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Perfekter Beginn und wachsende Sorgen
ОглавлениеAls ich mich an diesem Tag schlafen lege, kreisen meine Gedanken noch lange. Der Anruf der Klinik hat mich aufgewühlt, das merke ich jetzt, wo ich zur Ruhe komme, ganz besonders. Neben mir höre ich Tobis unruhige Atemzüge, manchmal ein Röcheln oder Husten. Elisabeth und ich haben uns seit Jahren so eingerichtet: Sie schläft im Kinderzimmer bei den Mädchen, ich mit Tobi im Elternschlafzimmer. Das Elternschlafzimmer, das eigentlich keines mehr ist. Die Nächte teilen die Familie fast genauso wie die unzähligen Krankenhausaufenthalte, bei denen immer einer von uns bei Tobi und der andere zu Hause oder arbeiten ist.
Ein lautes Piepen reißt mich aus meinen Gedanken. Der Schlauch, über den Nahrung in Tobis Magen gepumpt wird, ist bei einer seiner Bewegungen im Schlaf abgeknickt. Während ich ihn richte und die Pumpe ihren Dienst wieder aufnimmt, lächelt Tobi mich schlaftrunken an. Der schrille Ton hat auch ihn kurz aus dem Schlaf gerissen und bei seinem müden Strahlen wird mir warm ums Herz. Ich streiche meinem Sohn übers Haar und sehe ihm zu, wie er gleich darauf schon wieder fest eingeschlafen ist. Bei seinem Anblick denke ich spontan an den Tag seiner Geburt zurück. Damals schien eigentlich alles perfekt.
Elisabeth und ich wollten viele Kinder, am liebsten vier oder fünf. Meine Mutter wohnte gleich nebenan, zwei meiner Geschwister mit ihren Familien direkt in der Nachbarschaft. Wir hatten immer schon ein gutes Verhältnis und verbrachten viel Zeit miteinander. Als wir damals die Gelegenheit bekommen hatten, in Tübingen das Haus direkt neben meinem Elternhaus zu kaufen, mussten wir nicht lange überlegen. Es schien die Bestätigung zu sein, dass unsere Träume wahr würden. Meine Arbeitsstelle war auch nicht weit entfernt, sodass ich jeden Mittag zu Hause sein konnte – die Vorbedingungen für eine fröhliche Großfamilie konnten besser nicht sein. Als nacheinander unsere Töchter Henriette und Charlotte geboren wurden, waren wir selig. Das Geschlecht unserer Kinder war uns eigentlich egal und wir ließen uns jedes Mal überraschen. Doch als dann Tobi auf die Welt kam und wir nun zwei Töchter und einen Sohn hatten, war unser Glück vollkommen. Wir waren Gott so dankbar, dass er uns mit drei gesunden Kindern gesegnet hatte.
Elisabeth hatte eine gute Schwangerschaft ohne Komplikationen, die Geburt war einfach. »Schauen Sie mal, der lacht ja schon richtig! Das ist sehr selten bei Neugeborenen«, meinte die Hebamme überrascht, als sie Elisabeth den kleinen Tobias in den Arm legte. Schon da zeichnete sich ab, dass unser Sohn eine besondere Art haben würde. Beim Apgar-Test, der direkt nach der Geburt bei allen Kindern durchgeführt wird, erreichte Tobi zehn von zehn Punkten, er schien ein normales, gesundes Baby zu sein. Das war am 23. Mai 2009.
Als Elisabeth mit Tobi nach Hause durfte, begannen glückliche Wochen für uns. Wir entschieden uns für einen Taufvers aus den Psalmen: »Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen« (Psalm 37,5, LUT). Uns war klar: Egal, was die Zukunft bringt – Gott geht den Weg mit uns und führt unser Leben zu einem guten Ziel. Bei der Taufe bekam Tobi, wie unsere Mädchen auch, drei Taufpaten zur Seite gestellt, die ganz besonders für ihn da sein sollten. Es war ein Freudenfest.
