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INTRO

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Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die der Staat nicht schaffen kann. Dieses Diktum des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, das er 1964 in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Religion in etwas anderem Wortlaut formulierte1, ging mir an einem Abend im Herbst 2016 im Berliner Gorki-Theater durch den Kopf. Auf der Bühne trugen zwei Schauspielende Reden aus den Reihen der Alternative für Deutschland (AfD) vor. Gauland, Höcke, von Storch, Bystron, Hampel: 75 Minuten lang »Rechte Reden« (so der Titel der »Performance«). Das Stück hatte keine Dramaturgie, keine Handlung, keine Helden oder Bösewichte – es war eine Aneinanderreihung von Originalreden des AfD-Personals. Den beiden Schauspielenden, Mely Kiyak und Thomas Wodianka, gelang es dabei, die Mimik, Gestik und Rhetorik der Politiker, etwa den »Führer«-Duktus von Björn Höcke, originalgetreu und kaum übertrieben nachzuahmen. Das Publikum war jung, urban und divers – aber nur äußerlich, politisch stand es geschlossenen in maximaler Distanz zur AfD. Als sich Mely Kiyak in der für Beatrix von Storch typischen hohen Stimmlage über »Gender Mainstreaming« in Rage redete, ging meine Sitznachbarin vor Lachen zu Boden. Überhaupt wurde sehr viel gelacht an diesem Abend. Es wirkte zu wahnsinning, um wahr zu sein. Für Menschen auf dem Erfurter Domplatz oder in der Essener Grugahalle beschreiben diese Reden die politische Lage in unserem Land ziemlich zutreffend. Für das hippe Berliner Publikum waren sie in erster Linie Comedy. Eine gute Abendunterhaltung. Ich musste an diesem Abend an das Böckenförde-Diktum denken, weil ich mir nicht sicher war, ob der Konsum von Rechtspopulismus als Entertainment uns eine Haltung ermöglicht, die es erlaubt, die von Böckenförde eingeforderte »moralische Substanz des Einzelnen«, das demokratische Ethos der Bürgerinnen und Bürger, zu praktizieren. Ohne eine solche Grundeinstellung, Aristoteles nannte sie im Jahr 332 vor Christus »die Tugend der Bürger«, kann ein demokratischer Staat auf lange Sicht nicht überleben, mahnte Böckenförde. Denn wenn er seine freiheitlichen Ziele, zum Beispiel Toleranz und die Anerkennung von Andersartigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger, mit Zwang durchsetzen müsste, wäre er kein freier Staat mehr, sondern ein autoritärer.

Mir scheint, als wäre das demokratische Ethos des Einzelnen heute besonders gefordert. Vier Jahre lang haben wir die Präsidentschaft von Donald John Trump wie eine Realityshow konsumiert. Trump ist ein Entertainer. Mit seinem Bühnentalent zog er stets die Aufmerksamkeit von Menschen auf sich, ganz egal, ob sie seine Politik unterstützten oder nicht. Diejenigen, die Wut und Frust über die für sie ausbleibende demokratische Dividende verspüren und denen Trump eine Ausgleichszahlung versprach, klatschten euphorisch. Diejenigen, die Trump ablehnen, konnten sich trotz aller Abscheu ein Lachen oftmals nicht verkneifen. Zu maßlos, zu abgedreht und wahnwitzig erscheint ein autoritärer Populist wie der 45. Präsident der Vereinigten Staaten für die liberalen Kreise.

