein Jon etwas, das völlig wider seine Natur ging. Er schaute nicht hin. Stattdessen wandte er den Blick ab und starrte ins Leere.

Ich wusste wohl, dass er eine Menge unbewältigten Zorn und Misstrauen mit sich herumtrug, weil sein Vater die Familie im Stich gelassen hatte. Bis zu diesem Moment, als Jon sich weigerte, den Mann eines Blickes zu würdigen, war mir aber nicht wirklich klar gewesen, wie tief das ging. Verdammt.

Caleb dagegen starrte seinen Sohn unverwandt an. Seine Miene spiegelte eine Vielzahl unterschiedlicher Emotionen wider: Hoffnung, Verzweiflung, Reue, Entschlossenheit. Er sah nicht weg, er schien weder beschämt noch schuldbewusst zu sein, und er machte keinen Versuch, der unbehaglichen Situation auszuweichen. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte.

Die anderen beiden Männer auf der Veranda beobachteten die Szene. Einer von ihnen, ein gepflegt aussehender Endfünfziger, dessen Polizeimarke am Gürtel unter seiner Lederjacke hervorblitzte, ließ Caleb Bane nicht aus den Augen. Er wirkte ausgesprochen besorgt.

Jetzt kam der andere auf uns zu. Er hatte eine kräftige Statur und trug einen deutlichen Bierbauch vor sich her. Der Mann verströmte eine gewisse Autorität, und ich sah seinen Blick zwischen Jon und Caleb hin- und herhuschen. In seinen Augen war auch ein gewisses Verständnis zu erkennen, was mich vermuten ließ, dass er zumindest teilweise wusste, was hier vorging.

»Mein Name ist Randy Cain, Captain des Polizeireviers von Sevierville.«

Eigentlich hätte ich Jon am liebsten erst mal beiseitegenommen, um in Ruhe mit ihm zu sprechen. Aber ich zwang mich zu Professionalität und gab Cain die Hand. »Donovan Havili. Das ist mein Medium, Jonathan Bane. Wir sind die Vorhut.«

»Ja, das sehe ich.« Cain hatte definitiv mitbekommen, dass die beiden den gleichen Nachnamen trugen. Er schaute neugierig von einem zum anderen. »Mr Bane, ich freue mich sehr.«

Steif wandte Jon sich ihm zu und schüttelte ihm die Hand. Sein Lächeln war so aufgesetzt, dass es mir wehtat, ihn anzuschauen. »Captain.«

»Sie, äh, kennen unseren Gerichtsmediziner, Dr. Bane?«

Jon antwortete knapp und eisig: »Ja.«

»Ah.« Cain räusperte sich unbehaglich, stellte aber zum Glück keine weiteren Fragen. Stattdessen deutete er auf den Mann auf der Veranda. »Das ist Neil Singleton, der Detective in diesem Fall. Er ist einer von den Leuten, die befragt werden müssen. Jonathan – darf ich Jonathan sagen? Danke. Ich habe Sie rufen lassen, weil ich Sie dafür brauche, meine Leute zu entlasten, damit die Ermittlungen hier am Tatort weitergehen können. Wenn jemand hier sich mit einer Leiche davongemacht hat, muss ich das wissen. Außerdem müssen Sie die Leiche auffinden.«

»Ersteres kann ich machen, das Zweite nicht«, sagte Jon. »Meine Kollegin Carol ist unsere Sucherin. Sie ist unterwegs, ich bin nur zufällig schon vor ihr hier. Wir können gerne schon mit den Befragungen anfangen. Das wird nicht lange dauern. Jemand müsste bitte eine Videokamera aufbauen, und Sie, Sir, müssten als offizieller Zeuge fungieren. Dann können Ihre Leute in spätestens einer Stunde wieder an die Arbeit gehen.«

»Das hört sich gut an. Lassen Sie uns loslegen.«

Das taten wir dann auch. Ich kämpfte immer noch mit dem Wunsch, Jon beiseitezunehmen und mit ihm zu reden. Ich wusste nicht, was er in dieser Situation von mir brauchte. Aber er schien entschlossen, professionell zu bleiben, und außer dass er mich zwischen sich und seinen Vater schob, gab er mir keinen nonverbalen Anhaltspunkt. Caleb Bane schien das zu bekümmern. Er öffnete und schloss mehrmals den Mund, als wolle er etwas sagen, könne aber nicht die richtigen Worte finden.

Da sich offenbar keiner der beiden dazu überwinden konnte, zu reden, entschloss ich mich, zuerst das Problem der vermissten Leiche anzugehen und die Familiendramen auf später zu verschieben. Und dabei würde ich bleiben, bis Jon eine andere Ansage machte.