Unser junges Familienglück konnte auch durch einige kleinere Schwierigkeiten nicht getrübt werden. Tobi hatte beispielsweise von Anfang an Schwierigkeiten mit dem Trinken. Elisabeth und die Hebamme, die täglich zu uns kam, versuchten alles, aber nichts schien wirklich zu helfen. Schließlich fanden wir heraus, dass Tobis Zungenbändchen zu weit vorne saß und er seine Zunge nicht weit genug herausstrecken konnte. Durch eine kleine Operation ließ sich das glücklicherweise beheben und Tobi konnte bald darauf ganz normal trinken. Auch die Bronchitis, die unser Sohn schon mit zwei Wochen bekam, war erst einmal kein Grund zur Besorgnis. Unser Kinderarzt Dr. Armann untersuchte Tobi und erklärte uns, dass eine Bronchitis bei Babys immer wieder einmal vorkommen könne. Unser Sohn bekam Medikamente und wir gingen erleichtert nach Hause.
Bald jedoch mehrten sich die Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Wir hatten schon die Mädchen häufig mit dem Kinderwagen auf den Balkon geschoben, damit sie an der frischen Luft waren. Mit Tobi machten wir es genauso. Doch während das Draußenstehen den Mädchen gutgetan hatte, schrie Tobi wie am Spieß. Wir waren ratlos. Als Elisabeth ihn aus dem Wagen nahm, erschrak sie richtig. »Tobi ist ja komplett nassgeschwitzt!« Da es ab und an noch etwas kühl war, hatten wir ihn wärmer angezogen. Trotzdem war er nicht so dick eingepackt, dass es solch eine Überhitzung erklärt hätte. Elisabeth zog unseren Sohn etwas dünner an, aber kurze Zeit später schrie er wieder. Wir wussten nicht weiter. Egal, was wir taten, Tobi schrie.
Als Elisabeth ihn wieder auf den Arm nahm, rief sie mich zu sich. »Schau mal, Johannes. Findest du nicht auch, dass Tobi schwer atmet?« Es stimmte, er schien die Luft einzuziehen wie jemand, der eine weite Strecke gerannt war. Unser Kinderarzt, den wir schnellstmöglich aufsuchten, stellte fest, dass Tobis Lunge verschleimt war, was sowohl das Schreien als auch das Schwitzen erklärte. Wir bekamen Medikamente mit nach Hause.
Von da an betrachteten wir unseren Jüngsten mit wachsender Besorgnis. Wir entdeckten immer häufiger Anzeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung war. Tobi nahm nicht richtig an Gewicht zu, seine Haut wirkte fahl und ungesund. Im Sommer dann der nächste Schreck: Unser Sohn wollte nicht mehr essen. Elisabeth hatte angefangen Brei zuzufüttern, da sie nicht mehr genügend Milch hatte. Am Anfang klappte das auch ganz gut. Aber plötzlich weigerte sich Tobi, auch nur einen Bissen zu schlucken. Wieder saßen wir beim Kinderarzt. Inzwischen waren wir fast jeden Tag dort, aber trotz intensiver Untersuchungen war völlig unklar, worunter unser Sohn litt.
Im Oktober erreichte mich ein Anruf von unserem Kinderarzt. Es war ein wundervoller, sonniger Herbsttag und ich war gerade dabei, das Dach unserer Garage zu reparieren. Es war undicht und in diesem Zuge wollte ich es gleich aufstocken, um zusätzlichen Platz zu schaffen. Ich wollte schließlich eine Großfamilie, und der zusätzliche Raum, den uns beispielsweise ein weiterer Dachboden bringen würde, war sehr willkommen. Als ich gerade einen der Balken zurechtgesägt hatte, klingelte mein Mobiltelefon. Ich nahm den Anruf an. Es war Dr. Armann.
