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Lichtblicke und dunkle Stunden
ОглавлениеIch fuhr zusammen mit Tobias nach München. Elisabeth blieb mit unseren Mädchen zu Hause. Es war schwer genug für die beiden, dass ein Elternteil immer bei Tobi im Krankenhaus war. Sie sollten nicht auf beide Eltern verzichten müssen. Wenn Elisabeth einmal wegmusste, konnten die Mädchen glücklicherweise bei ihrer Oma bleiben, an der sie sehr hingen. Oma Elisabeth hatte selbst fünf Kinder großgezogen und zu diesem Zeitpunkt bereits 24 Enkel – Hetty und Lotte hätten also nicht besser versorgt sein können. Trotzdem war es nicht einfach, dass die Familie nun länger getrennt sein sollte.
In München angekommen, empfing mich Professor Belohradsky sehr schnell. Nachdem er mich begrüßt hatte, nahm ich ihm gegenüber Platz. »Wissen Sie«, begann er das Gespräch, »in einem Fall wie dem Ihres Sohnes ist das Gebet das Wichtigste.«
Ich sah ihn überrascht an. »Gebet ist für uns sehr wichtig«, sagte ich.
Er lächelte mir aufmunternd zu. Was für ein Geschenk, dass Tobis Ärzte beide gläubige Menschen sind, dachte ich in diesem Moment, denn auch Dr. Armann hatte uns bereits versichert, dass er für uns betete. Zwei Männer, die mit uns um Tobis Leben kämpften – und die wussten, dass sie es nicht allein in der Hand hatten, was passierte, dass es jemanden gab, der größer ist als wir. Jemand, der es gutmachen konnte.
Ich fühlte mich bei Professor Belohradsky sofort gut aufgehoben. Er nahm sich Zeit für mich und meine Fragen und Sorgen. Unser Kinderarzt hatte ihm bereits die Krankenakte sowie alle weiteren nötigen Unterlagen zukommen lassen, trotzdem ließ er sich von mir noch einmal alles berichten, was seit der Geburt unseres Jüngsten passiert war. Dabei machte er sich sorgfältig Notizen. Anschließend fasste er zusammen, was er aus Tobis Akten und von den Ärzten erfahren hatte, bei denen unser Sohn bisher in Behandlung war. Dann erklärte er mir seine Vermutung und die weitere Vorgehensweise.
»Herr Roller, wir werden ein Expertenteam bilden, dem Ärzte aus verschiedenen Fachbereichen angehören. Ich selbst werde die Leitung übernehmen. Wir werden uns regelmäßig über den Verlauf von Tobias’ Krankheit und die Untersuchungsergebnisse austauschen und über die Behandlungsmöglichkeiten beraten. Ich will allerdings ganz ehrlich zu Ihnen sein«, sagte er und sah mich ernst an. »Der Fall Ihres Sohnes ist sehr kompliziert. Ich kann Ihnen nichts versprechen. Wir werden unser Möglichstes tun, aber der Ausgang ist ungewiss.«
Das laute Piepen der Ernährungspumpe holt mich unerwartet wieder aus meinen Erinnerungen in die Gegenwart. Schnell gehe ich die wenigen Schritte vom Schlafzimmerfenster zum Bett. Ich richte den abgeknickten Schlauch. Tobi wacht dabei auf.
»Bist du nicht müde, Papa?«, murmelt er leise.
»Doch, Tobi-Schatz, ich bin auch müde.« Ich lächle ihn liebevoll an.
»Dann musst du dich aber hinlegen. Du kannst ja nicht im Stehen schlafen!«, grinst Tobi schelmisch und ein wenig wacher. Ich muss lachen und lege mich neben ihn. Tobi kuschelt sich an mich. Ich küsse ihn auf den Kopf und streiche ihm übers Haar.
»Siehst du, Papa, wenn ich mit dir kuschle, kannst du viel besser schlafen«, sagt Tobi überzeugt. Während er wieder einschläft, hält er meine Hand. Meine Erinnerungen kehren zurück zu unserer ersten Zeit in der Münchner Klinik. Schon damals waren wir immer an seiner Seite. Und bereits in dieser frühen Zeit seiner Kindheit wurde schnell klar, dass unser Junge ein echter Kämpfer war, der nicht einfach aufgeben würde.
