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Nachts im Park

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Jill wusste, wo ich hinkonnte.

Sie kannte ein Menge Leute und meinte, jetzt im Frühling sei es wie Camping bei schönem Wetter draußen zu pennen. „Bei meinen Kumpels bist du sicher“, sagte sie. „Die ziehen keinen ab, besonders nicht meine süße Boubou“.

Warum auch immer sie mir diesen kindischen Namen gab, ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie mich so nannte. Irgendwie war es besitzergreifend. Und ich hasse es, wenn jemand glaubt, er könne über mich verfügen. Aber ich sagte nichts, denn Jill war damals mein ein und alles. Ich wollte ihr unbedingt gefallen.

Wie immer hingen sie auf einer Wiese bei der Brücke herum, eine Gruppe Jungen und Mädchen, alle so um die 17, 18 Jahre alt. Ihre Piercings blitzten in der Sonne und ihre Haare leuchteten in allen möglichen Farben. Hunde hatten sie auch dabei, die gleich anfingen zu bellen, als wir näherkamen.

„Hey, Jill, wer ist denn die Prinzessin, die du da mitschleppst?“

„Hey, Axel, das ist Rose. Sie hat ein Problem mit ihrer Alten und kann nicht nach Hause.“

Der Junge sah mich aus hellen, spöttischen Augen an. Wenn er lächelte, zeigte er braun verfärbte kleine Zähne, die ziemlich weit auseinander standen. Eigentlich war er hübsch. Er drehte sich gerade eine und ich starrte auf die rissige Haut seiner Hände und die vom Nikotin gelb verfärbten Finger mit den Totenkopfringen.

„Hey, Prinzessin, erzähl doch mal selbst, was du hier willst.“

Ich habe euch noch nicht gesagt, dass ich verdammt gut lügen kann. Ich lüge eigentlich immer. Den Leuten in der Schule habe ich erzählt, meine Mutter sei Lehrerin. Dabei ist sie Malerin, aber ich erfand mir einfach die Mutter mit regelmäßigen Arbeitszeiten und regelmäßigem Einkommen, die ich lieber gehabt hätte. Jill habe ich erzählt, ich sei magersüchtig gewesen. Klar habe ich mal versucht zu kontrollieren, was und wieviel ich esse, nur hat es überhaupt nicht funktioniert, denn ich mag Essen einfach zu gerne. Meiner Mutter klaue ich Zigaretten, wenn ich sie finde. Da sie immer behauptet, nicht zu rauchen, kann sie nichts dagegen sagen. Sie weiß es aber. Sie ist selbst eine Lügnerin. Ich habe meiner Mutter auch erzählt, Jill hätte sich selbst erzogen, seit ihre drogensüchtigen Eltern tot wären. Davon war sie mächtig beeindruckt, bis sie Jills Adoptivmutter kennen lernte und herausfand, dass auch diese Geschichte erfunden war. Klar war sie ihr ein bisschen unwahrscheinlich erschienen, aber da sie gerne dazu bereit ist, Wunderbares zu sehen, hat sie es schließlich geglaubt. Über meine Lügerei war Mama manchmal traurig und manchmal amüsiert. Wenn sie amüsiert war, sagte sie immer, ich litte an der Schwindelsucht und verglich mich mit einem Jungen aus einem alten Film, dessen Eltern sich ewig streiten. Ein verstockter Junge, der lügt und stiehlt und die Schule schwänzt, aber am Ende ein großer Künstler. Meine Mutter steht auf französische Filme und Romane, italienische Malerei, Bob Dylan und überhaupt alles, was ihr erlaubt die Welt in Rosarot zu sehen. Das ganze Leben wäre ein Roman, ginge es nach meiner Mutter. Deshalb findet sie meine Lügerei manchmal auch amüsant, nur in letzter Zeit wurde es ihr dann doch zu viel des Guten. Und ich meine auch, sie sollte einfach mal sehen, was hier die Wirklichkeit ist. Ich setzte einen harten Blick auf, mit dem ich Axel fixierte, und die Lüge ging wie geschmiert über meine Lippen:

„Ich habe Stress mit meiner Alten. Ich muss weg von zu Hause. Meine Mutter hat mich rausgeworfen. Sie säuft und wenn sie besoffen ist, dann wird sie aggressiv. Sie scheuert mir eine, wirft mich aufs Bett und prügelt auf mich ein.“

Mit dieser Geschichte gab sich Axel zufrieden, aber ich sah seinem Lächeln an, dass er sie nicht wirklich glaubte. Ich durfte mich neben ihn setzen und er zeigte mir seine weiße Ratte, die aus seiner Jackentasche gekrochen kam und über seinen Arm hinauf auf seine Schulter lief. Ihre langen Schnurbarthaare kitzelten sein Ohr. Er nannte sie Maxwell und fütterte sie mit kleinen Stückchen von seinem Toastbrot.