»Herr Roller –« Er stockte. »Herr Roller, ich muss Ihnen etwas Trauriges mitteilen. Wir vermuten, dass Ihr Sohn an Mukoviszidose leidet.« Mein Magen krampfte sich zusammen, meine Knie wurden weich. Ich musste mich an einem Querbalken festhalten. »Ist das – ist das sicher?«, krächzte ich.
»Sicher ist es nicht«, entgegnete er zurückhaltend. »Wir müssen noch einige Tests machen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, ich wollte Sie daher schon einmal vorwarnen. Ich habe auch extra Sie angerufen, vielleicht sagen Sie es Ihrer Frau besser noch nicht. Sie hat ja mit Ihrem kranken Sohn schon genug Probleme, um die sie sich kümmern muss.«
»Sie haben recht.« Ich schwieg kurz, bevor ich mich bei ihm bedankte und auflegte.
Nach dem Gespräch fühlte ich mich, als hätte jemand den Boden unter meinen Füßen weggezogen. Durch meine Arbeit in der Verwaltung einer Privatklinik war mir Mukoviszidose ein Begriff, und wenn die Lebenserwartung von Mukoviszidose-Patienten mittlerweile auch bei vierzig bis fünfzig Jahren liegt, so gab es doch vor zehn Jahren noch einige, die das Erwachsenenalter nicht erreichten. Sollte dieses Schicksal nun das meines Sohnes sein?
Wie betäubt stieg ich vom Dach. Elisabeth war mit den Mädchen unterwegs – doch ich musste jetzt mit jemandem sprechen. Ich ging nach nebenan zu meiner Mutter. Die sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Während wir in der Küche saßen und ich ihr von der Vermutung unseres Arztes erzählte, merkte ich, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Ich bin niemand, der schnell weint, doch in diesem Moment war mir alles zu viel. Meine Mutter war so schockiert wie ich, aber ich war froh, dass ich den schlimmen Verdacht mit jemandem teilen konnte. »Noch ist es ja nicht sicher«, tröstete sie mich. »Vielleicht kommt bei der Untersuchung ja etwas ganz anderes heraus.«
»Du hast recht.« Dankbar schaute ich sie an. »Noch ist es nur eine Vermutung, wir haben ja noch gar keine Ergebnisse.« Ich atmete tief. »Betest du für uns, Mama?«
»Natürlich tue ich das.« Meine Mutter lächelte mir ermutigend zu und nahm meine Hand. »In Gottes Hand sind solche Sorgen am besten aufgehoben, auch wenn sie uns zu erdrücken scheinen.«
In dieser Nacht betete ich lange im Stillen zu Gott. Ich dankte ihm, dass er uns unseren goldigen Sohn Tobias geschenkt hatte. Ich bat ihn, dass er den Test negativ ausfallen ließ. Für ihn wäre es doch ein Leichtes, Tobi ganz gesund zu machen. Und wie so oft in letzter Zeit bat ich Gott, unserem Sohn alle Probleme wegzunehmen, die ihm sein kleines Leben bisher so schwer machten. Ich wusste: Ich hatte es nicht in der Hand. Aber ich wollte Gott vertrauen, dass er es gutmachen würde. Trotz meiner Erschöpfung schlief ich erst in den frühen Morgenstunden ein.
Es folgten bange Tage. Die mögliche Diagnose hing wie ein Schatten über unserem Haus. Mit Argusaugen bewachten wir jede von Tobias’ Regungen, immer in der Sorge, dass sein Zustand sich verschlechtern könnte. Dann kamen die Testergebnisse – negativ! Wir atmeten auf. Doch trotzdem blieb das Gefühl: Irgendetwas stimmte nicht mit Tobi und in diesem Moment wusste einfach niemand, was es war.
