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Familienabenteuer und Erschöpfungszustände

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Nach dem Abendessen sitzen wir noch ein bisschen im Wohnzimmer zusammen. Die Kinder spielen auf dem Teppich und Elisabeth kommt kurze Zeit später aus der Küche dazu. Sie setzt sich neben mich aufs Sofa und zeigt auf die kleine Eisbären-Figur, die Tobi in der Hand hält. »Weißt du noch, wie wir in der Wilhelma waren? Das war ein schöner Ausflug.« Ich stimme ihr zu. Das war im letzten Jahr gewesen.

2012 war alles in allem ein ziemlich ereignisreiches Jahr für uns. Die Belastungen blieben hoch. Ich schlief wegen der Ernährungspumpe keine Nacht mehr durch. Tobis Knochen blieben empfindlich, ebenso wie seine Haut und sein Magen. Er brauchte immer Spezialpflege, damit es ihm gut ging. Ihm war regelmäßig übel und es gab kaum einen Tag, an dem er sich nicht übergeben musste.

Und trotzdem: Er war fröhlich und dankbar. Man konnte ihm mit Kleinigkeiten ganz einfach eine Freude machen. Und Tobias überlegte immer, wie er selbst anderen eine Freude machen konnte. Wenn er Süßigkeiten oder andere Kleinigkeiten geschenkt bekam, schenkte er sie oft weiter und lächelte dabei in sich hinein. Meistens erklärte er sogar, warum gerade der Beschenkte dieses Geschenk bekam, was uns ebenfalls erheiterte. Außerdem liebte er es, Bilder für alle zu malen.

Nun sollten wir gleich mehrere kleine Abenteuer erleben, mit denen wir zu Beginn von Tobis Erkrankung nie gerechnet hätten. Es war, als würde Gott uns kleine Auszeiten schenken, damit wir neue Kraft schöpfen konnten.

Der Stuttgarter Tierpark Wilhelma veranstaltete seit einigen Jahren die »Dreamnight«, eine Veranstaltung, bei der behinderte und chronisch kranke Kinder aus der Region eingeladen wurden. Abends, nachdem die letzten Besucher gegangen waren, durften die Kinder mit ihren Familien in den Tierpark und die Tiere hautnah erleben. Es gab Mitmach-Aktionen und spannende Vorführungen von Tierpflegern, aber auch von Artisten wie Feuerschluckern und Stelzenläufern.

Auch wir bekamen eine Einladung, als unser Sohn gerade drei Jahre alt war. Ich weiß nicht, wer aufgeregter war, Tobias oder seine Schwestern. Wir hatten zwar Kaninchen als Haustiere, aber so ein Tierpark war doch noch mal etwas ganz anderes. Tobi wartete jeden Tag auf die Post und fragte, ob die Eintrittskarte schon da sei. Als sie endlich kam, konnte er sich vor Aufregung kaum halten.

»Tja, Tobi«, lachte Elisabeth. »Jetzt dürfen wir nur wegen dir in die Wilhelma und die Tiere anschauen.«

»Wegen mir!« Unser Jüngster strahlte begeistert. Für ihn war es ein tolles Gefühl, dass die ganze Familie nur wegen ihm so etwas Schönes erleben konnte. Er war ganz stolz und sprach von kaum etwas anderem.

Am großen Tag setzten wir uns ins Auto und fuhren nach Stuttgart. Schon auf der Fahrt schaute Tobias gespannt aus dem Fenster. Die ganze Zeit überlegten seine Schwestern und er, welche Tiere sie zuerst anschauen wollten.

»Vielleicht sind da Kinder, die wir kennen!«, überlegte Charlotte.

»Von Dr. Armann«, stimmte Tobi zu. »Und dann können wir alle zusammen die Tiere angucken.«

»Und leckere Sachen essen«, fiel Henriette ein. Die Kinder begannen zu diskutieren, welche köstlichen Dinge es wohl geben würde. »Wann sind wir da?« war die Frage, die am häufigsten gestellt wurde.