„Prinzessin, du suchst etwas und weißt nicht, was. Für die meisten von uns fühlt sich das Leben hier an wie Endstation. Meinetwegen darfst du ein bisschen am Abgrund spielen. Solange kannst du an meiner Seite bleiben. Ich pass auf, dass du nicht hineinfällst.“

„Hey, jetzt hört euch mal unseren Dichter an“, mischte sich ein Mädchen ein. „Klar, auf so ein Püppchen aus gutem Hause fährst du voll ab. Das ist nicht zu übersehen. Hör mal Süße, glaub mal nicht, dass es hier keine Spießer gibt. Schau mal in seinen Rucksack. Für Bücher gibt er seine Kohle her. Und das Geld klaut er nicht. Nein, er steht jeden Tag um acht auf und geht arbeiten bis um sieben. Du glaubst, dein Verstand und dass du einen Job hast, machen dich zu etwas Besserem“, wandte sie sich wieder an Axel, „dabei hast du genauso wenig ein Zuhause wie wir alle hier. Du bist auch nur ein Stein in der Gosse, den jeder herumkicken kann, und niemand will dich haben, seit du auf der Welt bist. Daran wird sich niemals etwas ändern. Hast du noch was zu rauchen für mich oder zu saufen?“

Ich wäre jetzt wütend geworden und hätte ihr was zurückgegeben, aber Axel sah sie nur freundlich an. Und als ich seinen Blick sah, fühlte ich mich ein bisschen sicherer. Nicht, dass ich besonders ängstlich wäre, aber nun hielt ich mich dicht neben Jill und fürchtete mich vor dem Moment, an dem sie gehen würde. Mir wurde es ganz eng in der Brust bei dem Gedanken, der Zeitpunkt rückte unerbittlich näher, an dem sie nach Hause gehen und ich hungrig in ihren Schlafsack kriechen musste. Aber ich ließ mir natürlich nichts anmerken.

Axel legte seine Hand warm und schwer auf meine Schulter. Dann holte er eine Flasche Wodka aus der Plastiktüte, in der er seine ganze Habe verstaut hatte. Ich bekam die Flasche zuerst und nahm einen ordentlichen Schluck, dann Axel, dann das Mädchen. Sie schüttete sich ordentlich Wodka in den Rachen. Mir wurde warm und die Angst wich einem wohligen Gefühl. Ich sah noch, wie sie eine Weile in der Runde weiter schnorrte. Hier einen Schluck aus der Pulle, da ein Zug an einem Joint und da eine Zigarette. Schließlich wurde sie müde und legte sich zu ihrem Hund. Sie kuschelte sich eng an ihn und nahm ihn in ihre muskulösen braunen Arme. Sie war schön.

„Sina kann auf Händen laufen, Seiltanzen Radschlagen und Feuerspucken“, flüsterte mir Jill ins Ohr. „Für ihre Auftritte hat sie ein Flitterröckchen und eine glitzernde kleine Weste. Die Sachen hat sie im Knast genäht, wo sie eine Schneiderlehre machen musste. Morgen zeigt sie am Dom ihre Kunststücke, wenn sie die Kraft zum Aufstehen findet.“

Jill stand auf und ging. Sie musste um zehn zu Hause sein und hielt sich daran, weil sie Angst hatte, ihre Eltern würden sie wieder in die geschlossene Anstalt einweisen lassen. Jetzt war ich allein hier und hielt mich fest an Axel. Ich trank noch eine ganze Menge Wodka aus Axels Flasche. Und dann legte ich mich neben ihn zum Schlafen. Es war kalt geworden, der Boden war hart, in meinem Kopf drehte sich alles und die Angst kehrte zurück. Die Angst, Axel wäre doch nur ein besoffener, geiler Idiot, die Angst vor den Geräuschen im Dunkeln, von denen ich nicht sagen konnte, wo sie herkamen. Waren es Ratten oder Füchse, die in den Büschen raschelten und schnauften? Würden die Ratten nachts über mein Gesicht laufen? In der Ferne erkannte ich den Klang der Glöckchen der Schafe, die am Tag wie weiße Wolken über die Rheinwiesen zogen, und das gelegentliche müde Kläffen der Wachhunde, die sie treu umkreisten.

Wie ich es sehe

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