Die Ärzte suchten weiter nach einer Antwort. Im Dezember – es war kurz vor Weihnachten – kam unser Sohn für einige Tests in die Tübinger Klinik. Dr. Armann hatte vorgeschlagen, sicherheitshalber noch einmal auf Mukoviszidose zu testen, außerdem sollten die Ärzte dort einige weitere Krankheiten ausschließen. Sie entnahmen Leberzellen, Blut, Knochenmark, machten eine Hautpunktion. Mir zuckte es jedes Mal wie ein Stich durchs Herz, wenn ich sah, wie sie eine Kanüle in Tobis Ärmchen oder Beinchen stachen und er anfing zu weinen.
Trotzdem war er nicht wie die anderen Kinder, die mit ihm auf der Station lagen. Er, der sich noch nicht durch Worte ausdrücken konnte, sprach mit seinen Augen. Tobi hatte schon als Baby lange Wimpern – seine Schwestern hatten sich gleich in seine Augen verliebt, als wir ihn nach Hause holten. »Wie bei einer Puppe«, sagten sie staunend. Oft schaute er uns unverwandt an und seine Augen ruhten auf uns, als wollte er sagen: »Ich weiß, das ist gerade nicht einfach, aber wir schaffen das!« Vielleicht ist diese Interpretation auch ein Stück weit mein Hoffen, vielleicht ein wenig Wunschdenken. Trotzdem gaben uns seine Blicke immer wieder Kraft. Und wenn ihm Blut abgenommen werden musste oder eine schmerzhafte Untersuchung anstand, dauerte es nicht lange und Tobi strahlte uns und die Ärzte mit tränennassen Wangen und leuchtenden Augen an.
Am Tag vor Heiligabend durfte Tobi nach Hause. Elisabeth setzte die Mädchen ins Auto und holte uns ab. Henriette und Charlotte freuten sich riesig, als wir endlich wieder alle zusammen waren. Dass sie in der Zeit vor Weihnachten immer auf einen Elternteil verzichten mussten, war den beiden gar nicht geheuer. Sie taten uns so leid – doch was hätten wir anderes tun sollen? Tobi konnten wir schließlich auch nicht alleine lassen. Zu Hause angekommen setzten wir deshalb alles daran, die Mädchen für die Entbehrungen zu entschädigen.
Die Woche, die wir im Krankenhaus verbringen mussten, hatte mich davon abgehalten, Charlottes Geschenk zu bauen. Sie sollte einen Kaufladen bekommen, wie ihre große Schwester bereits einen besaß. Henriettes Kaufladen hatte ich aus Holz selbst gebaut. Doch wie sollte ich in einer Nacht ein angemessen schönes Geschenk zimmern? Ratlos sah ich mich im Keller um. In einer Ecke entdeckte ich schließlich eine Bananenkiste. Ich begann zu basteln, bemalte und beklebte die Kiste mit Weihnachtsmotiven. Schließlich war ich fertig und begutachtete kritisch mein Werk. Der Bananenkisten-Kaufladen war bei Weitem nicht so schön wie Henriettes Holzladen, aber ich hoffte, dass Charlotte sich trotzdem freuen würde.
Der Heiligabend kam und wir versuchten, den Mädchen trotz unserer Sorgen um Tobi und der gedrückten Stimmung ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Am Nachmittag gingen wir gemeinsam in die Kirche und die beiden sahen begeistert beim Krippenspiel zu. Doch auch uns tat es gut, unter Menschen zu sein. Freunde und Bekannte aus unserer Kirchengemeinde erkundigten sich nach Tobi und erzählten uns, dass sie für uns gebetet hatten, als er im Krankenhaus war. Ihr Mitgefühl und ihre Anteilnahme taten uns gut. Besonders die vielen Gebete, mit denen sie uns damals wie heute begleiteten, berührten unsere Herzen und gaben uns Kraft.