Nach meinem Gespräch mit dem Münchner Professor rief ich Elisabeth an und erzählte ihr alles. Wir entschieden, dass immer einer von uns für zwei Wochen bei Tobias bleiben würde. Ich würde die ersten beiden Wochen in München sein, dann würden wir tauschen. Und auch wenn der Ausgang, wie Professor Belohradsky sagte, ungewiss war, gab es immer wieder kleine Lichtblicke. In der ersten Woche meinte einer der Ärzte, nachdem er zu einer Behandlung in Tobis Zimmer war: »Man sieht einem Kind an, ob es eine Chance hat, zu überleben. Einige der Kleinen wirken müde und kraftlos. Aber Ihr Tobias ist ein kleiner Kämpfer. Wenn es einer schafft, dann er!« Und Tobias war wirklich ein Kämpfertyp. Er hielt sich mit aller Kraft an seinem kleinen Leben fest. Trotz seines Alters schien er jetzt schon das Beste aus den Momenten zu machen, in denen es ihm einigermaßen gut ging.
Das Blutabnehmen war ein perfektes Beispiel dafür. Wie schon in Tübingen musste bei ihm auch in München täglich Blut abgenommen werden. Seine kleinen Venen waren sowieso schon stark in Mitleidenschaft gezogen worden und die neue Belastung machte es nicht besser. Täglich dauerte die Prozedur länger. Man merkte Tobi an, dass er dabei Schmerzen hatte, denn er schrie meistens wie am Spieß. Mir zerriss es jedes Mal das Herz. Ich konnte nichts tun, als ihm beruhigend über den Kopf zu streichen.
An einem Tag versuchten die Ärzte eine halbe Stunde lang, genügend Blut aus seinem kleinen Körper zu bekommen, damit alle nötigen Tests vorgenommen werden konnten. Ich wünschte mir so sehr, dass mein Junge diese Quälerei nicht mehr durchmachen müsste. Nach dieser schier endlosen halben Stunde war Tobi feuerrot im Gesicht und so erschöpft, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Doch sobald die Kanüle gezogen und der Stich versorgt war, beruhigte er sich und begann, die Ärzte anzulächeln. Denen merkte man an, dass es auch für sie eine besondere Situation war. Tobis Lächeln war wie ein Sonnenstrahl, in dessen Licht die Anspannung, das Mitleid und die Erschöpfung schwanden. Und er brachte Sonnenschein auf die Station, über der trotz aller ärztlichen Erfolge doch immer eine ernste Atmosphäre lag.
Die Tage auf der Station waren lang. Tobias lag in einem Isolierzimmer am Ende des Flures, um ihn vor Infektionen zu schützen. Das einzige kleine Fenster im Zimmer war mit einem Fliegengitter aus Metall verschlossen, durch das man eigentlich nichts sah. So kamen zwar keine Insekten herein, für Elisabeth und mich bedeutete das allerdings auch, nicht einmal aus dem Fenster schauen zu können. Derjenige von uns, der gerade im Krankenhaus bei Tobi war, verbrachte den Tag sitzend oder stehend an seinem Bett. Da unser elf Monate alter Sohn sich noch nicht selbst helfen konnte, versuchten wir, ihm die Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Wenn er wach war, sprachen wir mit ihm oder streichelten ihm über den Kopf. Dann strahlte er uns unter seinen langen Wimpern an und lächelte. Gerade in diesen gleichförmigen und tristen Tagen war das wie ein Energieschub für uns.
Das Essen war leider eines der größeren Probleme, da Tobi nicht viel bei sich behielt. Deshalb fütterten wir ihn immer wieder und taten unser Bestes, um ihm seinen Brei in irgendeiner Weise schmackhaft zu machen. Der Versuch, ihn über eine Nasensonde mit sehr kalorienreicher Nahrung zu versorgen, scheiterte leider, weil Tobi auch diese nach kurzer Zeit wieder erbrach. Die Tücher, die wir unterlegten, mussten vorher und nachher gewogen werden, damit wir feststellen konnten, wie viel er wirklich im Magen behalten hatte. Es war nie viel.