Während Trumps Präsidentschaft hieß es häufig, was er tue und sage, hätten sich nicht mal die Autoren der amerikanischen Polit-Soap »House of Cards« in fiktiver Form gewagt. Überhaupt wurde die Parallele zum Show-Format bei Trumps Regierungsstil oft gezogen. Sie ist auch nicht ganz falsch, erinnert man sich etwa an die allererste Sitzung seines Kabinetts. Die Presse durfte entgegen der Gepflogenheiten auch nach dem offiziellen Sitzungsbeginn im Raum bleiben, um Zeuge der Eingangsstatements der Ministerinnen und Minister zu werden. Diese trieften nur so vor Lob, Heuchelei und Unterwürfigkeit gegenüber dem Präsidenten. Eine Inszenierung, die aus Russland oder Nordkorea hätte stammen können. Oder als sich Trump am Ende seiner Amstzeit mit Covid-19 infiziert hatte: Seine Rückkehr mit dem Helikopter aus dem Krankenhaus ins Weiße Haus verfilmte er so opulent wie das große Finale eines Hollywoodfilms, bei dem das Gute doch wieder über das Böse gesiegt hat. Dramatische Musik, 15 Kamereinstellungen in nur 37 Sekunden, Trump gefilmt aus der Untersicht. Die Botschaft: Der Held hat das böse Virus bezwungen, mit seiner Immunität kehrt er stärker zurück als er jemals war. Den Clip veröffentlichte Trump auf Twitter. Zahlreiche journalistische Medien verbreiteten später mindestens Ausschnitte aus dem PR-Video. Die Bilder waren zu stark, um nicht gezeigt zu werden. Doch ein Entertainer kann nur dann erfolgreich sein, wenn sich sein Publikum auch unterhalten lässt. Wenn wir also im Modus der Unterhaltung auf Populismus reagieren, zum Beispiel mit Gelächter oder Erstaunem – statt mit inhaltlicher Kritik. Wenn wir uns in sozialen Netzwerken die Mühe machen, Bilder zu persiflieren, auf denen Trump stolz seine Unterschrift unter Dekreten präsentiert, die Muslimen die Einreise in die USA verbieten oder Beratungseinrichtungen für Abtreibung die Hilfsgelder streichen. Wenn seriöse Medien in ihrem Politik(!)-Ressort über Trumps Tippfehler auf Twitter (»covfefe«) berichten. Oder DER SPIEGEL einen Bühnenkritiker das selbstheroisierenden Video von Trump zu seiner Krankenhaus-Entlassug nach cineatischen Kriterien analysieren lässt. Dann spielen wir die Reality-Show mit, erlauben Politikern Clowns zu sein, sehen einen Rassisten wie Trump primär als fleischgewordenes Wut-Emoji, seine das Kapitol stürmenden Anhänger als kuriose »Büffel-Männer« statt gemeingefährliche Verschwörungsideologen. Dann verhalten wir uns selbst wie Besucher eines Mitmachzirkus, nicht wie Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie. Doch Clowns sind keine Anführer, sondern Verführer. Sie schaffen eine Fiktion und schaffen Fakten ab, machen aus der Demokratie eine Popcorn-Autokratie. Die absolut verrückt anmutenden Handlungen von Rechtspopulisten entpuppen sich daher als absolut strategisch, um Bilder zu schaffen, Themen zu setzen und von anderen abzulenken, um vorher undenkbare Deutungsrahmen und politische Maßstäbe in den Diskurs einzuschleusen, die – ob wir wollen oder nicht – im Unterbewusstsein ihre Wirkung entfalten.

Wenn man sich dem radikalisierten Rechtspopulismus entgegenstellen möchte, dann muss man analysieren, was die Ursachen für und die Mittel zum Erfolg dieser Kräfte sind. Mit Blick auf die Ursachen werden in der wissenschaftlichen Debatte etwa die ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen der Modernisierungs- und Transformationsprozesse der heutigen Zeit verhandelt. Michael Sandel, Philosophieprofessor in Harvard, macht unter anderem die steigende Einkommensungleichheit, die stark abnehmende Würdigung traditioneller Arbeitsformen im Zuge der Digitalisierung sowie das mangelnde Angebot eines Gemeinschaftsgefühls durch liberale Kräfte für Trumps Wahlsieg in den USA verantwortlich.2 Der Soziologe Didier Eribon beschreibt in seinem Roman »Rückkehr nach Reims«, wie weite Teile des französischen Arbeitermilieus beim Front National (heute: Rassemblement National) eine neue politische Heimat gefunden haben, weil sie sich von den linken »Arbeiterpateien« nicht mehr vertreten fühlten. Oliver Nachtwey, deutscher Soziologe, diagnostiziert in seinem Essay »Abstiegsgesellschaft« eine unter Druck stehende Mittelschicht, die zwar selbst noch mehrheitlich in Normalarbeitsverhältnissen steht, aber den Schweiß der Leiharbeiter und anderer prekär Beschäftigter am eigenen Arbeitsplatz schon riechen kann. All das sind lesenswerte Analysen, die sich den Ursachen für den Erfolg von Rechtspopulisten in westlichen Gesellschaften widmen.