Wieder zu Hause, konnten die Mädchen die Zeit bis zur Bescherung kaum abwarten. Das Weihnachtszimmer – eigentlich unser Wohnzimmer – war durch einen schweren Vorhang vom Rest der Wohnung abgeteilt. Erst beim Klingeln eines Glöckchens wurde der Vorhang aufgezogen und das Zimmer erstrahlte in seiner ganzen Pracht. Neben Henriettes Kaufladen besaßen die Mädchen noch ein riesiges Puppenhaus, das ich selbst gebaut hatte. Jedes Jahr am Heiligabend holten wir Kaufladen und Puppenhaus vom Dachboden und stellten sie im Weihnachtszimmer auf. Im Januar wurden sie dann wieder weggepackt und warteten auf ihren nächsten großen Auftritt. Dadurch, dass diese besonderen Spielsachen nicht immer verfügbar waren, liebten die Kinder sie nur noch mehr und spielten die ganze Zeit damit. Nun kam also noch der Kaufladen für Charlotte hinzu.
Mit einem freudigen Ausruf lief unsere Mittlere zu ihrem Geschenk. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Sie fand ihn auf Anhieb wunderbar. Alles wurde genau betrachtet, sie war kaum davon wegzubekommen. Dabei war sie gar nicht traurig, dass ihr neuer Kaufladen »nur« aus einer Kiste bestand. Er hatte Weihnachtsbilder, war schön bunt und er war ihr eigener – das genügte völlig.
Das Puppenhaus war ebenfalls ein Highlight. Es war vier Stockwerke hoch und hatte viele verschiedene Zimmer, die ich mit Tapete, Teppich und Farbe ausgestaltet hatte. Sogar einen Balkon gab es. Jedes Mädchen hatte seine eigenen Zimmer, für die es jetzt weitere Möbel bekam. Und dann entdeckten die Mädchen den Weihnachtselch. Oma Elisabeth, meine Mutter, hatte ihn mitgebracht. Es war ein großer brauner Plüschelch, der Weihnachtsmusik spielte, sobald man sein Ohr drückte. Henriette war hingerissen und sprang auf den Elch zu. Als die ersten weihnachtlichen Klänge ertönten, begann sie durchs Wohnzimmer zu tanzen. Charlotte sprang hinterher – wenn ihre große Schwester so einen Spaß hatte, wollte sie unbedingt mitmachen.
Als die Mädchen ein bisschen ruhiger waren, setzten wir uns gemeinsam hin und sangen Weihnachtslieder. Bevor es an die Bescherung ging, beteten wir gemeinsam und dankten Gott für unsere Familie, das schöne Fest und alles, was er uns geschenkt hatte. Natürlich war unser Leben im vergangenen Jahr nicht immer einfach gewesen, aber wir hatten auch so viel Gutes erlebt – Zuspruch, Bewahrung, der negative Mukoviszidose-Befund –, dass wir jede Menge Gründe zum Danken hatten.
Selbst Tobi, der noch nichts von dem verstand, was um ihn herum vorging, hatte eine schöne Zeit und genoss die weihnachtliche Atmosphäre. Er lachte uns alle an, griff nach seinen Schwestern und wedelte fröhlich mit seinen Ärmchen. Unsere Töchter freuten sich über seine Aufmerksamkeit. Sie merkten zwar, dass mit Tobi irgendetwas nicht in Ordnung war, doch unsere Sorgen und Befürchtungen hielten wir wohlweislich von ihnen fern. So konnten sie die Zeit mit ihrem geliebten Bruder ohne jeden Schatten genießen. Diese Weihnachtstage waren für uns alle wie eine kleine Atempause vom Alltag, der uns so viel abverlangte.
Das alte Jahr ging, das neue kam und noch immer wussten wir nicht mehr über Tobis Krankheit. Sein Zustand war unverändert: Er bekam schlecht Luft, aß nicht gut, behielt wenig bei sich und wuchs nur langsam. Trotzdem war er ein fröhliches Baby, das immer lachte, wenn es ihm einigermaßen gut ging. Im Februar 2010 sah er allerdings so schlecht aus, dass er zum Arzt musste. Ich sprach mit Elisabeth darüber, bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit machte, und sie wollte noch an diesem Tag mit Tobi in die Sprechstunde. Zwei Tage später saß sie erneut bei unserem Kinderarzt – das verschriebene Antibiotikum half gar nicht und es ging unserem Sohn nicht besser.
