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Und was geschah dann? Industrialisierung und Flucht in Wirklichkeiten

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Mit dem Siegeszug der Industrialisierung und dem damit verbundenen Wertewandel erfuhr das Esoterische vor allem im beginnenden 20. Jahrhundert einen nie dagewesenen Aufschwung. Der seinen bisherigen Bezugssystemen entrissene Mensch sah sich angesichts des zunehmenden Diktats von Technik und Zweckmäßigkeit nun endgültig einem viel zu aufgeklärten, alles verschlingenden Kosmos gegenüber. Drehte sich die Welt seit Beginn der Aufklärung mehr und mehr wie ein wundervolles großes Uhrwerk, so war das Getriebe des Daseins Ende des 19. Jahrhunderts zu einer alles zermalmenden Tretmühle geworden. Der Mensch, die ehemalige Krone der Schöpfung, fand sich plötzlich als Sklave seiner eigenen Schaffenskraft wieder. Stechuhr und Rationalitätsdoktrin bestimmten seine Existenz. Der, der sich nach dem Ebenbild Gottes geformt glaubte, war unversehens nur mehr ein kleines Rädchen, verloren im großen Apparat des Kapitalismus. Eben nur mehr das, was Charlie Chaplin in seinem Film „Modern Times“ so sinnbildlich zum Ausdruck bringt: ein Niemand, verloren im übermächtigen System, ein bloßer Spielball des Fortschritts.

Wen wundert’s, wenn Funktionalismus und technokratische Rationalität für viele schon damals zum Feindbild par excellence wurden? Man konnte mit der Modernisierung kaum noch Schritt halten. Und so erwuchs die Sehnsucht nach einer neuen Menschlichkeit, einer neuen Menschheit. Eine Besinnung auf das Wesentliche, eine neue Innigkeit wurde gepriesen. Die zu dieser Zeit kursierenden Ahnenlehren und Kosmologien zeugen von dem Verlangen, dem Menschen ein Gefühl von Wert und vor allem Mächtigkeit wiederzugeben. Vieles wurde unternommen, was einer „Wiederverzauberung“ der Welt dienlich sein sollte.

Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts könnte man demnach als großes Projekt gemeinschaftlicher Wirklichkeitsflucht bezeichnen. Und hier meinen wir vor allem die Flucht in Wirklichkeiten. Okkulte Strömungen und magische Weltsichten schossen wie die Pfifferlinge aus dem Boden. Und so markierte dieser Abschnitt einen ersten Kulminationspunkt einer durch viele Bevölkerungsschichten dringenden, esoterischen Breitenströmung. Was Helena Blavatsky, die Grande Dame des Okkultismus, noch im Jahre 1875 als „die Geheimlehre“ [2] (The Secret Doctrine) etikettierte, verdiente ein halbes Jahrhundert später kaum mehr den Namen. Das ehemals noch Verborgene, die einstigen Geheimnisse avancierten zu einer Art esoterischen Mode. Und diese präsentierte sich beinahe schon im Gewand einer Massenbewegung.

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