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Geschwisterliebe und Rückschläge

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Endlich konnten wir fünf wieder als Familie leben. Die Mädchen waren glücklich. Henriette war bei Tobis Geburt fast vier Jahre alt gewesen und schon ganz aufgeregt, als sie auf ihr neues Geschwisterchen wartete. Ein Baby zum Spielen – in ihren Augen das Größte. Der damals zweijährigen Charlotte merkte man ihre anfängliche Skepsis an. Sie hatte als Nesthäkchen bisher im Mittelpunkt gestanden und war gar nicht damit einverstanden, diese Rolle so schnell aufgeben zu müssen. Auf einem ihrer Kinderfotos steht sie sehr missmutig an Tobis Babybettchen und wir müssen immer noch lachen, wenn wir uns das Fotoalbum anschauen.

Dann kamen die Krankenhausaufenthalte dazwischen, nichts war wie geplant. Die Mädchen konnten ihren Bruder im Krankenhaus in München nicht besuchen, weil der Weg einfach zu weit war. Jetzt war Tobias wieder da, klein und zart, mit seinen sprechenden Augen und dem unvergleichlichen Charme. Und er hätte keine besseren Schwestern als unsere Mädchen haben können. Sie waren geduldig und hilfsbereit und sie liebten ihren kleinen Bruder von ganzem Herzen.

Ich fühle, wie mich Stolz und Liebe durchströmen, als ich an meine beiden Töchter denke. Sie sind außergewöhnliche Mädchen: stark, liebevoll und verständig. Sie mussten wegen Tobis Krankheit so oft zurückstecken und ihre eigenen Wünsche hintenanstellen. Das waren immer wieder schwierige Situationen für sie. Und doch waren sie nie wirklich böse auf Tobi. Natürlich gab es auch mal Streit, unsere Kinder sind ja schließlich Kinder. Aber nie etwas Ernstes. Ich frage mich, ob ich als Kind in dieser Situation die gleiche Stärke gezeigt hätte.

Gähnend drehe ich mich zur Seite. Ich merke erst jetzt, wie müde ich eigentlich bin. Langsam schließe ich die Augen und dämmere in einen leichten Schlaf.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelt, bin ich wie immer müde. Es war eine vergleichsweise ruhige Nacht, Tobis Ernährungspumpe hat mich nur zwei weitere Male aus dem Tiefschlaf gerissen. Ich wecke unseren Jungen und gehe ins Bad, um mich zu rasieren und für die Arbeit fertig zu machen. Währenddessen weckt Elisabeth Henriette und Charlotte und bereitet das Frühstück. Als wir gemeinsam um den runden Esstisch sitzen, erzählt Charlotte von ihrem aufregenden Traum, aus dem sie Mamas Wecken leider herausgeholt hat. Ein ganz normales Familienfrühstück eben.

Nach dem Essen verabschiede ich mich von Tobi und den Mädchen, die sich gerade ihre Ranzen aufsetzen. Tobi geht noch in den Kindergarten, wo ihn Elisabeth gleich hinbringt. Beim Gehen sehe ich, wie Henriette sorgfältig überprüft, ob Tobis Jacke richtig geschlossen ist. Ihr Blick streift mich, und sie lächelt mich strahlend an. Ich zwinkere zurück. Seit Tobias auf der Welt ist, kümmert sich seine große Schwester hingebungsvoll um ihn.

Als wir damals aus dem Krankenhaus entlassen wurden, begann Henriette schnell, Tobi zu umsorgen. Mit ihren fünf Jahren war sie die Große und konnte ihm schon ein wenig helfen. Er hatte bereits im Krankenhaus angefangen, sich immer wieder aufzurichten, und nun versuchte er, krabbelnd seine Welt zu erkunden. Durch die Ernährungspumpe hatte er allerdings keine Möglichkeit, sich weiter als die zwei Meter vom Rucksack zu entfernen, die der Schlauch lang war. Henriette versetzte den Rucksack mit der Pumpe darin also immer wieder, wenn Tobi ein Stück weiter krabbeln wollte. Manchmal trug sie ihm den Rucksack den ganzen Nachmittag lang nach, damit er die Wohnung erkunden konnte und sich nicht langweilte.