Als ich einen Tag darauf, am Donnerstag, zum Mittagessen nach Hause kam, führte mich mein erster Weg an Tobis Bettchen. Elisabeth hatte sich den ganzen Vormittag um ihn gekümmert und bereitete jetzt, wo er endlich eingeschlafen war, das Essen vor. Ich sah sein Gesicht und erschrak. Alle Farbe war daraus gewichen, es wirkte bläulich und war zu einer gequälten Grimasse verzogen. »Elisabeth!« Ich muss so besorgt geklungen haben, wie ich mich fühlte, denn meine Frau kam gleich darauf ins Zimmer gelaufen.
»Was ist denn?«
»Schau dir Tobi mal an. Du musst unbedingt zum Kinderarzt mit ihm, sobald die Praxis aufmacht!« Ich sah, wie auch sie zusammenzuckte, als sie in das Gesicht unseres Sohnes blickte. Dass sich sein Zustand in so kurzer Zeit derart verschlechtert hatte, machte uns Angst.
Nach dem Mittagessen fuhr ich zurück zur Arbeit, doch es fiel mir schwer, mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren. Als ich einen Vorgang zum dritten Mal neu beginnen musste, stand ich auf und öffnete ein Fenster. Die frische Februarluft tat mir gut. An diesem Tag war ich noch zu einer betriebsinternen Veranstaltung angemeldet und würde daher etwas früher Feierabend machen – morgen würde mir meine Arbeit sicherlich wieder leichter fallen. Doch gerade als ich meinen PC heruntergefahren und den Mantel von der Garderobe genommen hatte, klingelte das Telefon. Es war Dr. Armann. Nach einer kurzen Begrüßung kam er ohne Umschweife auf den Punkt: »Herr Roller, es steht sehr schlecht um Tobias. Er hat eine lebensbedrohliche Lungenentzündung, ich habe bereits den Notarzt gerufen.« Ich spürte Panik in mir aufsteigen: »Ich komme sofort!«
Ich rannte zum Auto. Auf dem Weg betete ich verzweifelt: »Bitte, Vater im Himmel, lass mich rechtzeitig kommen.« Jede Ampel wurde zur Zerreißprobe, jeder Autofahrer, der nicht schnell genug anfuhr, ließ mich verzweifelt aufstöhnen. Schließlich hielt ich vor der Arztpraxis und sprang aus dem Auto. Der Rettungswagen war bereits da, das zuckende Blaulicht erhellte die winterliche Straße auf fast schon unwirkliche Weise.
Elisabeth sah mich kommen und lief auf mich zu. »Ich fahre mit Tobi!«, rief ich ihr fast flehend zu. Ich sah das Verstehen in ihren Augen. Sie nahm den Schlüssel, ich kletterte in den Rettungswagen. Die Türen wurden hinter mir zugeschlagen und wir fuhren mit Blaulicht und Martinshorn los. Elisabeth nahm mein Auto und fuhr mit den Mädchen nach Hause. Wenigstens die beiden sollten von dieser Aufregung verschont bleiben.
In der Klinik ging alles sehr schnell. Während der Untersuchungen und Behandlung durfte ich die ganze Zeit dabei sein. Ich streichelte Tobis Kopf, damit er merkte, dass wir ihn nicht alleinlassen würden. Als das Schlimmste überstanden war, telefonierte ich mit Elisabeth. Wir einigten uns schließlich darauf, dass ich in der Klinik bei Tobias bleiben würde und Elisabeth bei den Mädchen.
