Читать книгу Heimatlos (mit Illustrationen) - Johanna Spyri, Johanna Spyri - Страница 14
Eine lange Reise
ОглавлениеRico hatte sich an jenem Sonntagabend in seiner dunklen Kammer auf seinen Stuhl gesetzt. Da wollte er bleiben, bis die Base zu Bett gegangen war.
Nachdem Stineli die Entdeckung gemacht hatte, wie die Reise nach dem See auszuführen wäre, kam Rico die Sache so leicht vor, daß er sich nur noch überlegen wollte, wann er am besten gehen könne. Er hatte ein Gefühl, daß die Base ihn vielleicht zurückhalten würde, wenn er auch wußte, daß er ihr nicht stark fehlen werde.
Als sie dann beim Heimkommen so auf ihn losschalt, dachte er: »So will ich gleich gehen, wenn sie im Bett ist.«
Als er nun so im Dunkeln auf seinem Stuhl saß, dachte er nach, wie schön es sein würde, wenn er nun viele Tage lang die Base nie mehr werde schelten hören, und welch große Büschel von den roten Blumen er dem Stineli mitbringen wolle, wenn er zurückkomme. Und dann sah er die sonnigen Ufer und die violetten Berge vor sich und war eingeschlafen.
Er war aber nicht in einer sehr bequemen Lage, denn die Geige hatte er nicht aus der Hand gelegt, daher erwachte er nach einiger Zeit wieder, es war aber noch ganz dunkel. Nun fiel ihm aber gleich alles ein. Er war noch in seinem Sonntagsanzug, das war gut. Seine Kappe hatte er noch von gestern her auf dem Kopf, die Geige nahm er unter den Arm, und so ging er leise die Treppe hinunter, schob den Riegel weg und zog in die kühle Morgenluft hinaus. Über den Bergen fing es schon leise an zu tagen und in Sils krähten die Hähne. Er ging tüchtig drauflos, damit er von den Häusern weg und auf die große Straße komme. Nun war er da und wanderte vergnügt weiter, denn da war ihm alles so wohlbekannt, er war oft mit dem Vater da hinaufgegangen. Wie lang es aber dauerte, bis man auf den Maloja gelangte, wußte er nicht mehr so genau, und es kam ihm lange vor, als er schon mehr als zwei gute Stunden gewandert war.
Nun kam nach und nach der helle Tag, und als er nach noch einer guten Stunde auf dem Platze vor dem Wirtshaus oben am Maloja angekommen war, da, wo er oft mit dem Vater die Straße hinuntergeschaut hatte, da lag ein sonniger Morgen über den Bergen, und die Tannenwipfel waren alle wie von Gold. Rico setzte sich an den Rand der Straße nieder, er war schon recht müde, und nun merkte er auch, daß er seit dem vorhergehenden Mittag nichts mehr gegessen hatte. Aber er war nicht verzagt, denn nun ging es bergab, und danach konnte plötzlich der See kommen. Wie er so dasaß, kam der große Postwagen herangerasselt. Den hatte er schon oft gesehen, wenn er bei Sils vorbeifuhr, und immer dabei gedacht, das höchste Glück auf Erden hätte ein Kutscher, der immerfort mit einer Peitsche auf einem Bock sitzen und fünf Rosse regieren könnte. Nun sah er einmal den Glücklichen in der Nähe, denn der Postwagen hielt an. Rico wandte nun kein Auge von dem merkwürdigen Mann, der von seinem hohen Sitz herunterkam, ins Wirtshaus eintrat und mit riesigen Stücken Schwarzbrot, über welchen ein großer Käse lag, wieder aus dem Hause trat.
Nun zog der Kutscher ein festes Messer hervor und zerteilte sein Brot, und einem Pferd nach dem anderen steckte er einen guten Bissen ins Maul. Zwischendurch kam er selbst an die Reihe, auf sein Stück Brot kam immer ein großes Stück Käse. Wie sie nun alle zusammen so vergnügt aßen, schaute der Kutscher sich ein wenig um, und mit einem Male rief er: »He, kleiner Musikant, willst du auch mithalten? Komm her!«
Erst seit Rico das Essen vor sich gesehen, hatte er gemerkt, wie sehr er Hunger hatte. Er folgte gern der Einladung und trat zu dem Kutscher heran. Der schnitt ihm ein herrlich großes Stück Käse ab und legte dieses auf ein viel dickeres Stück Brot, so daß Rico kaum wußte, wie er die Dinge bewältigen solle.
Er mußte seine Geige ein wenig auf den Boden legen. Der Kutscher schaute freundlich zu, wie Rico in sein Frühstück biß, und während er selbst sein Geschäft fortsetzte, sagte er:
»Du bist noch ein kleiner Geiger, kannst du denn auch etwas?«
»Ja, zwei Lieder, und dann noch das vom Vater«, antwortete Rico.