Um 17 Uhr sollte es losgehen und pünktlich standen wir mit den anderen eingeladenen Familien vor dem Eingang. Drinnen begrüßte uns eine Trommelgruppe mit Musik, ein tolles Spektakel. Dann ging es los. Wir durften uns alles anschauen: In der Futterküche sahen wir, wie das Futter gemischt wurde. Die Elefanten beispielsweise bekamen Kohlrabi, gelbe Rüben und Sellerie. Tobi sah mit großen Augen zu, wie sie das Gemüse vorsichtig und bedächtig mit ihren Rüsseln aufhoben und es sich in die Mäuler steckten, als würden sie mit Händen essen. Die Mädchen entdeckten ein Foto, das sie auf der Stelle besonders toll fanden. Es zeigte eine Geburtstagstorte, die einer der Elefanten zum sechzigsten Geburtstag bekommen hatte. Eine Elefantengeburtstagstorte! Sie konnten sich vor Begeisterung kaum einkriegen.

Die Kinder durften sich anschließend den Raum ansehen, in dem die Eisbären ihre Babys bekamen. Die gewaltigen Bären mit ihrem leuchtend weißen Fell beeindruckten Tobias ganz besonders. In einem Raum waren die Transportkisten der Tiere aufgestellt und die Kinder durften sogar hineinklettern. Es gab überall Infostände zu den verschiedenen Tieren. Eine Station bestand aus Schädeln, denen die Kinder kleine Tierfiguren zuordnen mussten. Generell gab es viel zum Anfassen. Die Mädchen fanden das Leopardenfell spannend, über das sie vorsichtig streichelten. Und bei den Alpakas bekam jedes Kind ein Tütchen mit Alpakawolle geschenkt.

Doch das war nicht alles. Polizei und Sanitäter waren ebenfalls vor Ort und hatten ihre Wagen dabei. Die Kinder durften sich alles anschauen und sogar in Polizei- und Rettungswagen hineinsetzen, was fast so spannend war, wie die Tiere anzuschauen. Und überall gab es kostenloses Essen. Verschiedene Firmen hatten Stände aufgebaut, es gab Maultaschen, Hotdogs, Brezeln, Obstsalat, Eis, Kuchen, Getränke und mehr. Schnitzel mit Pommes und Eis am Stiel waren die Favoriten unserer Kinder.

Ein besonderes Highlight waren die Stelzenläufer, die mit Süßigkeiten gefüllte Vogelhäuschen über das Gelände trugen und zu den kleinen Besuchern herunterließen, die sich dann etwas daraus nehmen durften. Wo man hinsah, waren glückliche Kinder. Nachdem es dunkel geworden war, gab es eine Feuershow. Mit großen Augen schauten Klein und Groß den wirbelnden Flammen zu, die von Artisten scheinbar mühelos durch die Luft geschleudert wurden. Tobi griff stumm nach meiner Hand und ich merkte ihm an, wie glücklich er war.

Als wir gegen 22 Uhr den Park verließen, hielt jedes der Kinder stolz eine kleine Eisbären-Figur in der Hand, ein Geschenk der Wilhelma als Andenken an die Dreamnight. Die Mädchen hüpften ausgelassen über den Parkplatz und plapperten fröhlich über das Erlebte. Wir setzten alle in ihre Kindersitze und schnallten sie an. Dann fuhren wir los, es dauerte nicht lange und alle drei waren fest eingeschlafen.

Elisabeth und ich sahen uns an. »Das war so ein schöner Tag. Und es freut mich nicht nur für Tobi, sondern auch ganz besonders für unsere Mädchen«, sagte Elisabeth liebevoll. »Sie müssen so oft zurückstecken und funktionieren. Da ist es einfach schön, dass sie ganz ungezwungen Spaß hatten.« Und es stimmte, die Mädchen mussten oft zurückstecken. Tobi stand meistens im Mittelpunkt, auch weil es durch seine Krankheit oft nicht anders ging. Er brauchte spezielle Pflege, spezielle Nahrung, spezielle Aufmerksamkeit. Wenn die Mädchen ins Schwimmbad wollten, konnte nur einer von uns mit, der andere blieb bei Tobi. Wenn wir etwas gemeinsam geplant hatten und Tobi ging es schlecht, fiel es entweder ganz aus oder einer von uns blieb zu Hause. Deshalb waren solche Erlebnisse wie die Dreamnight so kostbar für uns als Familie.