Überhaupt war Tobias an allem interessiert. Er krabbelte in jeden Raum, den er erreichen konnte. Schon bald fing er an, sich an Stühlen und Schränken hochzuziehen. Einmal hatte er es geschafft und stand recht wackelig auf seinen Beinchen. Doch als er losließ, plumpste er auf seinen Hintern. Obwohl es kaum wehgetan haben konnte – er war schließlich nicht tief gefallen und durch die Windel außerdem weich gepolstert –, fing er markerschütternd an zu schreien. Wir merkten sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Als er nicht aufhörte zu weinen, fuhren wir mit Tobi in die Notaufnahme. Dort dann die unglaubliche Diagnose: Er hatte sich den Oberschenkel gleich zweimal gebrochen. Von einem sanften Plumps aus dreißig Zentimetern Höhe!

Die Schiene am Bein war ein Rückschlag für unseren kleinen Entdecker. Er tat uns so leid! Sie behinderte ihn bei seinen Gehversuchen und das Krabbeln war damit auch nicht gerade einfach. Doch er ertrug die Einschränkungen mit einer erstaunlichen Geduld. Sobald das Bein verheilt war, versuchte er erneut, laufen zu lernen. Ich bewunderte seinen starken Willen. Er war noch keine zwei Jahre alt und ließ sich doch nicht davon abhalten, die Welt zu entdecken.

Der gebrochene Oberschenkel sollte nicht der einzige Rückschlag bleiben. Als Tobi sich einmal vom Sofa gleiten ließ, brach er sich den Arm. Die Untersuchungen zeigten, dass seine Knochen porös und sehr empfindlich waren. Insgesamt brach er sich siebenmal Arme und Beine bei dem Versuch, laufen zu lernen. Jedes Mal musste er von vorne anfangen. Beharrlich versuchte er es wieder und wieder, bis es ihm schließlich gelang. Diese zerbrechlichen Knochen sollte er behalten, was bedeutete, dass er nie wie andere Kinder herumtoben konnte.

Bei uns kehrte mehr und mehr der Alltag ein, auch wenn er anders war, als wir es uns vorgestellt hatten. Aber es ist ja eigentlich immer so: Man gewöhnt sich an Dinge und Abläufe und irgendwann ist selbst das Neue, Ungewohnte – manchmal auch Angstmachende – ganz gewöhnlich.

Tobis Ernährung war so eine Sache. Elisabeth bereitete jeden Tag seine Spezialnahrung für die Ernährungspumpe zu, ein umständlicher Prozess. Sie trug immer Handschuhe, wenn sie das Pulver in abgekochtes Wasser einrührte. Die notwendigen Medikamente – in manchen Zeiten bis zu 18 verschiedene – rührte sie extra an und füllte sie in Spritzen.

Auch die Pflege war ungewohnt. Wegen seiner trockenen Haut mussten wir Tobi täglich eincremen. Wenn sein Zugang neu abgeklebt oder die Magensonde gepflegt werden musste, trugen wir einen Mundschutz, auch Tobi. Die Haut unseres Sohnes war empfindlich und vertrug die Pflaster nicht immer, daher tat das Pflasterwechseln ihm oft weh. Dazu kamen immer wieder Entzündungen an der Eintrittsstelle des Katheters, um die wir uns kümmern mussten. Trotzdem ließ er es geduldig über sich ergehen. All diese Prozeduren wurden schnell zu alltäglichen Handlungen, sie gehörten irgendwie dazu. Schon bald hatten wir das Gefühl, dass es schon immer so gewesen sein könnte.

Den Umständen entsprechend entwickelte sich Tobi sehr gut. Wir hatten viel Grund, Gott dankbar zu sein. Mit einem Dreivierteljahr hatte er sein erstes Wort gesprochen: »Papa.« Ich war stolz und glücklich. Noch vor Kurzem hatten wir nicht zu träumen gewagt, dass Tobi laufen und sprechen würde wie seine Schwestern. Und ich bin mir sicher: Jede Mutter und jeder Vater kann nachfühlen, wie bewegend es ist, wenn der eigene »Name« das Erste ist, das der Sohn oder die Tochter sagt. Außerdem war es ein Anzeichen dafür, dass unser Jüngster sich ganz normal entwickelte – ein riesiger Grund zur Freude.