»So, und wo willst du denn auf deinen zwei kleinen Beinen hin?« fuhr der Kutscher fort.
»Nach Peschiera am Gardasee«, war Ricos ernsthafte Antwort.
Jetzt entfuhr dem Kutscher ein so kräftiges Gelächter, daß Rico erstaunt zu ihm aufsah.
»Du bist ein guter Fuhrwerker, du«, lachte der Kutscher noch einmal. »Weißt du denn nicht, wie weit das ist und daß ein schmales Musikäntlein, wie du eins bist, sich beide Füße mitsamt den Sohlen durchliefe, bevor es einen Tropfen Wasser vom Gardasee gesehen hätte? Wer schickt dich denn dort hinunter?«
»Ich gehe von selber«, sagte Rico.
»So etwas ist mir noch nicht vorgekommen«, lachte der Kutscher gutmütig. »Wo bist du daheim, Musikant?«
»Ich weiß es nicht recht, vielleicht am Gardasee«, erwiderte Rico völlig ernst.
»Ist das eine Antwort!« Jetzt schaute der Kutscher den Knaben vor sich genau an. Wie ein verlaufenes Bettelbüblein sah der Rico nicht aus. Der schwarze Lockenkopf über dem Sonntagsanzug sah recht stattlich aus, und das feine Gesichtchen mit den ernsthaften Augen trug einen edlen Stempel. Man schaute es gern noch einmal an, wenn man es gesehen hatte.
Dem Kutscher schien es auch so zu gehen, er schaute den Rico fest an und dann noch einmal richtig, dann sagte er freundlich: »Du trägst deinen Paß auf dem Gesicht mit, Büblein, und es ist kein schlechter, wenn du auch nicht weißt, wo du daheim bist. Was gibst du mir nun, wenn ich dich neben mich auf den Bock nehme und dich weit hinunterbringe?«
Rico staunte, als wäre es fast nicht möglich, daß dieser Mann diese Worte wirklich ausgesprochen habe. Auf dem hohen Postwagen ins Tal hinuntergefahren, ein solches Glück hätte er nie für sich für möglich gehalten. Aber was konnte er dem Kutscher geben?
»Ich habe nichts als eine Geige, und die kann ich Euch nicht geben«, sagte der Rico traurig nach einigem Überlegen.
»Ja, mit dem Kasten wüßte ich auch nichts anzufangen«, lachte der Kutscher. »Komm, nun sitzen wir auf, und du kannst mir ein wenig Musik machen.«
Rico traute seinen Ohren nicht, aber wahrhaftig! der Kutscher schob ihn über die Räder auf den hohen Sitz hinauf und kletterte nach. Die Reisenden waren wieder eingestiegen, der Wagen wurde zugeschlagen, und nun ging's die Straße hinunter, die bekannte Straße, die Rico sich so oft von oben her angeschaut und gewünscht hatte, da hinunterzukommen. Nun war die Erfüllung da und wie schön! Hoch oben zwischen Himmel und Erde flog der Rico dahin und konnte es noch immer fast nicht glauben, daß er es selber sei.
Der Kutscher wunderte sich nun doch ein wenig, wem denn das Büblein neben ihm gehören könnte.
»Sag mir einmal, du kleine fahrende Habe, wo ist denn dein Vater?« fragte er.
»Der ist tot«, antwortete Rico.
»So, und wo ist deine Mutter?«
»Die ist tot.«
»So, und dann hat man noch etwa einen Großvater und eine Großmutter, wo sind diese?«
»Die sind tot.«
»So, so, aber einen Bruder oder eine Schwester hast du ja sicher. Wo sind die hingekommen?«
»Sie sind tot«, war immer Ricos traurige Antwort.
Als nun der Kutscher sah, daß alles tot war, ließ er die Verwandtschaft in Ruhe und fragte nur: »Wie hieß dein Vater?«
»Enrico Trevillo von Peschiera am Gardasee«, erwiderte Rico.
Nun überlegte der Mann sich die Dinge ein wenig und dachte sich: Das ist ein verschlepptes Büblein von da unten herauf, und es ist gut, daß es wieder an seinen Ort kommt. Dann ließ er die Sache liegen.