Elisabeth und ich schwelgen noch ein wenig in Erinnerungen, während wir den Kindern beim Spielen zusehen. Momente wie diese sind Schätze für uns, weil sie so selten sind. Zeit als Ehepaar verbringen wir eigentlich gar nicht mehr. Unsere gemeinsamen Momente sind getaktet – von Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten, von Tobis Krankheit und allen damit verbundenen Einschränkungen. Wir schlafen getrennt, damit immer jemand bei Tobi ist. Unsere Ehe funktioniert. Wir funktionieren. Es ist ein Opfer, für das wir uns aus Liebe entschieden haben. Ich glaube, in uns beiden lebt die unausgesprochene Hoffnung, dass es irgendwann wieder anders wird. Wenn es Tobi besser geht, wenn er gesund ist, vielleicht …

Ich hole meinen Laptop, damit wir uns einige Fotos anschauen können, und öffne den Ordner mit den Urlaubsbildern. Kurz nach der Dreamnight fand unser nächstes gemeinsames Abenteuer statt, das wir uns nach Tobis Diagnose nie hätten träumen lassen.

Das zweite große Familienabenteuer im Jahr 2012 und wirklich Zeit, alle zusammen zu sein, erlebten wir an der Nordsee. Mein Bruder Paul-Gerhard ist Pfarrer und war mit seiner Frau und den Kindern in Schillig in der Nähe von Wilhelmshaven, wo er ehrenamtlich als Urlaubsseelsorger tätig war. Wir beschlossen, ebenfalls nach Schillig zu fahren und zum ersten Mal seit Tobias’ Geburt Familienurlaub zu machen. In den Jahren zuvor war das einfach unmöglich gewesen, doch nun, wo unser Sohn einigermaßen stabil war, wollten wir es wagen. In Wilhelmshaven war außerdem eine gute Kinderklinik, in der wir jederzeit Hilfe finden konnten, falls es Komplikationen geben oder Tobis Zustand sich verschlechtern sollte. Das ganze Team der Kinderarztpraxis hoffte und betete mit uns, dass alles gut gehen würde.

Einen Tag vor dem Urlaub hatten wir noch eine mittlere Katastrophe zu bewältigen. Die Kinder waren beim Trampolinspringen, als wir plötzlich lautes Weinen aus dem Garten hörten. Es stellte sich heraus, dass Tobi falsch aufgekommen war und nun sein Bein nicht mehr belasten konnte. Ich fuhr sofort mit ihm in die Klinik. Da die Mitarbeiter dort uns und vor allem Tobias bereits gut kannten, musste er nicht warten, sondern kam gleich dran. Nach dem Röntgen war klar: Tobi hatte sich das Bein gebrochen. Wir machten lange Gesichter. Stand unser Urlaub jetzt auf der Kippe?

Glücklicherweise konnten uns die Ärzte gleich beruhigen. Tobi bekam eine Schiene, die mit einem Klebeverband am Bein befestigt wurde, sodass wir trotzdem fahren konnten. Der Radiologe notierte sich sogar meine Telefonnummer, um mich im Urlaub kontaktieren zu können.

Durch das gebrochene Bein waren wir ein bisschen im Hintertreffen, was die Urlaubsvorbereitungen anging. Wir packten zwei Bananenkisten mit Medikamenten, Spezialnahrung und Verbandmaterial für Tobias ein. Dazu kamen sein Kinderwagen, die Fahrräder der Mädchen und Spielsachen für den Strand. Unsere Koffer komplettierten das Gepäck – das Auto war bis obenhin voll. Die Kinder schauten aufgeregt beim Packen zu. Sie waren kaum ins Bett zu bekommen und als sie endlich unter ihren Decken lagen, versuchten sie, ganz schnell einzuschlafen, damit der Urlaub endlich da war.