Die Ärzte entschieden sich schließlich dafür, ihm eine PEG-Sonde zu legen: eine Magensonde, über die Spezialnahrung direkt in seinen Magen gelangen konnte. Dieser flüssige Nahrungsbrei war so zusammengesetzt, dass er nicht erst verdaut werden musste und die Nährstoffe schnell ins Blut gingen. Gleichzeitig mit der PEG-Sonde wurde außerdem ein Hickman-Katheter eingesetzt – ein Zugang, über den Blutabnahme und Infusionen stattfanden, ohne dass Tobi jedes Mal gestochen werden musste. Zumindest diese Hoffnung hatte sich erfüllt.
Mehrmals am Tag telefonierte ich mit Elisabeth und den Mädchen. Die beiden erzählten in ihrer kindlichen Unbekümmertheit, was sie im Kindergarten, mit Mama oder Oma erlebt hatten. Ich erzählte ihnen dafür von Tobi. Die ganze Schwere der Situation hielten wir so gut wie möglich von ihnen fern. Als wir sie einmal fragten, weswegen Tobi im Krankenhaus wäre, schaute Lotte uns mit großen Augen an und antwortete dann überzeugt: »Schnupfen!«
Trotzdem litten unsere Töchter unter der Trennung, die wir als Familie durchmachen mussten, so tapfer sie auch waren. Bei den Telefongesprächen mit Elisabeth oder mir fragten sie immer, wann wir nach Hause kämen. Am schwersten war es für Charlotte. Henriette ging schon in den Kindergarten, ihr Tagesablauf änderte sich also nicht so gravierend. Doch Lotte war die ganze Zeit zu Hause. Wenn Elisabeth bei den Mädchen war, ging es noch einigermaßen, da sie die ganze Zeit bei ihnen blieb.
Ich hingegen war im Büro. Und wenn ich länger arbeiten musste, weil ich noch eine Sitzung oder Abendveranstaltung hatte, holte ich meine schlafenden Töchter bei meiner Mutter oder meinem Bruder ab. Ich trug sie dann nach Hause. Wie oft weinten sie sich in den Schlaf, wenn ich zu spät kam. Jedes Mal, wenn meine Mutter oder meine Schwägerin davon erzählten, fühlte ich einen Stich. Aber ich musste doch schließlich irgendwann arbeiten. Meinem schlechten Gewissen half das allerdings nicht wirklich. Denn die Zeit, die ich an Tobis Krankenbett verbrachte, war nicht durch die Arbeit begrenzt. Zeit, die den Mädchen fehlte. Zeit, die ich nicht besser aufteilen konnte, weil ich einfach nicht wusste, wie ich es sonst hätte tun sollen. Die Mädchen durften immerhin mit im Elternbett schlafen. Es war so wichtig für sie, das merkte ich. Und ich wollte, dass sie spürten, wie wichtig sie für mich waren.
Auch an diesen Abenden telefonierte ich mit Elisabeth. Sie hielt Tobi dann das Mobiltelefon hin und ich sprach mit ihm oder pfiff ihm Lieder zum Einschlafen vor.
Wenn wir einander in München ablösten, war das ebenfalls nicht leicht. Als Elisabeth zum ersten Mal kam, um für zwei Wochen bei unserem Sohn zu bleiben, wollte Tobi mich gar nicht gehen lassen. Er versuchte, mich mit seinen kleinen Händchen festzuhalten, und weinte dabei die ganze Zeit. Ich zögerte den Abschied so lange wie möglich hinaus. Doch schließlich musste ich mich losreißen, meine Mädchen warteten zu Hause.
Tobis kleine, weinende Gestalt in seinem Krankenbett zerriss mir fast das Herz. Jeder Schritt von ihm weg fühlte sich irgendwie schmerzhaft an. Meine Beine waren schwer, alles war schwer. Unterwegs konnte ich mich kaum auf die Fahrt konzentrieren. Ich rief Elisabeth im Krankenhaus an. Tobi weinte immer noch. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, pfiff ihm Lieder vor. Ich war bestimmt eine Stunde am Telefon, bevor es wieder einigermaßen ging.
Dieser Abschied sollte nicht der letzte sein, der so schwierig war. Unser Sohn war dadurch, dass ich von Anfang an so viel Zeit mit ihm verbracht hatte, so sehr auf mich fixiert, dass es jedes Mal ein Drama war, wenn ich gehen musste. Und mir fiel jeder Abschied von ihm genauso schwer.