In dem Versuch, die Dinge (wenigstens nach außen hin) am Laufen zu halten, sprach ich mit Cain, als wir ins Haus gingen. »Uns wurde nur mitgeteilt, dass eine Leiche vom Tatort verschwunden ist und dass wir die Anwesenden vernehmen müssen, um den Täter überführen zu können. Was ist denn genau passiert?«

»Es ist von A bis Z rätselhaft. Sind Sie mit der Geschichte dieses Anwesens vertraut, Mr Havili?«

»Kann ich nicht behaupten, Sir.« Und am liebsten hätte ich auch nichts weiter davon gehört. Ich konnte gut darauf verzichten, zu erfahren, wie sehr es hier spukte.

»Die Wheatlands-Plantage ist uralt. Um 1700 gegründet, war sie unter anderem Schauplatz einer Schlacht während der Revolution, der Schlacht am Boyd’s Creek. Das Haus selbst wurde während des Bürgerkriegs vorübergehend als Stützpunkt und Winterquartier genutzt. Hier sind viele Menschen gestorben, es gibt einen Friedhof mit etwa siebzig Gräbern auf dem Gelände. Bis 2017 fanden hier noch Geisterführungen statt. Anfang des Jahres wurde das Anwesen verkauft. Zu einem Spottpreis im Übrigen«, warf Cain über die Schulter, während er eintrat. »Keiner aus der Gegend hier hatte den Mut, ein Geisterhaus zu kaufen. Vielleicht wussten sie es auch einfach besser. Jedenfalls war der Verstorbene der neue Besitzer des Anwesens. Seine Tochter hat ihn heute Morgen tot in seinem Bett aufgefunden.«

Ich zuckte zusammen. Das klang alles andere als angenehm.

Das Wohnhaus war ein rötlicher Klinkerbau mit drei Etagen und einem nach hinten führenden zweistöckigen Flügel. Das Gebäude war in gutem Zustand, das rote Dach noch relativ neu, und die Fensterläden hatten erst kürzlich einen neuen Anstrich erhalten. Innen war es schummrig, und die Räume waren etwas beengt, wie es in alten Häusern so oft der Fall ist. Die Diele, die fast ganz von einem Treppenaufgang eingenommen wurde, erschien durch das dunkle Holz der Böden und der Treppe noch kleiner.

Der Rest des Hauses war wie die Kulisse eines Historiendramas: üppige weiße Zierleisten, offene Kamine in allen Zimmern, Buntglasrahmen um die Fenster und Deckenbalken, die ebenfalls weiß gestrichen waren. Das Haus war alles in allem gut in Schuss, wenn auch etwas staubig und nicht fertig eingerichtet. Es wirkte so, als sei jemand gerade dabei, einzuziehen, und an den Fußleisten reihten sich Werkzeuge aneinander, als würde hier noch gearbeitet.

»Esszimmer?«, schlug Jon dem Captain vor.

»Nichts dagegen. Aber leider haben wir keine Kamera hier.«

»Das macht nichts, meine Kollegen bringen eine mit. Sie müssen jeden Moment hier sein.« Während sich nach und nach alle versammelten, stand Jon einen Augenblick still und legte die Hand auf die Tischplatte. Zu meiner Verwunderung strahlte er. »Ich liebe dieses Haus!«

»Hier gibt es ja auch fast nichts Elektronisches. Natürlich gefällt es dir«, gab ich zurück. Die Männer schoben sich an uns vorbei und stellten sich auf die andere Seite des Raumes. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich kurz zu Jon hinunterzubeugen. »Babe?«

»Nicht jetzt«, flüsterte er gequält zurück. Das Lächeln war plötzlich wie weggewischt. Er blickte mir unverwandt in die Augen, darauf bedacht, nicht nach rechts und links zu schauen. »Ich muss doch arbeiten. Ich kann nicht … Ich will ihn gar nicht erst ansehen.«

Ach du lieber Gott. Na dann. Am liebsten hätte ich ihn hier rausgebracht, irgendwo hingesetzt, wo er das alles in Ruhe auf sich wirken lassen konnte. Aber die Situation gab das nicht her. Wir mussten einen Leichnam auffinden. Leute mussten vernommen und entlastet werden, damit sie weiterermitteln konnten. Es ging jetzt um jede Minute, und wir hatten bereits fünf Stunden verloren, bis wir überhaupt hier angekommen waren. Ich wusste es, und er wusste es auch.

Jonathan Bane hatte Nerven wie Stahlseile. Das sah ich nicht zum ersten Mal. Er hob den Kopf und schob seine persönlichen Gefühle beiseite, trotz des Schocks, der ihm zweifellos noch in den Knochen saß. Kurz ballte er die Fäuste, während er um Fassung rang. Dann legte er den Kopf schief und nickte mir ermutigend zu.

»Ich hab’s im Griff.«

Ich lächelte zu ihm hinunter. »Und wenn nicht, dann hast du mich.«

Lug und Spuk

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