Das vorliegende Buch lenkt den Fokus auf die Frage, mit welchen Mitteln es den Populisten gelingt, aus den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen politisches Kapital zu schlagen. Schließlich ist es kein Naturgesetz, dass rechte Populisten gewinnen, wenn moderate Kräfte Vertrauen verlieren. Erfolgreiche rechtspopulistische Bewegungen haben eine Sache gemein: Sie sind die Spitzenverdiener der Aufmerksamkeitsökonomie. Das heißt, ihnen gelingt es am erfolgreichsten, mitunter völlig überproportional zu ihrer politisch-institutionellen Bedeutung, das knappe Gut der Aufmerksamkeit in der medial und digital vermittelten Öffentlichkeit an sich zu reißen. Sie kommunizieren und inszenieren auf eine Weise, die perfekt mit den journalistischen wie auch algorithmischen Auswahl- und Darstellungslogiken unserer heutigen Öffentlichkeit korrespondiert. Deshalb bemühten sich mehr Journalistinnen und Journalisten um eine Akkreditierung für den AfD-Bundesparteitag 2017 in Köln als für den CDU-Parteitag im Dezember 2016 in Essen. Deshalb kamen zum Wahlkampfauftakt von Geert Wilders in den Niederlanden am 18. Februar 2017 fast genauso viele Medienschaffende wie Parteianhänger. Und deshalb wurde Donald Trump im US-Wahlkampf 2016 Gratissendezeit im Gegenwert von knapp 5,8 Milliarden Dollar für seine provokanten Äußerungen zuteil – mehr als doppelt so viel wie bei Hillary Clinton. Zusätzlich bauen rechtspopulistische Akteure mit großem Erfolg digitale Kommunikationskanäle auf und werden dabei selbst zum Medium. Sie produzieren ihre eigenen Talkshows und Dokus, erreichen unter Umgehung journalistischer Einordnungen Millionen Menschen mit ihrer Version der »Wahrheit« und versorgen sie gleichzeitig mit Emotionen und einem Identitätsangebot, das ein starkes Wir-Gefühl auf Grundlage der Abgrenzung zu »den Anderen« befördert. Stark verdichtet lautet die Grundthese dieses Buches: Der elektorale Erfolg rechtspopulistischer Kräfte hängt direkt mit ihrem kommunikativem Erfolg in den Strukturen der massenmedialen und digitalen Öffentlichkeit zusammen. Der gesellschaftliche Kontext wie die ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen der Globalisierung – nachzulesen bei Sandel, Eribon oder Nachtwey – waren für den Aufstieg der Rechtspopulisten eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Doch weil die Rechtspopulisten Politik durch Propaganda machen, sich selbst in einem »Informationskrieg« wähnen und Teile der Gesellschaft in eine Gegenöffentlichkeit mobilisiert haben, entfaltet sich ihr immenser politischer Einfluss. Das Machtprinzip lautet: power through propaganda.

Dieser Erfolg lässt sich nur unzureichend durch den Blick auf ihre Wahlergebnisse erfassen. Es greift analytisch und normativ zu kurz, wenn der Einzug der AfD in den Bundestag als bloßes »Nachholen einer europäischen Normalität« gedeutet wird, wozu sich viele Kommentatoren nach der Bundestagswahl 2017 angesichts der zum Teil jahrzehntelangen Präsenz von rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in den Parlamenten zahlreicher europäischer Länder hinreißen ließen. Aus normativer Sicht eignet sich dieser Zustand nicht als »Normalität«, weil dem Rechtspopulismus ein antipluralistischer und damit demokratischen Prinzipien widerstrebender Charakter innewohnt, wie später noch ausführlicher erörtert wird. Zu oberflächlich ist diese Analyse, weil sie die zentrale Einflusssphäre dieser Akteure übersieht: Denn Politik machen die Rechtspopulisten mittels Sprache im öffentlichen Diskurs, nicht mit Sitzen im Parlament. Ganz im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault konstruieren Rechtspopulisten durch ihre extreme Sprache eine andere Version der Wirklichkeit. Kriegsflüchtlinge werden zu »Invasoren«, die Diskriminierung von Minderheiten zur »Meinungsfreiheit«, die Willkommenskultur zur »Volksverhetzung« und kritische Berichterstattung zur »Zensur«. Die Kategorien »normal« und »problematisch« werden mit völlig neuen Inhalten gefüllt. Rechtspopulisten verändern die Realität vielmehr durch Sprache als durch Gesetze – doch ihre Umdeutungen schlagen sich dennoch in politischen Entscheidungen nieder.

Wie wenig sie hingegen an ihren parlamentarischen Aufgaben interessiert sind, zeigen die Fraktionen der AfD in deutschen Landtagen. Fünf Jahre nach ihrer Gründung saß die Partei bereits im Bundestag und allen Landesparlamenten der Republik. Politikwissenschaftler des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) kamen in einer Studie über die AfD-Landtagsfraktionen zu dem Schluss: »Die Arbeit im Plenum wird weniger zur konstruktiven Kontrolle der Regierung genutzt als vielmehr als Bühne für Protest und Provokation, die über Social-Media-Kanäle gestreut werden können.«3 Und auch die ersten vier Jahre der AfD im Bundestag lassen sich so resümieren: Inszenierung geht über Inhalte.