Die Zeit in München zehrte an unseren Kräften. Wenn Tobi eingeschlafen war, hätten wir eigentlich die Chance gehabt, das Zimmer zu verlassen und etwas anderes zu sehen als Gitter, Krankenhauseinrichtung und Maschinen. Doch Tobi hatte einen leichten Schlaf und sein Unterbewusstsein registrierte sofort, wenn der Elternteil, der bei ihm wachte, aus dem Raum ging. So fröhlich und entspannt er sonst war – in diesen Momenten fing er an zu weinen. Das bedeutete, dass wir nur selten das Zimmer verlassen konnten und auch in den langen Nächten wenig Ruhe fanden. Ich schlief in keiner dieser Nächte mehr als eine Stunde am Stück und merkte, wie die ganze Situation mehr und mehr ihren Tribut forderte.
Während dieser Zeit hatte ich ein geschäftliches Meeting, das der Vorstand extra wegen mir in die Nähe des Münchner Krankenhauses verlegt hatte. Wir trafen uns in der Straße der Klinik, um beim Abendessen alles Nötige zu besprechen. Das Meeting dauerte für mich nicht sehr lange. Das Essen hatte gerade begonnen, als ich spürte, wie es in meiner Jackentasche vibrierte. Ich zog mein Telefon heraus und nahm das Gespräch an.
»Herr Roller?«, sagte eine der Krankenschwestern von Tobis Station. »Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber Tobi weint die ganze Zeit. Können Sie kommen? Wir wissen nicht, was wir noch machen sollen!«
»Ich komme gleich«, beruhigte ich sie. Dann stand ich auf. »Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich in der Runde. »Mein Sohn … Ich muss leider zurück ins Krankenhaus.« Das Essen, die Geschäftsvorbereitungen – das musste nun alles ohne mich stattfinden.
Als ich wenige Minuten später Tobis Krankenzimmer betrat, lag er mit hochrotem Kopf in seinem Bettchen und weinte. Ich setzte mich zu ihm und strich ihm über die schweißnasse Stirn. »Tobi, mein kleiner Schatz«, murmelte ich beruhigend. Die zusammengekniffenen Augen meines Sohnes öffneten sich und er sah mich an. Seine kleinen Hände schnellten vor und umklammerten meinen Arm. Dann entrangen sich seiner Brust noch einige wenige Schluchzer und er begann zu lächeln. Mir wurde warm ums Herz. Das verpatzte Meeting, mein Hunger – all das spielte gerade keine Rolle mehr. Tobi war glücklich, das war das Wichtigste.
Einmal während der langen Zeit in München standen wir kurz davor, aus der Klinik entlassen zu werden. Doch Tobis Werte stellten sich als extrem schlecht heraus. So wurde mir am Tag der Entlassung mitgeteilt, dass wir bleiben mussten. Die Blut- und Leberwerte verschlechterten sich ab diesem Zeitpunkt zusehends und mein Sohn wurde immer blasser und dünner. Eines Nachts, als es besonders schlimm war, hielt ich es kaum noch aus. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich mein Leid, meine Frustration und Sorge vielleicht sogar herausgeschrien. Doch nichts davon ging; ich war gefangen in diesem kleinen Krankenzimmer und dazu verurteilt, alles auszuhalten.
Ich betete lange in dieser Nacht und warf all meinen Schmerz vor Gott hin. »Vater, du hast uns Tobi doch geschenkt«, klagte ich. »Ich kann einfach nicht mehr mit ansehen, wie er leidet. Ich kann nicht mehr!« Ich schluchzte gequält auf. »Bitte entscheide doch endlich: Entweder lässt du uns Tobias oder du holst ihn zu dir! Aber so kann er doch nicht leben.« Die Ärzte hatten alles versucht, um zu helfen, keine Kosten und Mühen gescheut. Tobis Blutproben waren durch ganz Europa geschickt worden, doch auch dadurch gab es nichts Neues. Nun stand eine Knochenmarktransplantation im Raum und all die Untersuchungen gingen ergebnislos weiter.
Gott antwortete: Tobi blieb. Er war blass und schmal, er behielt immer noch fast kein Essen bei sich, aber er lebte. Ich nahm es als Geschenk. Für mich stand fest: Ich würde weiterkämpfen. Ich würde immer für Tobias da sein, alles tun, was möglich war. Auch wenn es bedeutete, nächtelang nur zu dösen und keinen richtigen Schlaf zu bekommen oder den Himmel tagelang nicht zu sehen.