Dazu kam: Alle lebensbedrohlichen Krankheiten, die bisher als Verdacht im Raum gestanden hatten, waren negativ getestet worden. Kurzzeitig hatten die Ärzte befürchtet, dass unser Junge durch seine Wachstumsprobleme einen Hirnschaden davongetragen haben könnte, doch auch das stellte sich glücklicherweise als Fehlannahme heraus. Und immer, wenn wir dachten, dass wir kaum noch so weitermachen könnten, weil die Anstrengungen und Sorgen uns aufzuzehren schienen, bekamen wir wie durch ein Wunder neue Kraft. Wir sind überzeugt: Dafür war auch verantwortlich, dass viele Menschen für uns beteten. Das tat so gut zu wissen!

Abgesehen von all den Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, war Tobias ein ganz normaler Junge. Seine Schwestern spielten gerne mit ihm. Er war meistens fröhlich und weinte nur selten. Als Henriette wieder einmal einen ganzen Nachmittag damit beschäftigt war, den Ernährungsrucksack durch die Räume zu tragen, damit Tobi ein bisschen was von seiner kleinen Welt sah, musste ich schmunzeln.

»Gehst du mit deinem Bruder spazieren?«, fragte ich sie augenzwinkernd.

»Na klar!« Henriette strahlte. »Tobi ist mein Baby und ich zeig ihm alles!«

Ihre kindliche Hingabe rührte mich und ich sah ihnen noch ein wenig bei ihren Erkundungstouren zu. In den Momenten mit seinen Schwestern konnte unser Sohn wirklich Kind sein. Sonst war er doch sehr oft mit der Welt der Erwachsenen konfrontiert, mit Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern, Physio- und Ergotherapeuten.

Als ich vor meinem Auto stehe, kehre ich aus meinen Erinnerungen in die Gegenwart zurück. Ein arbeitsreicher Tag liegt vor mir, und ich muss mir Mühe geben, nicht immer wieder an den Arzttermin in Freiburg zu denken. Ich setze mich hinter das Steuer und fahre los.

Es ist bereits dunkel, als ich am Abend nach Hause zurückkehre. An den Straßenlaternen leuchten Weihnachtsornamente und werfen glänzende Lichtpunkte auf den feuchten Asphalt. Als ich in unsere Straße einbiege, kommt mir ein Polizeiwagen entgegen. Ich muss daran denken, wie Tobi und ich unser erstes – zugegeben etwas unangenehmes – Zusammentreffen mit der Polizei hatten.

Am liebsten war Tobi überall dabei. Er schaute seiner Mutter und mir gerne zu, wenn wir im Haus oder im Garten arbeiteten. Auch wenn wir am Sonntag mit den Mädchen in die Kinderkirche gingen – so heißt der Kindergottesdienst bei uns in der Kirchengemeinde –, kam er mit. Da Elisabeth und ich den Kindergottesdienst gestalteten, war es schön, dass alle unsere Kinder dabei waren. Tobi lag oder saß in seinem Wagen, lauschte andächtig den Geschichten aus der Bibel und freute sich über die Lieder. Musik mochte er immer schon gerne und das blieb so.

Doch leider konnte er eben nicht überall dabei sein. Wenn wir mit den Mädchen ins Hallenbad oder ins Freibad gingen, blieb immer einer von uns mit unserem Sohn zu Hause, da die Infektionsgefahr einfach zu groß war. Auch auf den Spielplatz oder Laufrad fahren durfte er nicht. Wenn ein Plumps aus dreißig Zentimetern Höhe schon zu einem Bruch führte, was wäre bei einem Sturz vom Klettergerüst passiert?! Doch wir sorgten für Ersatz, der ihm Spaß machte.

Von Anfang an faszinierten unseren Sohn Traktoren und Landwirtschaftsmaschinen. Ich hatte eine alte grüngelbe Zugmaschine, die ihm besonders gefiel. Manchmal fuhr ich mit Tobi auf dem Schoß durch die Gegend und er jauchzte vor Begeisterung und hüpfte auf und ab. Eines Vormittags, Tobi war zwei Jahre alt, machten wir solch einen kleinen Ausflug. Es war ein ruhiger Samstag. Wir fuhren gerade durch unsere Straße, eine Tempo-30-Zone, als ich bemerkte, dass uns ein Polizeiauto hinterherfuhr. Als ich auf Höhe unserer Garage anhielt, stoppte das Polizeiauto ebenfalls. Die beiden Polizisten, die darin saßen, stiegen aus.

Der Jüngere der beiden kam auf mich zu. Er räusperte sich: »Sie wissen schon, dass das gefährlich ist, was Sie da tun, mit dem Kind auf dem Schoß auf der Straße fahren?«, sagte er mit kritisch hochgezogenen Augenbrauen.