Dem Phänomen der diskursiven Einflussnahme auf die Politik durch Rechtspopulisten widmet sich der erste Teil dieses Buches. An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich der analytische Schwerpunkt dieses Buch zwar auf die AfD konzentriert, aber Rechtspopulismus vor allem als ein europäisches Phänomen verstanden wird, dessen nationalistisch orientierte Protagonisten – so widersprüchlich das klingen mag – so europäisch vernetzt sind wie nie zuvor. Dieser erste Teil des Buches trägt den Titel »Das Rennen nach rechts«, weil es Rechtspopulisten durch die Verschiebung des Diskurses gelingt, dass sich andere Parteien rhetorisch, aber auch in einzelnen Positionen dem rechten Rand des politischen Spektrums nähern. Mehr noch, Rechtspopulisten verschieben diesen Rand bei jedem Schritt ihrer Mitbewerber nach rechts gleichzeitig einen Stückchen weiter. Es geht im Gleichschritt nach rechts. Welche sprachlichen Techniken Rechtspopulisten anwenden und wie Medien und andere Parteien mit ihrem Umgang mit rechtem »Framing« und Jargon dabei mithelfen, dass sich Diskurse verschieben, ist der Schwerpunkt des ersten Kapitels. Hierbei zeigt sich einerseits für die AfD, dass sie durch ihr medial-diskursives Gewicht schon vor dem Einzug in den Bundestag die Bundespolitik in konkreten Sachfragen beeinflusste, sodass in ihrem Stimmenanteil von 12,6 Prozent letztlich nur elektoral nachvollzogen wurde, was an politischem Einfluss längst vorhanden war. Andererseits wurde sie nicht durch den Parlamentarismus gemäßigt, sondern sie nutzt dessen Ressourcen, um ihn durch Inszenierungen verächtlich zu machen.

Während der erste Teil des Buches den Einfluss der AfD auf Öffentlichkeit und Politik beschreibt, widmet sich der zweite Teil der Medienstrategie der Partei, die diesem Einfluss zugrunde liegt. Die Kernthese lautet hierbei, dass die AfD und andere Rechtspopulisten eine neuartige Form der Propaganda etabliert haben. Diese Propaganda 4.0 ist einerseits durch ein doppeldeutiges, aber nicht widersprüchliches Verhältnis zu journalistischen Medien gekennzeichnet und andererseits durch den intensiv betriebenen Aufbau eigener Kommunikationskanäle, und damit einer alternativen Öffentlichkeit, einem alternativen Wahrheitssystem im digitalen Raum.