Ein besonderer Lichtblick war die Unterstützung, die wir erhielten. Über meine Verwandten in England und unsere Kirchengemeinde waren wir mit Christen in ganz Europa verbunden, die für uns beteten. Jedes Mal, wenn eine Narkose oder eine komplizierte Untersuchung anstand, sagte ich ihnen vorher Bescheid und während des Eingriffs waren wir gemeinsam für Tobi im Gebet verbunden. Auch das gab uns unglaublich viel Kraft. So viele Menschen, die Anteil an unserem Schicksal nahmen und daran festhielten, dass Gott eingreifen kann.
Tobi dreht sich im Schlaf und kuschelt sich dabei noch enger an mich. Für unseren Sohn ist Körperkontakt unersetzlich, das merke ich immer wieder. Ich glaube, es war lebenswichtig für ihn, dass wir ihm unsere Liebe immer gezeigt haben und für ihn da waren, egal, in welcher Situation. Das hat ihm Kraft gegeben und geholfen, an seinem Leben festzuhalten.
Als es damals mit Tobis Krankheit losging und schnell schwierig wurde, haben Elisabeth und ich uns vorgenommen, immer alles Menschenmögliche für ihn zu tun. Uns war klar: Falls er nicht überleben sollte, würden wir uns Vorwürfe machen, wenn wir ihm sein Leben nicht so schön wie nur möglich gemacht hätten. Und nun ist er schon so groß und ein lebensfrohes Kind, ein kleines Wunder. Dass nicht alle kranken Kinder liebevolle Unterstützung bekommen oder bekommen können, lernte ich damals in München ebenfalls – eine schmerzliche Tatsache, an die ich heute noch nicht gerne denke.
Zusammen mit Tobi waren noch einige weitere schwer kranke Kinder auf der Isolierstation. Doch während wir unseren Sohn nie alleine ließen, bekamen diese Kinder selten oder nie Besuch. Warum waren ihre Eltern nicht da? Vielleicht hatten sie keine Kraft, ihre Kinder leiden zu sehen. Oder sie konnten sich nicht freinehmen wie ich – was für ein Geschenk das gute Verhältnis zu meinem Arbeitgeber war, wurde mir auch dadurch deutlich bewusst. Vielleicht hatten sie noch andere Kinder, die sie nicht alleine lassen konnten. Die ein oder anderen waren vielleicht auch darunter, denen das Schicksal ihrer Kinder egal war, aber das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen.
Einen für mich sehr traurigen Blickwinkel auf die Situation lernte ich kennen, als ich mit einem Bekannten sprach, der selbst Arzt war und ein Kind verloren hatte. »Weißt du«, sagte er und schaute aus dem Fenster. »Wir wussten, dass das Kind schwer krank war. Deshalb haben wir es nach der Geburt in der Klinik gelassen und sind nicht mehr hingegangen. Nach vier Monaten kam dann der Anruf, dass es gestorben ist.« Er schien meinen ungläubigen Blick zu spüren, denn er setzte gleich darauf hinzu: »So war es am besten für alle. Es hätte sowieso nicht überlebt und wir hätten uns nur noch mehr gequält, wenn wir Zeit mit ihm verbracht hätten. Wenn ich sehe, wie es euch geht, kann ich euch nur raten: Macht es genauso. Die Chancen, dass euer Junge überlebt, gehen gegen Null.«
Mein Bekannter war kein schlechter Mensch, ganz im Gegenteil. Aber ich wusste: Das kam für uns niemals infrage. Ich verurteile niemanden, der anders handelt, als wir es taten. Wie könnte ich – ich kenne die Situation dieser anderen Menschen nicht, ihre Kämpfe, ihre Schwierigkeiten, ihre Kraft. Doch Tobi war unser Kind, mit allem, was das für uns bedeutete. Und wir würden alles tun, was in unserer Macht stand, um ihm ein schönes Leben zu ermöglichen, egal, wie lang oder kurz dieses Leben sein würde.
