Читать книгу Und in uns der Himmel - Johannes Albendorf - Страница 8

II.

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Nie werde ich das Gefühl vergessen, das mich jedesmal beim Betreten des Burggrafer Domhügels durchfuhr. Vor allem an jenem ersten Tag vor vielen Jahren, als ich zum Seminar reiste - weder ein schwerer Rucksack noch zwei wuchtige Koffer konnten meine Vorfreude trüben, denn es war, als würde ich in die Dimensionen einer ganz anderen, einer geistigen Welt eintauchen, einer Welt, in der die Uhren langsamer zu ticken schienen und die Zeit nicht in Minuten und Stunden, sondern in Jahrzehnten und Jahrhunderten gemessen wurde.

Zunächst führte mein Weg durch den von hohen Häusern beengten Dominikanergang mit seinen scharfen Kurven und dem glitschigen Kopfsteinpflaster, doch nach der letzten Biegung tat sich ein riesiges Plateau auf: Unvermittelt stand ich vor dem mächtigen und zugleich verspielt wirkenden Burggrafer Dom mit seinen prächtigen Mittelschiffen und dem gotischen Paradies, alles bewacht von einem barocken Türmchen über der Vierung. Paradiesisch auch die dort vorherrschende Stille; der Lärm der Stadt war nur mehr eine Ahnung, vom melancholischen Gesang einer Amsel verweht. Üppig bepflanzte Blumenkübel verströmten einen geradezu verstörend sinnlichen Duft.

Ich ging um die gewaltige Westfassade des Doms herum und da lag es, mein Ziel, das erzbischöfliche Priesterseminar mit der benachbarten katholischen Fakultät.

Mein ganzes Leben schien mit einer meist fließenden Selbstverständlichkeit auf diesen Moment hin gelebt worden zu sein, denn ich war in Gott verliebt, anders kann ich es nicht formulieren – und ich bin es heute noch, trotz allem.

Oder gerade deswegen.

Erfüllt von Vorfreude und gleichzeitig vom Frieden des Ankommenden durchströmt, schleppte ich mein Gepäck durch das blutrot gestrichene Eingangstor des Seminars, welches von einem reich geschmückten Wappen gekrönt war.

In der großen Eingangshalle war die Pförtnerloge unbesetzt und es war kühl. Sofort tat sich eine Tür am hinteren Ende des langen Ganges auf und der Herr Regens trat heraus und begann, wie ein Rollschuhläufer auf mich zuzuschweben.

Einigermaßen erstaunt stellte ich meine Koffer ab. Als Leiter des Priesterseminars ist der Regens eine überaus würdevolle Respektperson, er hat die Oberaufsicht sowohl über die wirtschaftlichen Belange des Seminars als auch für die Beurteilung der Weihekandidaten.

Zudem war Anton Kotulla damals ein Mann in den späten Fünfzigern. Eher von schmaler Statur rollschuhte er also leicht vornübergebeugt auf mich zu, mit den ruckartigen Bewegungen einer Elster, die sich in einer für sie völlig fremden Umgebung verirrt hat und sich nun mit verkrampfter Gesamtmotorik und skeptischen Blicken zurechtzufinden sucht. Sein weißer Haarkranz war von gelblichen Flecken durchzogen und sein Brillengestell war zu filigran für eine grobporige Nase, die aussah, als hätte Hochwürden des öfteren mal eine verpasst bekommen.

Seine rechte Gesichtshälfte verzog sich in Richtung Stirn, was sich mit einigem guten Willen als Willkommenslächeln interpretieren ließ. Ich reichte ihm meine Hand und er wich unmerklich zurück, umfasste sie flüchtig mit geübtem Händedruck.

