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In der Schule
ОглавлениеRico war fast neun Jahre alt und hatte schon zwei Winter hindurch die Schule besucht, denn im Sommer gab es da droben in den Bergen keine Schule; da hatte der Lehrer seinen Acker zu bebauen und zu mähen und zu hauen wie alle anderen Leute, zur Schule hatte dann niemand Zeit. Das tat aber Rico nicht besonders leid, er wußte sich schon zu unterhalten. Wenn er sich am Morgen dort auf die Türschwelle gestellt hatte, so blieb er stehen, schaute mit träumenden Augen hinaus und bewegte sich nicht. So konnte er stundenlang stehen, falls nicht drüben am anderen Häuschen die Türe aufging und ein kleines Mädchen herauskam und lachend zu ihm herüberschaute. Dann lief Rico schnell hinüber, und die Kinder hatten sich seit gestern abend, wo sie sich zuletzt gesehen hatten, schon wieder viel zu erzählen, bevor Stineli ins Haus gerufen wurde. Stineli hieß das Mädchen und war genau so alt wie Rico. Sie hatten miteinander angefangen, in die Schule zu gehen, und waren in derselben Klasse, und schon immer waren sie beieinander gewesen, denn es war ja nur ein schmaler Weg zwischen ihren Wohnungen, und sie waren die allerbesten Freunde.
Rico hatte auch nur diese einzige Freundschaft, denn mit den Buben ringsum hatte er keine Freude, und wenn sie sich prügelten und auf dem Boden herumwarfen und sich auf die Köpfe stellten, dann ging er davon und schaute nicht einmal zurück. Wenn sie aber riefen: »Jetzt wollen wir einmal den Rico verprügeln«, dann stand er still und stellte sich gerade hin und machte gar nichts; aber er schaute sie mit den dunklen Augen so merkwürdig an, daß ihn keiner anpackte.
Aber beim Stineli war's ihm wohl zumute. Stineli war wohl kaum neun Jahre alt, aber es war die älteste Tochter und mußte der Mutter überall helfen, und da war viel zu tun. Denn nach dem Stineli riefen aus allen Ecken die Kleinen.
In dem Häuschen aber war noch jemand, der dann und wann nach dem Stineli rief, das war die alte Großmutter. Die rief aber nicht, damit es ihr noch helfe, sondern sie hatte ihm etwa einen Pfennig zu geben, der ihr in die Hand kam, oder sonst etwas, denn Stineli war ihr Liebling, und sie sah mehr als irgend jemand sonst, wieviel das Stineli für sein Alter schon tun mußte, mehr als die meisten Kinder. Darum gab sie ihm gern etwas, damit es sich auch wie andere Kinder auf dem Jahrmarkt etwas kaufen könne, etwa ein rotes Bändeli oder ein Nadelbüchsli. Die Großmutter war auch zu Rico sehr gut und sah die Kinder gern beisammen und tat auch manchmal etwas für das Stineli, damit es mit dem Rico noch ein wenig draußen bleiben durfte.
Jetzt war es Mai, und eine kleine Zeit konnte die Schule noch dauern, lange konnte es zwar nicht mehr sein, denn es grünte unter den Bäumen, und große Strecken waren ganz frei von Schnee. Rico stand seit einer guten Weile vor der Tür und stellte diese Betrachtungen an. Dabei schaute er immer drüben zu der Tür, ob sie noch nicht aufgehen wolle. Jetzt ging sie auf, und Stineli kam herausgesprungen.
»Hast du schon lang dagestanden? Hast du wieder gestaunt, Rico?« rief es lachend. »Siehst du, heut ist es noch früh, wir können langsam gehen.«
Jetzt nahmen sie einander bei der Hand und wanderten der Schule zu.
»Denkst du immer noch an den See?« fragte Stineli im Gehen.
»Ja, gewiß«, versicherte Rico mit ernstem Gesicht, »und manchmal träumt es mir auch davon und ich sehe so große, rote Blumen daran und drüben die violetten Berge.«