Als nun nach der ersten steil abwärts gehenden Strecke der Bergstraße der Weg etwas ebener wurde, sagte der Kutscher: »So, Musikant, nun spiel einmal ein lustiges Liedlein auf.«
Da nahm Rico die Geige vor und war so fröhlich da oben auf seinem Thron, unter dem blauen Himmel hinfahrend, daß er mit der hellsten Stimme anfing und kräftig drauflossang:
»Ihr Schäflein hinunter
Von sonniger Höh' –«
Drinnen im Wagen machten die Reisenden alle Fenster auf und steckten die Köpfe heraus, um den frohen Gesang zu hören. Dann fing Rico von neuem an, und die Studenten sangen von neuem mit und teilten das Lied in Soli und Chöre. Da sang die Solostimme ganz feierlich:
»Und ein See ist wie ein andrer
Von Wasser gemacht.«
und dann wieder:
»Und tät' er nichts denken,
So tät' ihm nichts weh.«
und dazwischen fiel der Chor ein, und sie sangen mit aller Kraft:
»Und die Schäflein und die Schäflein –«
und danach wollten sie sich wieder totlachen und konnten eine ganze Weile vor Gelächter nicht weitersingen.
Aber nun hielt der Kutscher auf einmal still, denn es mußte haltgemacht und ein Mittagessen eingenommen werden. Als er Rico hinunterhob, hielt er ihm sorgfältig seine Kappe fest, denn da war all das Geld drin, das die Reisenden ihm zugeworfen hatten, und Rico hatte genug zu tun, seine Geige zu halten.
Der Kutscher war recht vergnügt, als er die Kappe in Ricos Hand zurückgab, und sagte: »So ist's recht, nun kannst du auch Mittag essen.«
Die Studenten sprangen hinunter, einer nach dem anderen, und alle wollten nun den Geiger sehen, denn sie hatten ihn von ihren Sitzen aus nicht richtig sehen können. Als sie nun das schmächtige Männlein sahen, da ging die Verwunderung und die Heiterkeit erst recht wieder los. Sie hätten der guten Stimme nach einen größeren Menschen erwartet, nun war der Spaß doppelt groß. Sie nahmen das Büblein in ihre Mitte und zogen mit Gesang ins Wirtshaus ein. Da mußte denn der Rico an dem schöngedeckten Tisch zwischen zwei der Herren sitzen, und sie sagten, er sei nun ihr Gast, und legten ihm alle drei miteinander jeder ein Stück auf den Teller, denn keiner wollte ihm weniger geben. Ein solches Mittagessen hatte Rico in seinem ganzen Leben noch nie eingenommen.
»Und von wem hast du dein schönes Lied, Geigerlein?« fragte nun einer von den dreien.
»Vom Stineli, es hat es selbst gemacht«, antwortete Rico ernst.
Die drei sahen sich an und brachen wieder in ein neues, schallendes Lachen aus.
»Das ist schön vom Stineli«, rief der eine, »nun wollen wir es gleich hochleben lassen.«
Rico mußte auch anstoßen und tat es fröhlich auf Stinelis Gesundheit.
Nun war die Zeit um, und als man wieder zum Wagen herantrat, kam ein dicker Mann auf Rico zu, der hatte einen so großen Stock in der Hand, daß man denken konnte, er habe einen jungen Baum ausgerissen. Er war in einen festen, gelbbraunen Stoff von oben bis unten gekleidet.
»Komm her, Kleiner«, sagte er, »du hast so schön gesungen. Ich habe dich hier drinnen im Wagen gehört, und ich habe es auch wie du mit den Schafen zu tun. Weißt du, ich bin ein Schafhändler, und weil du so schön von den Schafen singen kannst, sollst du von mir auch etwas haben.« Damit legte er ein schönes Stück Silbergeld in Ricos Hand, denn die Kappe war inzwischen geleert und alles in die Tasche gesteckt worden.
Dann stieg der Mann auf seinen Platz in den Wagen und Rico wurde vom Kutscher wie eine Feder hinaufgehoben, und dann ging's wieder davon.
Wenn der Wagen nicht zu rasch fuhr, wollten die Studenten immer gleich Musik haben, und Rico spielte alle Melodien, deren er sich nur noch vom Vater her erinnern konnte. Zuletzt spielte er noch: »Ich singe dir mit Herz und Mund.«
Bei dieser Melodie mußten die Studenten ganz sanft eingeschlafen sein, denn es war alles still geworden. Nun schwieg die Geige auch, und der Abendwind kam milde herangeweht, und leise stiegen die Sternlein am Himmel auf, eins nach dem andern, bis sie ringsum strahlten, wo Rico auch hinsah. Und er dachte an Stineli und die Großmutter, was sie nun tun würden, und es fiel ihm ein, daß um diese Zeit die Betglocke läutete und die beiden ihr Vaterunser beteten. Das wollte er auch tun. Es war dann so, als ob er bei ihnen wäre, und Rico faltete die Hände und betete unter dem leuchtenden Sternenhimmel andächtig sein Vaterunser.