Am nächsten Morgen um vier Uhr ging es los. Ich trug die schlafenden Kinder in Decken gewickelt ins Auto und schnallte sie an. Die Mädchen schliefen einfach weiter. Tobi musste dafür erst vorsichtig von der Leitung befreit werden, die zur Ernährungspumpe führte. Doch gerade als ich ihn in seinen Kindersitz gesetzt hatte und anschnallen wollte, wachte er auf.

»Papa, fängt jetzt Urlaub an?« Er sah mich mit müden, aber leuchtenden Augen an.

Ich lächelte: »Ja, jetzt fängt Urlaub an.« Tobi lächelte zurück – dann fielen ihm wieder die Augen zu und er schlief ein.

Die Fahrt war ruhig, wir kamen gut in Schillig an. Unsere Ferienwohnung war schön und nicht weit vom Strand entfernt. Nachdem wir ausgepackt hatten, gingen wir auch direkt ans Meer. Über Tobis geschientes Bein zogen wir zum Schutz vor Sand, Schmutz und Wasser eine Mülltüte. Das Spielzeug für den Strand packten wir zu ihm in den Kinderwagen. Als wir dann mit den Füßen im warmen Sand standen und auf das sonnenbeschienene Meer schauten, wurden die Kinder für einen Moment ganz still. Sie standen staunend und fast ehrfürchtig da, bevor sie jubelnd und ausgelassen im Sand zu spielen begannen.

Das Wetter war wundervoll und wir genossen die freie Zeit gemeinsam in vollen Zügen. Zweimal am Tag gingen Henriette und Charlotte mit ihren Cousinen Priscilla und Christina ins »Fischerboot«, ein christliches Ferienprogramm für Kinder, das in einem großen Zelt am Strand stattfand. Das Programm war interessant und abwechslungsreich gestaltet. Die Mitarbeiter erzählten Geschichten aus der Bibel und Rätsel. Es gab Spiele und sogar eine Band, die die Kinder beim Singen begleitete. Jeden Morgen setzte ich Tobias in den Kinderwagen und ging mit den Mädchen zum Ferienprogramm. So hatte Elisabeth auch mal ein bisschen Freizeit, in der sie ausspannen konnte.

Tobi liebte die Zeit im »Fischerboot«. Er hörte den Geschichten mit aufmerksamem Gesicht zu und hatte viel Spaß, wenn alle sangen. Wenn er müde wurde, schob ich ihn im Kinderwagen den Strand entlang und machte einen langen Spaziergang. Er schlief dabei meistens ein. Wir merkten schon nach wenigen Tagen, wie gut die raue Seeluft unserem Jungen tat. Er atmete leichter als sonst und seine Bronchien waren viel freier. Als die Mitarbeiter des »Fischerbootes« erfuhren, dass Tobias chronisch krank war, beteten sie in ihrem Team täglich für ihn. Wir waren davon tief bewegt.

Auch sonst genossen wir die gemeinsame Zeit. Wir waren häufig am Strand, wo die Kinder spielten und tobten. Zum Schutz gegen Sonne und Wind hatten wir eines dieser Strandzelte, eine Strandmuschel, aufgebaut. Ins Wasser gingen sie anfangs nur mit uns, da sie ein bisschen Angst vor dem großen Meer hatten. Doch bald planschten sie in der flachen Brandung und holten Eimer mit Wasser heran, um Sandburgen zu bauen – und eine Eisdiele. Die Mädchen gruben ein kleines Loch, in das Tobias sich hineinsetzen konnte. Vor ihm bauten sie aus Sand eine Theke. Einige der Sandförmchen waren wie Eiswaffeln geformt, die wurden oben in die Theke gesteckt. Tobi war begeistert: Er konnte jetzt Eisverkäufer spielen und hatte in seinen Schwestern, Cousinen und Cousins eine ziemlich große Kundschaft.