Es folgten lange und bange Tage. Ich rief meinen Arbeitgeber an und er gab mir frei, ohne dass ich Urlaub nehmen musste. Ich staunte dankbar über dieses unerwartete Geschenk. Dann wartete ich. Ich aß in der Klinik, schlief in der Klinik. Ich saß an Tobis Bettchen und betete, während er um jeden Atemzug kämpfte. Und während Elisabeth zu Hause versuchte, sich vor den Mädchen ihre Sorge nicht anmerken zu lassen, sah ich in die besorgten Gesichter der Ärzte.
Was war nur passiert? Vor nicht einmal einem Jahr war noch alles perfekt, und nun drohte alles zu zerbrechen. Wieso mutete Gott uns das zu? Warum musste Tobi so kämpfen? Egal, was die Ärzte versuchten, es ging ihm nicht besser. Für mich verschwammen die Tage. Nach einer Woche – draußen war es schon dunkel und ich saß gerade an Tobis Bett und streichelte seine kleine Hand – kam der behandelnde Arzt ins Krankenzimmer. Ich stand auf.
»Herr Roller«, sagte er ernst, »ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Wir haben alles getan, was in unserer Macht steht. Nichts davon hat bisher angeschlagen. Uns bleibt nun noch eine Möglichkeit: Wir geben Ihrem Sohn eine Mischung verschiedener hoch dosierter Antibiotika. Danach geht es heute Nacht entweder bergauf mit ihm, oder, wenn sie nicht helfen …« Er ließ den Satz unbeendet und sah mich fragend an. Ich nickte mit immer schwerer werdendem Herzen. Wenn es keine andere Möglichkeit gab, was sollten wir sonst tun? Wir würden es versuchen müssen!
Tobias bekam die nötigen Medikamente und wir warteten. Ich betete Stunde um Stunde, dass Gott eingreifen, ein Wunder geschehen lassen würde. Und dann geschah es tatsächlich. Die Krankenschwester, die immer wieder zu uns ins Zimmer schaute, sah mich spät in der Nacht mit Hoffnung in den Augen an.
»Ich glaube, er hat es geschafft!«, sagte sie leise und legte mir aufmunternd die Hand auf die Schulter. »Es geht bergauf.«
»Gott sei Dank!« Ich konnte unser Glück kaum fassen. Gott hatte uns wirklich ein Wunder geschenkt. Tobias würde die Nacht überleben.
Der Motor der Ernährungspumpe springt an und reißt mich aus meinen Erinnerungen. Müde schaue ich zu Tobi. Er atmet schwer – wie meistens –, aber er schläft tief und fest. Ich stehe vorsichtig auf, um ihn nicht zu wecken, und schaue aus dem Fenster. Vor mir liegt die stille Stadt, dahinter der Österberg. Die Nacht ist klar und ruhig. Wie eine silberne Decke liegt das Mondlicht auf den Dächern und Hügeln und die Bäume strecken ihre kahlen Äste schwarz und unbeweglich in die windstille Dunkelheit. Ich öffne das Fenster und ziehe die Nachtluft in meine Lungen. Es ist kühl und feucht draußen und kein Geräusch zu hören. Selten ertönt das leise Brummen eines fernen Automotors. Ein tiefer Frieden erfüllt mich. »Danke für diese ruhigen Momente, Vater«, bete ich lautlos zu Gott.
Ich blicke zurück ins Zimmer. Tobi liegt klein und zart unter der großen Bettdecke. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Dann sehe ich, wie sich seine Augenbrauen leicht zusammenziehen, er murmelt im Traum vor sich hin. Was für ein Geschenk, dass ich nach allem, was passiert ist, meinem Sohn beim Schlafen zuschauen darf. Ich muss daran denken, wie klein und zart er schon damals war, als ich in der Klinik an seinem Bett saß.