»Ah, unser letzter Neuzugang! Kommen Sie, ich werde Ihnen ihr Zimmer zeigen. Dort können Sie sich ein bisschen frisch machen, nicht wahr! Um viertel nach sechs findet in der Seminarkirche die Vesper statt und danach treffen wir uns im Refektorium zum Essen. Kommen Sie, kommen Sie!«

Ich wollte ihm folgen – und wäre beinahe ausgerutscht. Endlich verstand ich seine Art der Fortbewegung. Also passte ich mich an und rollschuhte in rhythmischer Eintracht hinter ihm her – bis wir zu einer ausladenden und gerundeten Treppe gelangten und abrupt bremsen mussten. Die Treppe führte zu den Zimmern der Priesteramtskandidaten im zweiten Stock.

»So, da wären wir schon.« Schwungvoll öffnete Kotulla dort oben die hinterste Tür auf der rechten Seite des von der Treppe wegführenden Gangs und breitete seine Arme aus.

»Ich bin gleichsam wie Jesus, der Ihnen die Pforten zum Paradiese öffnet, nicht wahr?!«

Pflichtschuldigst schmunzelte ich über diesen, wie ich fand, überaus anmaßenden Vergleich.

»Das also wird Ihr Zimmer sein. Unsere Stille kann man als klausurmäßig und streng bezeichnen und das ist gut so, denn die Stille ist das Tor zum Himmel.«

Das war mir klar und ich nickte.

»… und das gilt für einen noch unerleuchteten Priesteramtskandidaten natürlich in besonderem Maße!«

Kurz nickte er mir zu und verschloss die Tür – von außen.

Nach einer verdutzten Minute stellte ich mein Gepäck ab und trat als erstes an die große Fensterfront. Alle Zimmer des obersten Stockwerks waren durch einen langen, durchgehenden Balkon miteinander verbunden. Ich trat auf denselbigen und atmete tief durch. Vor meinen Augen tat sich ein fast mediterran flirrender Innenhof auf. Sein plätschernder Brunnen fing die Strahlen der Sonne auf und ein uralter Kastanienbaum flutete beruhigendes Grün bis in die obersten Stockwerke. Ein Rabe saß auf der Balkonrüstung und beobachtete mich mit schräg gelegtem Kopf.

Ich verscheuchte den Vogel und ging wieder hinein, ließ den Sommerwind mein neues Zuhause erkunden: den großen, knarzenden Schrank und das schmale Bett, die Bücherborde und den Schreibtisch, auf dem sich ein Lilienstrauß als Willkommensgruß fand. Über dem Bett hing ein Gemälde des Erzengels Michael und beherrschte den Raum.

Ich entkleidete mich und schlüpfte unter die Dusche im kleinen Badezimmer. Das Wasser rauschte und auf einmal spürte ich jedes Wassermolekül ebenbürtig in mir tosen, wie ein Echo oder vielmehr, als hätte es einen Zwilling oder Spiegel in mir. Ich schüttelte meinen Kopf mit den nassen, blonden Haaren, übersprühte das ganze Bad mit tausenden von Tropfen und als sie die Fliesen und das Spiegelglas herabzufließen begannen, sahen sie aus wie Freudentränen. Ich betrachtete mich im Spiegel und sah einen athletischen, jungen Mann, der studieren würde, viel Sport trieb - und irgendwann heiraten, eine Familie gründen und seine blauen Augen und sein blondes Haar weitervererben würde - so würde jedermann und jederfrau denken oder hoffen – Irrtum! Jahrelanges Schwimmen und Laufen hatten zwar meinen Körper geformt und ich fühlte mich wohl in ihm - dennoch suchte er keine menschliche Ergänzung und ich litt nicht darunter, hatte es selten auch nur bedauert.

Ich rubbelte mich trocken und begann auszupacken, schob als erstes meine Bücher in die Regale, geordnet nach Sachgebieten und persönlicher Vorliebe – Theologie, Spiritualität, Philosophie und Psychologie, Kunst- und Kirchengeschichte, einiges Belletristisches.

Wäsche und Kleidung kamen in den Schrank, die Waschutensilien in das immer noch von Tropfen übersprühte Bad und die leeren Koffer unters Bett. Dann zog ich mich an – und wartete.

Es war so still. Man könnte meinen, allein im Haus zu sein. Um sechs Uhr ging ich in die Seminarkirche.

Und in uns der Himmel

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