Überhaupt verbrachten wir viel Zeit mit meinem Bruder und seiner Familie. Mittags aßen wir fast immer gemeinsam. Dank der frischen Luft hatten die Kinder einen guten Appetit. Selbst Tobi schmeckte das Essen besser als sonst.

Einmal beschlossen wir, mittags am Strand zu grillen – ein richtiges Abenteuer für die Kinder. Draußen zu essen hatte ihnen schon immer gefallen. Wir hatten alles dabei für ein waschechtes Strandpicknick – den Grill, Decken, Fleisch, Gurken, gelbe Rüben, Cocktailtomaten, Radieschen, Brötchen, Geschirr und Besteck. Für den Nachtisch hatten wir jede Menge Obst im Gepäck. Ich feuerte den Grill an und legte die Steaks auf, während die Kinder über den Strand tobten. Die Sonne verschwand an diesem Tag immer wieder hinter den Wolken, aber wir dachten uns nichts dabei. Als die Steaks gerade zur Hälfte gar waren, fing es plötzlich heftig an zu regnen.

Die anderen Urlauber um uns herum verließen den Strand fluchtartig. Aber es wäre zu schade gewesen, jetzt auch zu gehen. Wir hatten einen roten Sonnenschirm dabei, den ich aufspannte und über den Grill hielt. Der Rest der Familie saß in der Strandmuschel und die Kinder quietschten jedes Mal, wenn ein Regenschauer sie traf. Der Anblick muss wirklich lustig gewesen sein, denn einige der Vorbeihastenden grinsten amüsiert. Gerade als ich fertiggegrillt hatte, hörte der Regen auf und wir konnten gemeinsam essen.

In dieser unbeschwerten Situation fühlte ich mich so jung und beschwingt wie lange nicht mehr und ich sah Elisabeth an, dass es ihr ähnlich ging. Wir konnten alle die ganze Zeit zusammen sein, das war ein ungewohntes Geschenk für uns. Es gab nicht wie so oft diese Trennung, die Situation, dass nicht alle mitkommen konnten, wenn der Rest der Familie etwas unternahm. Stattdessen gingen wir gemeinsam zum »Fischerboot« oder an den Strand, beobachteten Möwen, sammelten Muscheln und spazierten durch die Brandung, während die Wellen leise rauschend unsere Füße umspülten. Als wir uns nach drei Wochen auf den Heimweg machten, waren wir so entspannt und fröhlich wie lange nicht mehr.

Während Elisabeth und ich uns Urlaubsfotos anschauen, kommen die Kinder dazu. Jedem fällt etwas ein, das wir an der Nordsee erlebt haben. Als mein Blick schließlich auf die Uhr fällt, klappe ich den Laptop zu. »Zeit fürs Bett!«, sage ich mit Nachdruck. »Ihr müsst schließlich morgen wieder in die Schule – und in den Kindergarten.«

»Papa, dürfen wir heute bei Tobi und dir schlafen?« Charlotte sieht mich bittend an.

»Nein. Ihr wisst doch, dass es nachts zu unruhig im Elternschlafzimmer ist, wenn die Pumpe wieder piept. Ihr braucht auch euren Schlaf. Na los.« Ich drücke sie an mich und gebe ihr einen Kuss. Sie sieht enttäuscht zu Boden. Dann geht sie Richtung Kinderzimmer. Ich schaue ihr mit gemischten Gefühlen nach.

In dieser Nacht wache ich sechsmal auf. Nicht unsere beste, aber auch nicht unsere schlechteste Nacht. Nichtsdestotrotz bin ich am Morgen müde. Diese andauernde Müdigkeit, diese tiefe innere Erschöpfung ist zu meinem stetigen Begleiter geworden. An eine Zeit ohne sie kann ich mich kaum noch erinnern – und ich kann mir so eine Zeit für die Zukunft in meinem müden Kopf gerade nicht mehr richtig vorstellen. Manchmal komme ich mir so vor, als laufe ich auf Autopilot.