»Der Kleine hat so viel Spaß und hier in der 30er-Zone kann ja nicht wirklich was passieren«, versuchte ich das Ganze etwas herunterzuspielen.

»Außerdem ist der TÜV seit über einem Jahr abgelaufen«, sagte der zweite Polizist und kam hinter dem Traktor hervor.

Mist – das hatte ich in dem ganzen Hin und Her von Tobis Krankenhausaufenthalten völlig vergessen. »Können Sie nicht noch mal ein Auge zudrücken? Ich hole den TÜV auch so schnell wie möglich nach.«

»Wenn das jetzt ein Monat wäre, könnte man ja noch drüber reden. Aber über ein Jahr!« Der Polizist schüttelte bestimmt den Kopf. »Das geht leider gar nicht.«

»Da müssen wir Ihnen ein Bußgeld ausstellen«, pflichtete ihm sein Kollege bei. »Für den TÜV und für Ihr verkehrsgefährdendes Verhalten. Wenn Sie jetzt einen Unfall gehabt hätten, hätte Ihrem Jungen sonst was passieren können. Oder wenn er Ihnen vom Schoß gesprungen wäre und Sie deshalb einen Unfall gebaut hätten. Das sollten Sie wirklich nicht mehr tun.« Ich konnte ihn ja verstehen, aber Tobi freute sich immer so sehr, wenn wir zusammen Traktor fuhren.

Im Endeffekt bekam ich zwei Bußgelder – eins für den TÜV und eins für die Gefährdung – und fünf Punkte in Flensburg. Das tat schon ein bisschen weh. Danach fuhr ich nicht mehr mit Tobi auf dem Traktor über öffentliche Straßen. Er war sehr enttäuscht und verzog traurig die Mundwinkel nach unten, als ich das nächste Mal, als er fahren wollte, den Kopf schüttelte. Aber ich fand eine andere Lösung. Ich fuhr mit dem Traktor auf unsere Obstwiesen, die in der Nähe lagen, und Elisabeth und die Kinder fuhren mit dem Auto hinterher. Die Obstwiesen waren Privatgelände und so konnte ich mit Tobi und den Mädchen nach Herzenslust fahren, ganz ohne Gefahr. Der Spaß war gerettet.

Ich schließe die Wohnungstür auf und begrüße Elisabeth und die Kinder. Der Abendbrottisch ist bereits gedeckt und ich setze mich hungrig zu meiner Familie. »Und, wie war euer Nachmittag?«, frage ich in die Runde.

»Wir haben gebastelt«, antwortet Charlotte mit geheimnisvollem Flüstern. »Weihnachtsgeschenke!« Henriette und Tobias grinsen einander wissend an.

»Oho«, sage ich mit gewichtiger Miene. Tobi fängt an zu kichern.

In diesem Moment kommt Elisabeth mit einem Teller Aufschnitt aus der Küche und setzt sich zu uns. Bevor wir anfangen, bete ich: »Segne, Vater, diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise. Amen.« Meistens spreche ich unser gemeinsames Gebet. Es ist mehr als ein schönes Ritual. Wir haben allen Grund, Gott dankbar zu sein. Elisabeth und mir ist es wichtig, die Kinder mit in diesen Dank einzubeziehen. Uns immer wieder bewusst zu machen, dass unser Vater im Himmel für uns sorgt und es gut mit uns meint.

Die Kinder lassen es sich schmecken. Tobi war noch nie ein guter Esser und je nach Tagesform geht es mal besser, mal schlechter. Heute knabbert er ein bisschen an seinem Brot, aber nach einer halben Scheibe schiebt er den Teller weg. »Ich bin satt«, sagt er bestimmt.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Probier doch noch ein bisschen Käse«, versuche ich ihn zu locken. »Der ist so lecker!«

Tobi seufzt. »Nö, ich hab keinen Hunger mehr.«

»Und wenn du ein bisschen Heidelbeerjoghurt isst?«, schlage ich vor. Tobis Augen beginnen zu leuchten. Er liebt Heidelbeerjoghurt, überhaupt mag er Obst sehr gerne.

»Na gut«, sagt er ein bisschen gönnerhaft und schaut mich erwartungsvoll an. Ich hole den Joghurt und bin erleichtert, dass mein Sohn immerhin fast den ganzen Becher löffelt. Als er den Löffel weglegt, fische ich noch eine große Heidelbeere aus den Tiefen des Bechers.

