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TEIL 1 DAS RENNEN NACH RECHTS

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Der 15. März und der 7. Mai 2017 dürfen als Tage der kollektiven Trauma-Bewältigung in der europäischen Politik dokumentiert werden. Die Parlamentswahlen in den Niederlanden und die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich waren seltene Momente europäischer Innenpolitik. Ganz Europa hielt an diesen Abenden den Atem an. Denn anders als bei der im Herbst folgenden Bundestagswahl, drohte in diesem europäischen Frühling alles von innen zusammenzubrechen. Insbesondere die französischen Wählerinnen und Wähler stimmten nicht nur über das Schicksal ihres Landes, sondern über nicht weniger als die Zukunft des Kontinents ab: Gewinnt Le Pen, stirbt Europa. Im Jahr zuvor war Europa zweimal mit einem Schock aufgewacht – mit der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA und der Abstimmung für den Brexit in Großbritannien. Nun endlich sollten die Wunden geheilt werden. Vermeintlich kam es so auch: Im März gewann Mark Rutte die holländischen Parlamentswahlen, sieben Wochen später wurde Emmanuel Macron zum neuen Präsidenten der französischen Republik gewählt. Europa atmete auf. Doch die Erleichterung lösten eigentlich nicht die Kandidaten aus, die gewonnen hatten, sondern diejenigen, die nicht gewonnen hatten: Geert Wilders und Marine Le Pen.

Würde man eine Psychologin fragen, wie man ein Trauma am besten bewältigt, würde diese vermutlich so etwas sagen wie: »Finden Sie zur Ruhe, bewegen Sie sich in gewohnten Bahnen und ganz wichtig: Denken Sie an Erfolge!« Es schien als hätten viele Kommentatoren vor diesen beiden Wahlen mit einem Psychologen gesprochen. Oder einem Motivationscaoch. Denn in der Bewertung der Ergebnisse wurde immer wieder in Fußballmetaphern gesprochen, die sich vorzüglich zur Benennung von Gewinnern und Verlierern eignen. Es war Mark Rutte persönlich, der das europäische Superwahljahr 2017 zu einem »Match« gegen den Populismus ausgerufen hatte. Nach der Wahl in den Niederlanden schrieb DIE ZEIT, dass der Populismus ein »Abstiegskandidat« sei. »EU 1, Nationalisten 0« hieß es bei POLITICO. »Die rechtspopulistische Welle in Europa ist gebrochen« stand in der Süddeutschen Zeitung nach der Wahl in Frankreich. DER SPIEGEL beschwor die »Kraft der Demokratie« – wenige Monate zuvor sah man noch das »Ende der Demokratie«. Nun aber war das Spiel offenbar gedreht. Das beruhigt!

Allein, die Rechtspopulisten verlieren nicht. Marine Le Pen erzielte 2017 das beste Wahlergebnis in der Geschichte ihrer Partei, bei den anschließenden Parlamentswahlen im Juni vervierfachte sie die Sitze ihrer Partei in der Nationalversammlung. Geert Wilders wurde erstmals zweitstärkste Kraft in seinem Land. 2021 gewannen radikal rechte Parteien in den Niederladen ein weiteres Mal Sitze hinzu. Bei den Europawahlen 2019 erreichten rechtspopulistische Kräfte so viele Sitze im Europäischen Parlament wie nie zu vor. Und auch nach dieser Wahl verabreichten Medien und demokratische Parteien sich gegenseitig verbale Beruhigungspillen. In Wahrheit sind rechtspopulistische Kräfte heute fest in den Parlamenten Europas etabliert. Das bedeutet zuallererst, dass sie eine zuverlässige Quelle für öffentliche Ressourcen zum Ausbau ihrer politischen Aktivitäten haben. Noch wichtiger ist aber, und darum soll es in diesem ersten Kapitel gehen: Die Rechtspopulisten haben nicht nur nicht verloren, sie haben gar nicht richtig mitgespielt. Denn für Populisten ist die Wahlkabine nicht das wichtigste Spielfeld. Stattdessen ist der öffentliche Diskurs ihre bevorzugte Arena, um gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Nicht Sitze im Parlament sind – wie eingangs erwähnt – ihr Mittel zur Einflussnahme, sondern Sprache in der öffentlichen Debatte. Dazu brauchen sie zwischenzeitlich gute Umfragewerte, um sich interessant zu machen, Wahlergebnisse können dagegen auch durchwachsen ausfallen. In diesem Kapitel wird es darum gehen, welche Techniken der politischen Kommunikation die Rechtspopulisten anwenden – vornehmlich realitätsumdeutende »Frames« und polarisierende »Soundbites« –, um gesellschaftliche Realitäten zu verändern. Es soll gezeigt werden, dass die Art und Weise, wie Rechtspopulisten kommunizieren, besonders gut mit der Auswahl- und Darstellungslogik der Massenmedien korrespondieren und sowohl der Journalismus als auch andere Parteien durch ihren Umgang mit dem populistischen Jargon mithelfen, dass Populisten durch ihre Sprache die gesellschaftliche »Normalität« verändern können. Bevor ich zu der Wirkung populistischer Sprache komme, wird in diesem Kapitel das dem Buch zugrunde liegende Verständnis von Populismus erläutert und die noch junge, aber wirksame Allianz rechtspopulistischer Parteien in Europa beschrieben.