Gleichzeitig werden durch die Sorge um Tobis Wohlergehen Kräfte freigesetzt, mit denen ich nie gerechnet hätte. Während meiner Zeit bei der Bundeswehr habe ich die Nachtwachen immer gehasst und war am nächsten Morgen stets im Eimer. Doch nun, wo ich nachts mehr als zwei- oder dreimal aufwache und zutiefst erschöpft bin, schaffe ich es, meine Tage zu meistern. Dabei sind es vor allem die Kinder, die mich aufrecht halten, denke ich.

Dafür, dass Tobi auch immer wieder von seiner piepsenden Ernährungspumpe aus dem Schlaf gerissen wird, ist er erstaunlich ausgeruht. Er steckt das deutlich leichter weg als ich. Und man merkt ihm an, wie gerne er jeden Morgen in den Kindergarten geht.

Tobias war von Anfang an ein aufgeweckter Junge, der alles wissen, alles verstehen wollte. Da freuten wir uns ganz besonders, dass der Kindergartenbesuch nach Absprache mit den Ärzten für ihn möglich war. Das war im Oktober 2012, Tobi war dreieinhalb Jahre alt.

Die Ernährungspumpe musste er glücklicherweise nicht mitnehmen. Da der Nahrungsbrei in kürzerer Zeit in seinen Magen gepumpt wurde, genügte es, wenn die Pumpe nachmittags, abends und nachts lief. Das brachte unserem Jungen eine nahezu ungewohnte Freiheit. Und da er mittlerweile auch selbst essen konnte, packte Elisabeth ihm immer eine Vesperdose mit ganz verschiedenen Leckereien ein – so war die Chance groß, dass etwas dabei war, das er an diesem Tag gerne mochte.

Vor dem ersten Kindergartentag traf sich Elisabeth mit den Erzieherinnen und besprach mit ihnen, was sie beachten mussten. Wegen der Infektionsgefahr durfte Tobi nicht aus dem gleichen Becher wie andere Kinder trinken, nicht in der Matratzenecke spielen und nicht auf die Kindertoilette. Wenn er auf die Toilette musste, gingen die Erzieherinnen mit ihm aufs Mitarbeiter-WC, das sie vorher desinfizierten. Und natürlich mussten beim Spielen und Toben alle darauf achten, dass unser Sohn sich nichts brach.

Der erste Tag im Kindergarten war komplett entspannt, sowohl für Tobi als auch für uns. Er hatte seine Schwestern und Cousinen schon häufig begleitet, wenn Elisabeth oder seine Tante sie morgens hingebracht hatten. Henriette war zwar mittlerweile in der Schule, aber Charlotte ging mit ihren fünf Jahren noch in den Kindergarten und so verschwand Tobi mit ihr im Inneren des Hauses, ohne dass es Tränen gegeben hätte.

Er hatte großen Spaß beim Spielen mit den anderen Kindern und fand schnell Freunde. Besonders gerne mochte er Tom und Lasse. Aus Hygienegründen durfte Tobi nicht in den Sandkasten, aber seine Freunde schaufelten extra für ihn Sand auf den Rand, damit er mitspielen konnte.

Auch die Erzieherinnen hatten ihn ins Herz geschlossen. Tobi sprach gerne mit anderen und unterhielt sich über alles Mögliche, das ihm so durch den Kopf ging. Wenn er etwas Interessantes sah, hatte er schnell Ideen, was sich daraus basteln ließe, und erzählte den anderen davon. Er half, wo er nur konnte. Wenn die Erzieherinnen die Bastelsachen für den nächsten Tag herauslegten, ging er ihnen zur Hand. Und wenn unser Jüngster wieder einmal krank war und zu Hause bleiben musste, gaben sie Lotte immer wieder kleine Briefe für ihn mit.