Der Untersuchungsmarathon ging weiter. Viel wurde vermutet, aber die Ergebnisse passten nie hundertprozentig. Auch Mukoviszidose wurde noch diverse Male getestet, jedoch immer ohne Ergebnis. Schließlich kamen die Ärzte zu dem Schluss, dass Tobias aller Wahrscheinlichkeit nach eine Immunschwäche hatte. Die Behandlung wurde umgestellt, um sein Immunsystem zu stärken. Trotzdem ging es ihm nicht viel besser.
Seinen ersten Geburtstag feierte Tobi im Krankenhaus. Es war Pfingstsonntag und die Sonne war hinter einer dichten Wolkendecke verborgen. In meinem Herzen sah es ähnlich aus: Die Freude über den ersten Geburtstag meines Sohnes wurde immer wieder von Wolken überschattet, Sorgen über die Zukunft. Gerade deshalb wollte ich, dass er einen fröhlichen und schönen Geburtstag erlebte, auch wenn er natürlich nicht viel davon mitbekam.
Die Mädchen konnten leider nicht dabei sein. Da auf der Autobahn zu dieser Zeit eine Baustelle auf die nächste folgte, brauchte man von Tübingen nach München vier Stunden – eine so lange Autofahrt wollten wir ihnen nicht zumuten. Aber sie sangen ihm am Telefon ein Geburtstagslied und riefen ihm ihre fröhlichen Glückwünsche zu.
Die Krankenschwestern waren es schließlich, die den Tag wirklich unvergesslich machten. Auf dem Tablett, das sie in Tobis Zimmer brachten, waren ein Stofftier, zwei Bilderbücher, die sie in Geschenkpapier gewickelt hatten, ein Luftballon, ein buntes Windrad und eine Geburtstagskerze. Auf einem gelben Blatt Papier, mit lustigen Aufklebern verschönert, stand in großen Buchstaben: »ALLES GUTE zum Geburtstag lieber Tobi!! Deine Schwestern von der Intern Säugling«. Mir wurde warm ums Herz. So viel Aufmerksamkeit für meinen Sohn, dem das Ganze übrigens sichtlich Spaß machte. Er strahlte, griff nach dem Stofftier und gluckste und lachte die ganze Zeit.
Auch Henriette hatte Geburtstag, während Tobi im Krankenhaus war. Sie wurde fünf Jahre alt, bekam also schon sehr viel mit. Elisabeth war zu dieser Zeit bei unserem Jungen in München, sonst wäre vieles einfacher gewesen. Ich musste arbeiten und konnte daher kaum etwas vorbereiten. Mein schlechtes Gewissen meldete sich zwar, aber ich fühlte mich hilflos. Meine Arbeitgeber gaben mir so viel freie Zeit für Tobias, dass ich nicht auch noch freie Tage für die Mädchen einrichten konnte. Wir waren so dankbar, dass meine Schwägerin Carmen Zeit hatte und alles in die Hand nahm. Sie richtete bei uns zu Hause eine richtig schöne Geburtstagsparty für Hetty aus. Sowohl im Haus als auch im Garten war alles schön geschmückt, die Sonne schien, es gab Kuchen und andere Leckereien. Die anderen Kinder aus der Verwandtschaft und ein paar Freunde aus dem Kindergarten waren da. So hatte Hetty einen richtig tollen Geburtstag. Sie war glücklich und der ganze Trubel lenkte sie davon ab, dass sie ihre Mutter an diesem Tag doch ganz besonders vermisste.
Zurück im Krankenhaus stand ein Gespräch mit Tobis Ärzten an. Wir besprachen, wie es weitergehen würde. Als Behandlung gegen die Immunschwäche schlugen die Ärzte eine Knochenmarkstransplantation vor. Ich war unsicher – natürlich hoffte ich darauf, dass eine Behandlung wie diese ihm helfen würde, ihn vielleicht sogar gesund machen würde. Aber gleichzeitig war das für ein so schwaches, krankes Kind ein gewaltiger Eingriff. Was, wenn die Belastung zu viel für seinen kleinen Körper wäre? Was, wenn er sterben würde?
Elisabeth und ich sprachen lange darüber. Ich ließ mir alles von Tobis Ärzten erklären. Ich betete viel. Und ich entschied mich dagegen, obwohl die Ärzte mir dringend dazu rieten. Wenn ich Tobi ansah, wie er klein und blass in seinem Bettchen lag, wie er immer wieder nach Luft rang und husten musste – ich wusste, er würde es nicht schaffen. Seine Lungenentzündung war mittlerweile chronisch, trotz aller Bemühungen nahm er fast nicht zu. Sein Körper hätte diesem schweren Eingriff nicht standgehalten, dessen bin ich mir sicher.