Im dritten und letzten Teil möchte ich eine Reihe von Denkanstößen zur Beschränkung des rechtspopulistischen Einflusses in unserer Gesellschaft anbieten. Dazu plädiere ich zunächst für ein Verständnis von Populismus als Ideologie, nicht als Stilmittel, um demokratiegefährdende Rechtspopulisten von nicht populistischen Kräften im politischen Diskurs isolieren zu können. Eine demokratisch gewählte Partei wie die AfD kann man nicht ausgrenzen, man muss sich von ihr abgrenzen. Und weil die repräsentative Demokratie eine kommunikative Demokratie sein muss, wie der Politologe Heinrich Oberreuter einst formulierte, beziehen sich meine Vorschläge vor allem darauf, wie eine Sprachlosigkeit zwischen Politik und Bevölkerung überwunden werden kann, die der Rechtspopulismus in eine Feindschaft überführen will. Statt Begriffe von Rechtspopulisten zu übernehmen, sollten demokratische Akteure sich viel stärker darauf konzentrieren, eine eigene positive Sprache für ihre Agenda zu entwickeln und verlorengegangene Deutungsfelder zurückzugewinnen (Framing und Reframing). Manche Reaktion auf den Einzug der AfD in den Bundestag deutet aber genau in die entgegengesetzte Richtung: Sigmar Gabriel übernahm im Dezember 2017 in einem Essay mit dem Titel »Sehnsucht nach Heimat« in vielen Teilen die Erzählung der Neuen Rechten über die Nicht-Schließung der deutschen Grenzen im Jahr 2015. Der ehemalige SPD-Vorsitzende sprach vom »Verlust jeglicher Ordnung« und »Extremform von Multikulti«. Gerade mit der Diskussion des Migrationsthemas auf einer kulturellen Ebene begeben sich Gabriel und andere Politiker auf das Diskursfeld, das von der AfD zugleich angelegt und bestellt wird – wo es folglich für die anderen Parteien kaum etwas zu ernten gibt und außerdem die Wurzeln der Migrationsherausforderung nicht einmal angesiedelt sind. Gabriel analysierte ferner, dass die SPD die Ehe für alle »emphatischer« gefeiert habe als die Durchsetzung des Mindestlohns. Hier tobt sich Gabriel in einer Interpretation aus, die der US-Politologe Mark Lilla als »linke Identitätspolitik« bezeichnet (»Gender-Toiletten«, »Black Lives Matter«, etc.) und als Ursache für Trumps Wahlerfolg populär gemacht hat.4 Statt die Gleichstellung von Minderheiten als Solidarität mit Marginalisierten und Unterpriveligierten zu verstehen, wird sie als Schlechterstellung von Mehrheiten gesehen. Auch wenn Gabriel in erster Linie seine eigene Wahlklientel im Blick haben mag, gibt er den Rechtspopulisten zumindestens indirekt recht und stützt ihre Einteilung der Gesellschaft in relevantere und irrelevantere Mitglieder. Die Aufwertung der einen Gruppe wird also gleichzeitig als Abwertung einer anderen gedacht. Die Gesellschaft als Paternoster. Nein, anders wird für die Sozialdemokraten ein Schuh draus: Sie hat Minderheiten nicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt, sondern Geringverdienern, Alten und Alleinerziehenden zu wenig. Politik, gerade die einer »Volkspartei«, muss beides leisten können. Gleichstellung von Minderheiten im singulären Sinne und Besserstellung von Schlechtergestellten im allgemeinen Sinne. Ein Gegeneinanderausspielen von gesellschaftlichen Gruppen sollte eine Volkspartei in ihrer Rhetorik vermeiden. Im Zentrum muss die Gleichheit aller stehen.

Neben dem Umgang anderer Parteien und Medien mit Rechtspopulismus wird das Thema der politischen Meinungsbildung im digitalen Raum einen prominenten Platz im letzten Kapitel einnehmen. Es scheint, als haben dort in den letzten Jahren antidemokratische Kräfte die Oberhand gewonnen. Teilweise mit dem Einsatz unlauterer Mittel wie Meinungsrobotern (Social Bots) oder der systematischen Verbreitung von Desinformation. Ich plädiere in diesem letzten Kapitel deshalb für die konsequente Durchsetzung demokratischer Prinzipien auf digitalen Plattformen, zum Beispiel sollten für digitale Wahlwerbung ähnliche Regeln wie für Wahlwerbung in traditionellen Medien und öffentlichem Raum greifen. Gleichzeitig muss das Böckenförde-Diktum genauso im Netz gelten: Ein demokratisches Ethos ist auch im digitalen Raum gefragt. Grundvoraussetzung für die Ausübung einer »digitalen Bürgerpflicht« ist die flächendeckende Ausbildung einer Informationskompetenz in unserer Gesellschaft, die mindestens drei Dinge umfassen sollte: digitale Zivilcourage und digitales Rechtsbewusstsein, etwa im Umgang mit »Hatespeech« und Desinformation, Basiskenntnisse über Algorithmen und die Mechanismen digitaler Informationsauswahl sowie eine kritische und aufgeklärte Haltung gegenüber Geschäftsmodelle, die auf der Monetarisierung privater Daten beruhen. Die Ansätze für eine bessere kommunikative Demokratie nenne ich im dritten Teil dieses Buches Demokratie 4.0.

Eine letzte Vorbemerkung: Als hauptberuflicher Kommunikationsberater verstehe ich unter politischer Kommunikation nicht allein die Vermittlung von Politik, sondern Politik an sich. Der demokratische Wettbewerb ist im Kern ein kommunikativer Wettbewerb, kein physischer oder militärischer. Ein Wettbewerb um Themen, Argumente, Deutungen, Aufmerksamkeit, Identitäten, Vertrauen, Allianzen und ganz wichtig: Werte. Sprache in der Politik bedeutet sprachliches Handeln. Und wer Politik für das Gemeinwohl machen möchte, muss diese Politik ansprechend ausbuchstabieren. Nach dem Prinzip: Worte wirken und Werte entscheiden. Schlussendlich gilt es ein kommunikatives Gegengift zum Rechtspopulismus zu entwickeln.

Propaganda 4.0

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