»Magst du die nicht mehr?«

Tobi überlegt. »Die passt vielleicht noch rein«, verkündet er nach kurzer Bedenkzeit. Lächelnd reiche ich ihm den Löffel. Ein kleiner Erfolg. Dabei fällt mir wieder ein, wie Tobias damals Essen und Schlucken völlig neu lernen musste.

Tobias war zweieinhalb Jahre alt und trotz seines Entdeckerdrangs wollte er eines nicht: Essen. Und das obwohl er jetzt, wo es ihm besser ging, wieder damit anfangen sollte. Durch die Magensonde hatte er das Schlucken von fester Nahrung völlig verlernt. Er trank zwar normal, aber wenn wir in der Familie aßen, saß er nur dabei und wollte nichts probieren. Schließlich besprachen wir uns mit Tobis Ärzten und beschlossen, dass unser Sohn die Hilfe einer Esstherapeutin bekommen sollte.

Unser Kinderarzt empfahl uns eine Logopädin in Reutlingen, die einen sehr guten Ruf hatte. Er warnte uns aber, dass ihre Warteliste sehr lang sei und wir wahrscheinlich keinen Platz bekommen würden. Ich rief sie an. Nachdem ich ihr von Tobias und seiner Krankheit erzählt und sie um einen Termin gebeten hatte, sagte sie sofort zu, ihn zu behandeln. Elisabeth, Tobi und ich fuhren also kurz darauf ins nahe gelegene Reutlingen zu unserem ersten Treffen.

Als die Logopädin uns öffnete, war ich beeindruckt. Ihre Ausstrahlung war so freundlich und gleichzeitig stark, dass wir uns direkt in guten Händen fühlten. Sie war eine große Frau mit lockigem grauem Haar, das ihr bis über die Schultern fiel. Um den Hals trug sie eine Kette mit großen Steinen in verschiedenen Farben. Überhaupt war sie farbenfroh gekleidet. Sie begrüßte uns mit markanter Stimme und kam nach einigen Formalitäten auf die Behandlung zu sprechen.

»Schlucken ist gar nicht so einfach, wie wir denken. Gerade Kinder, die künstlich ernährt werden und das Essen erst wieder lernen müssen, haben Angst davor. Machen Sie sich also keine Gedanken, wenn es nicht gleich klappt. Manche Kinder brauchen dafür bis zu zwei Jahre, das ist überhaupt nicht schlimm«, erklärte sie uns. Dann wandte sie sich Tobias zu. Man merkte, dass sie gut mit Kindern umgehen konnte. Unser Sohn war gleich gespannt und voller Tatendrang. Alles war interessant und aufregend für ihn.

Bei der Therapie selbst waren wir nicht dabei. Während die Logopädin mit unserem Sohn ins Behandlungszimmer ging, warteten wir in einem anderen Raum. Aber es gefiel Tobi sehr. Anfangs spielten sie nur Spiele rund um das Thema Essen. Memory-Spiele mit Lebensmitteln, Bilder mit leckerem Obst, Gemüse und anderen Gerichten. Später brachten Elisabeth und die Therapeutin Dinge mit, die Tobi mochte. So konnte er die verschiedenen Lebensmittel spielerisch kennenlernen, bevor es ans Essenlernen ging. Die Löffel wie auch die Portionen waren anfangs sehr klein und die Therapeutin achtete darauf, dass er gut kaute. So wurde er langsam Schritt für Schritt an das Schwierigste, das Schlucken, herangeführt.

Natürlich unterstützten wir das Essenlernen, wo wir nur konnten. Elisabeth versteckte kleine Leckereien in der Wohnung, damit Tobias sie fand. Sie bereitete alles so ansprechend und bunt wie möglich zu. Wenn er etwas mochte, dann bekam er es auch. Hauptsache, er aß. Die Arbeit der Therapeutin, Elisabeths Unterstützung und Tobis beeindruckender Lernwille zahlten sich aus. Nach nur einem Dreivierteljahr konnte unser Junge wieder selbstständig essen.

»Woran denkst du, Papa?«, holt mich Hettys helle Stimme aus meinen Gedanken. »Ich denke gerade daran, dass ich ganz schön tolle Kinder habe«, antworte ich ihr mit einem Zwinkern. Sie grinst zufrieden zurück – ich sehe ihr an, wie gut ihr das Lob tut.

Sonnenfarben

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