Tobi war kurze Zeit nach der Entscheidung gegen die Knochenmarkstransplantation immerhin so stabil, dass er nach Hause entlassen werden konnte. Das machte es für unsere Familie einfacher, auch wenn er immer wieder für Untersuchungen ins Krankenhaus musste. Die Mädchen mussten nicht mehr auf einen von uns verzichten, die Wege waren kürzer.
In Tübingen stand allerdings auch die nächste Entscheidung an. Wegen Tobis schlechter Leberwerte hatten uns die Ärzte zu einer Lebertransplantation geraten. Die Voruntersuchungen begannen zügig. Man hatte uns Eltern zuerst getestet mit dem Ergebnis, dass Elisabeth als Spenderin infrage kam. Es folgten Aufklärungsgespräche über die Narkose, über die Operation, über die Risiken. Ich hatte die Einverständniserklärung für die Narkose bereits unterschrieben, als mir Zweifel kamen. Auch diesmal war es ein großes Risiko. Ich sprach noch einmal mit den Ärzten. Wenn sie mir für Tobi eine Überlebenschance von fünfzig Prozent zusagen konnten, würde ich dem Eingriff zustimmen. Die Antwort war ehrlich und entmutigend. Tobis Chancen, die Transplantation zu überleben, waren schlechter. Schweren Herzens sagte ich ab.
Ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, wie es sein würde, immer wieder Entscheidungen über das Leben meines Kindes zu treffen. So etwas wünsche ich niemandem. Es tut jedes Mal weh, weil die Ungewissheit da ist, dass es die falsche Entscheidung sein könnte. Keiner von uns kann in die Zukunft schauen, keiner weiß, wie sich alles vielleicht entwickelt hätte, wenn man den anderen Weg gegangen wäre. Wenn ich Gott nicht gehabt hätte, weiß ich nicht, wie ich dieses Nichtwissen und die Zweifel ausgehalten hätte. So aber war ich mit meiner Angst nicht allein. Ich fühlte mich getragen. Von Gott, der auch ein Vater ist. Ein Vater, der seinen Sohn leiden sah und der mich in meinem Schmerz verstand.
Bei aller Sorge, wie es weitergehen würde, waren wir einfach nur froh, Tobi wieder zu Hause zu haben. Alles wurde so eingerichtet, dass ich mit unserem Sohn zusammen im Elternschlafzimmer schlafen konnte. Diese Entscheidung mussten wir gar nicht lange bedenken: Elisabeth kümmerte sich tagsüber rund um die Uhr um Tobias und die Mädchen. Gerade durch die deutlich erhöhte Aufmerksamkeit, die Tobis aufwendige Behandlungen forderten, war das manchmal eine richtige Herkulesaufgabe. Die Kinder, der Haushalt, der Garten, in dem wir viel Gemüse selbst anbauten – das Leben musste ja irgendwie weitergehen. Bei diesen vielen Aufgaben wollte ich Elisabeth zumindest nachts entlasten, damit sie in Ruhe schlafen und Kraft schöpfen konnte.
Der Ständer für die Ernährungspumpe wurde im Schlafzimmer aufgebaut. Als Schutz vor dem Herausfallen stellten wir Stühle ans Bett, die wir mit einer gerollten Steppdecke polsterten. Das ganze Bett wurde mit dicken Handtüchern ausgelegt – so musste es nicht jedes Mal abgezogen werden, wenn Tobi sich übergab oder stark schwitzte. Für Medikamente, Spezialnahrung und anderes, was unser Junge brauchte, räumten wir einen ganzen Schrank frei.
Wo immer Tobias war: Sein Ernährungsrucksack war stets dabei. Darin war die Pumpe, die dafür sorgte, dass konstant Nährstoffe in kleinen Mengen in seinen Körper gelangten. Die Leitung von der Pumpe in den Magen unseres Jungen war zwei Meter lang, kein sehr großer Bewegungsradius für ein Kind, das die Welt entdecken möchte. Aber besser, als im Bett zu liegen. Besser als nichts.