Tobi wirkte winzig in seinem Klinikbettchen. In den Tagen nach der erfolgreichen Behandlung besserte sich sein Gesundheitszustand langsam etwas, trotzdem musste er im Krankenhaus bleiben. Seine Lungenentzündung war immer noch nicht weg und es standen weitere Tests an. Dann der nächste Schock: Tobi hatte sich mit Legionellen infiziert. Noch mehr zusätzliche Medikamente, noch mehr Tests. Das häufige Blutabnehmen war das Schlimmste dabei. Die Adern an Tobis Kopf, Armen und Füßen waren komplett zerstochen. Die Ärzte schafften es bald nicht mehr beim ersten und selten beim zweiten Mal, die erforderliche Menge Blut zu bekommen, die sie für die Tests benötigten.
Am zweitschlimmsten für Tobi waren die Medikamente. Sie schmeckten scheußlich, aber da er manche davon schlucken musste, wurden sie ihm zwangsweise über den Mund verabreicht. Er wehrte sich mit allen Kräften dagegen und wirkte danach immer erschöpft. Trotzdem war es auch hier wie bei seinem ersten Krankenhausaufenthalt: So sehr er während all dem litt – kaum war es vorbei, lächelte er wieder. Und sein intensiver Blick, mit dem er Ärzte, Schwestern und Pfleger ansah, schien fast alle in seinen Bann zu ziehen.
Überhaupt erlebten wir trotz aller Schwierigkeiten immer wieder auch ermutigende Momente, wenn Elisabeth oder ich an Tobis Bett saßen. Mehr als einmal kamen wir mit den Krankenschwestern ins Gespräch, die sich um unseren Jungen kümmerten. Wir erzählten ihnen von unseren Mädchen zu Hause. Von unserer Hoffnung trotz all der schlimmen Momente, dass Gott unseren Sohn gesund machen würde. Und es fühlte sich fast an, als würde Gott uns antworten und Mut zusprechen, wenn wieder eine der Schwestern sagte: »Wissen Sie, ich glaube auch an Gott.« Einige von ihnen sagten uns sogar, dass sie für Tobi beten würden.
Ein besonderes Erlebnis in dieser Zeit war jedes Mal der Besuch der Klinikclowns Rosina und Hupe, eine Frau und ein Mann, die einmal in der Woche kamen. Tobi wurde richtig lebhaft, wenn die beiden geschminkten Clowns vor seinem Bett standen. Sie schnitten Grimassen und machten Musik mit Mundharmonika und Gitarre, sie zogen Tücher, Bälle und sogar kleine Tierfiguren aus ihren unzähligen Taschen und sie pusteten bunte Luftballons auf, die sie den kranken Kindern schenkten. Tobias gluckste fröhlich. Er begann, immer strahlender zu lachen und freute sich einfach nur. Er ließ sie sogar einmal sein Fläschchen halten, aus dem er trank.
Später erfuhr ich, dass die Clowns sonst selten so engen Kontakt mit Kleinkindern hatten, da diese manchmal Angst bekamen. Deswegen behielten sie sie bei all ihren Späßen immer genau im Auge. Doch Tobi wirkte so fröhlich und unbeschwert, dass sie es versuchten. Immer wieder griff er nach ihnen und lachte. Diese Minuten waren wie eine Auszeit von meinem sorgengeplagten Alltag.
Es sollte noch einige Wochen dauern, bis Tobias entlassen werden konnte. Er sah zwar sehr schlecht aus, doch es ging ihm besser als vor dem Krankenhausaufenthalt. Zumindest für eine Weile. Unser Glück währte allerdings nicht lange, denn bald verschlechterte sich sein Gesundheitszustand wieder und er musste erneut in die Klinik. Wieder vergingen Wochen. Doch ein Personalwechsel in der Immunologie erschwerte die Behandlung und die Ärzte kamen bei seinen unklaren Symptomen nicht wirklich weiter.
Während all der Zeit standen wir mit Tobis Kinderarzt in Kontakt. Er fragte immer wieder nach unserem Sohn und besprach sich regelmäßig mit den Ärzten im Krankenhaus. Er war es dann auch, durch den wir von der Klinik in München erfuhren. Die dortige Immunologie hatte einen sehr guten Ruf und Dr. Armann organisierte Tobis Transfer nach Bayern.