Diese Allianz rechter Kräfte hatte schon vor dem Brexit-Referendum in Großbritannien die politische Diskurslage in Europa in einem wesentlichen Punkt verändert. Denn die trügerische Erleichterung über die Wahlergebnisse in Frankreich, den Niederlanden und der Europawahl 2019 offenbart, dass es heute in der Europäischen Union in erster Linie um die politische Existenz Europas geht.5 Emmanuel Macron nannte die Europawahl 2019 (bei der seine Partei schlechter abschnitt als die von Le Pen) eine »existenzielle Frage« für Europa und sprach von einer Entscheidung zwischen »Proeuropäern« und »Antieuropäern«.6 Allein diese Zuspitzung ist ein Erfolg für Europafeinde wie Geert Wilders, Marine Le Pen, Nigel Farage, aber auch die AfD in Deutschland. Sie üben so viel Druck auf die Parteien aus, die sich mehr oder weniger für Europa aussprechen, dass diese Parteien sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner »grundsätzlich für Europa« zusammenrotten müssen. So wie es links und rechts im politischen Spektrum gibt, haben die Rechtspopulisten »Ja« und »Nein« zur europäischen Integration als eine neue Konfliktlinie etabliert. Eine enorme Verschiebungsleistung im politischen Diskurs. Denn proeuropäisch wurden einst nur solche Kräfte genannt, für die Europa mehr als nur ein Binnenmarkt ist; die für eine vollständige politische Union eintreten, in der Europa stärkere Kompetenzen etwa auch in der Sozial- oder Steuerpolitik bekommt. Die Vereinigten Staaten von Europa sind für manche von ihnen das anvisierte Zukunftsmodell. Solche Stimmen hörte man lange Zeit vor allem aus liberalen, grünen und, mit Einschränkung, auch aus sozialdemokratischen Parteien. Heute ist jeder ein Proeuropäer, der nicht den Austritt seines Landes aus der EU befürwortet. Der zentrale Konflikt ist nicht mehr wie eine gemeinsame Politik in Europa aussieht, sondern ob es überhaupt diese gemeinsame Politik gibt. Diese Verschiebung führte die Tagesschau am Tag nach der Wahl in den Niederlanden eindrucksvoll vor: »Die Niederlande bleiben auf Pro-Europa-Kurs« verlas Susanne Daubner als erste Nachricht. Doch Mark Rutte ist kein Proeuropäer im klassischen Sinne. Genauso wenig wie der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, der sich trotzdem unentwegt so bezeichnet. Im Gegenteil, ihre Parteien wollen, allgemein gesprochen, weniger gemeinsame europäische und mehr nationale Politik. »Brüssel mischt sich in zu viele Bereiche ein« heißt es im Wahlprogramm von Ruttes VVD. »Die EU sollte sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren. Dieses Kerngeschäft bezieht sich in erster Linie auf die Wirtschaft. Alles andere können die Mitgliedsstaaten viel besser für sich selbst regeln.«7 Das ist keine Umarmung, sondern zuallererst eine Distanzierung von Europa. Wäre Geert Wilders nicht als Konkurrent zu Mark Rutte bei der Wahl angetreten, hätte die Tagesschau bei gleichem Wahlausgang mit dem Satz »Die Niederlande wählt EU-kritisch« aufmachen müssen.

Nach einem Beinahe-Grexit und tatsächlichem Brexit ist »pro« nicht mehr »progressiv-europäisch«, sondern schlichtweg »contra Exit«.

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