Eines Tages erzählte Tobias mir ganz stolz, dass er einem Jungen geholfen habe, seine Brotdose aufzubekommen. »Bist du stärker als der andere Junge?«, fragte ich ihn ein wenig erstaunt, wohl wissend, dass mein Sohn eigentlich nicht sehr kräftig war.

»Nee, Papa«, schüttelte er den Kopf. »Aber er hat den Verschluss nicht aufbekommen, und ich hab ihm gezeigt, wie das geht.«

»Du bist ein richtig kluger Kopf!«, lobte ich ihn und sah das glückliche Strahlen in seinen Augen. Er lechzte förmlich danach, anderen helfen und auch etwas geben zu können. Vielleicht, weil er selbst oft so hilfsbedürftig war. Er war unglaublich stolz darauf, etwas beitragen zu können. Und wenn andere sich über seine Hilfe freuten, war das für ihn die größte Belohnung.

Das zeigte sich auch an Tobis Holz-Expeditionen. Auf dem Gelände des Kindergartens standen viele alte Bäume und wenn es windig war, lagen danach immer Äste auf dem Boden. Tobi sammelte sie jedes Mal auf und wenn es zu viele waren und er sie nicht tragen konnte, legte er sie in sein »Versteck«. Wenn Elisabeth ihn dann abholte, nahm er die Äste und Zweige mit nach Hause. In der Garage hatten wir eine Kiste, in der wir sie sammelten. Unser Sohn freute sich über jedes Stückchen Holz, das er dafür gefunden hatte, und das aus gutem Grund: Elisabeth buk unser Brot in einem Holzbackofen und jeder einzelne von Tobis gesammelten Ästen wurde mit zum Feuermachen verwendet.

Wir waren froh, dass Tobias so schnell Freunde fand und Spaß beim Spielen mit den anderen Kindern hatte. Trotz seiner Krankheit war er immer ein geselliges Kind. Auch zu Hause spielte er gerne mit seinen Schwestern, Cousinen und Cousins. An Ostern kurz vor seinem vierten Geburtstag schenkten seine Großmutter und sein Patenonkel Wilhelm unserem Sohn einen Traktor mit Pedalen. Eigentlich bekamen die Kinder zu Ostern außer Ostereiern und einigen Süßigkeiten nicht viel, doch wegen Tobis Krankheit machten wir eine Ausnahme für alle.

Der Traktor hatte nicht nur einen, sondern gleich zwei Anhänger: einen Kipper und ein Güllefass. Weil Tobias nicht genügend Kraft in den Beinen hatte, um selbst zu strampeln, schoben seine Schwestern und die anderen Kinder ihn durch den Garten und über den Bürgersteig. Das Güllefass konnte man mit Wasser füllen – wenn man dann pumpte, konnte man das Wasser durch die mit dem Fass verbundene Spritze ein ganzes Stück weit schießen. Damit ließ sich doch einiges an Schabernack treiben.

Tobis Cousin Lukas, der elf Jahre älter war, stellte sich als der perfekte Streichpartner heraus. Er füllte das Güllefass mit dem Gartenschlauch. Dann schob er Tobi mit dem Traktor bis unter den Kirschbaum in unserem Garten, von dem aus man einen guten Blick auf die Straße hatte. Während Lukas sich an die Pumpe stellte, richtete Tobi die Spritze mit einem schelmischen Grinsen auf Bürgersteig und Straße und wartete, ob er jemandem einen Streich spielen könnte. Als ein Auto vorbeifuhr, fing Lukas an zu pumpen. Tobi traf mit der Spritze und freute sich diebisch. Beim nächsten vorbeifahrenden Auto schaffte er es sogar, einen Wasserstrahl ins offene Autofenster zu schießen. Gebannt schaute er dem Auto nach – glücklicherweise hielt es nicht an, sonst hätten sich die beiden Jungs sicherlich etwas anhören können!

Das war vor einem halben Jahr gewesen. Damals wussten wir noch nicht, ob wir jemals eine Diagnose bekämen und wüssten, woran Tobi eigentlich litt. Doch nächste Woche würden wir mehr wissen. Endlich.

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