Читать книгу Grobe Nähte - Johannes Schweikle - Страница 10
ОглавлениеVICTOR AKBUNIKE WAR NOCH nicht lang in Bayern. Er wusste nicht, was Filser-Englisch ist. Also lachte er. Der Stürmer aus Afrika saß auf dem Beifahrersitz, Hermann setzte den Blinker und zog auf die Überholspur. Eigentlich hätte der Fahrer beleidigt sein können, weil der Beifahrer über ihn lachte. Ein hohes Hi-Hi, das sich lustig machte, glucksend und fistelig. Aber dieser kleine Spott mischte sich mit einem großen Lachen. Man könnte auch sagen, er ging darin unter. Diese Fröhlichkeit kam direkt aus dem Herz. Ein ursprüngliches Gefühl, das mitreißend wirkte. Seine Kraft spülte kleinliche Ehrenkäsereien einfach fort. Zwischen Victors Lippen strahlten weiße Zähne, seine Zunge leuchtete purpurrot, dann wiederholte er den Satz, noch immer geschüttelt vom Lachen: We go shopping for the Lederhosen-Shooting!
Hermann gab seinem Beifahrer einen Klaps auf den Schenkel und lachte mit. Er war schon so lange beim FC Bavaria München, dass sich kaum jemand an eine Zeit erinnern konnte, als der Verein noch keinen Hermann hatte. Bei den Spielern war er beliebt, weil er dem Wesen nach ein Fußballer geblieben war. Bei den Funktionären war er beliebt, weil er sich für keinen Auftrag zu schade war. Er stellte nicht nur keine Fragen, sondern machte sich sonnigen Gemüts an die Arbeit. Jede Mannschaft braucht mindestens einen Hermann, wenn sie funktionieren soll.
Das Auto, in dem die beiden fuhren, kam vom Sponsor. Die grauen Sitze waren mit roten Nähten abgesteppt. Victor strich über das Leder und freute sich, wie glatt und kühl es sich anfühlte. Hermann freute sich über den Sound. Wenn er Gas gab, kam ein fetter, tiefer Klang, lauter als Bayern 3. Man hörte und spürte eine kaum gebändigte Kraft. Victor sagte wow und reckte den Daumen nach oben. Die beiden Männer fuhren behaglich vereint. Das Nummernschild gab ihnen ein gemeinsames Ziel vor: M – CL 2016. Nur Menschen, die nicht auf dem Planeten Fußball lebten, musste man erklären, wofür CL stand: Champions League.
Nach drei Autobahnkreuzen zeigte Hermann stolz zum Horizont und erklärte dem Afrikaner, das seien die Alpen. Wirklich hohe Berge, mit ewigem Schnee. Der Watzmann, der steht aufrecht wie ein Zuckerhut. Bayern ist nicht überall flach, verstehst, wir haben mehr zu bieten als Schotter. Bei uns kannst du auch Skifahren. Wir hatten sogar schon mal die Olympiade, im Winter 36, in Garmisch siehst du noch die Schanzen.
Kann sein, dass Victor nicht alles verstand, aber er fühlte sich wohl in dieser Mischung aus Englisch und deutschem Dialekt. Vor Hermanns ungekünstelten Sätzen musste er nicht auf der Hut sein. Der weiße Mann sprach freundlich, seine Neugier auf den Schwarzen hatte nichts von einem Zoobesucher. Und er kränkte ihn nicht mit Dummdeutsch für Ausländer. So holprig Hermann sprach, so ehrlich war sein Bemühen um Verständigung. Auf dieser Grundlage kam Victor ins Erzählen. Er staunte weniger über das Licht, das Gipfel und Grate leuchten ließ. Sein Interesse galt der Straße. Ein Grünstreifen in der Mitte, ordentliche Leitplanken, drei Spuren auf jeder Seite, so ging es zwischen Wiesen und Hügeln dahin. Ab und zu waren Dörfer in die Landschaft gesprenkelt. In Lagos gab es auch breite Straßen. Aber gleich hinter der Stadt hörten sie auf.
Wenn du aufs Land fährst, kommt schnell das richtige Afrika, weißt du, viel Staub und Schotter. Streckenweise nehmen wir Asphalt, aber der hat große Löcher, und es gibt keine weißen Streifen. Wenn wir mit dem Bus zum Auswärtsspiel gefahren sind, kamen wir manchmal zu spät, weil der Fahrer unterwegs einen Reifen wechseln musste.
Hermann hatte noch seinen Atlas aus der Schulzeit. Er stand im Wohnzimmer im Regal, neben dem Buch von Beckenbauer, Einer wie ich. Er hatte nachgeschaut, wo Nigeria lag. Drei Städte waren in diesem Land verzeichnet, Lagos fand er ein bisschen links vom großen Knick in der afrikanischen Küste. Er fragte seinen Beifahrer, ob er dort das Fußballspielen gelernt habe.
Das ist eine lange Geschichte, mein Freund, sagte Victor. Dann erzählte er von seinem Dorf und von der ersten Fahrt in die große Stadt. Er hatte nichts mitgenommen, weil er viel Schlimmes gehört hatte über Diebe, ganz Lagos sei voll von Gesindel. Also stieg er mit kurzer Hose und dem gestreiften Trikot in den Bus. Keiner konnte ihm die Stutzen klauen, weil er keine hatte.
Zwischen Englisch, Deutsch und Bayrisch holperte das Gespräch dahin. Möglich, dass auch Hermann nicht alles verstand, was Victor erzählte: Ich hatte einen Schuh, für den rechten Fuß. Der war schwarz und hatte ein Loch am Innenrist. Aber kein Fake, original Adidas, die weißen Streifen waren gut genäht. Weil ich nicht wie ein Amateur aussehen wollte, trug ich links einen Schlappen. Der war eigentlich braun, aber ich habe ihn schwarz angemalt. Gleich nach dem Anpfiff merkte ich, dass ich mit ihm nicht schnell laufen kann, deshalb legte ich ihn neben den Torpfosten und spielte halb barfuß. So schoss ich das Tor zum Sieg.
Mit welchem Fuß? fragte Hermann.
Mit dem Kopf, sagte Victor. Unser Sieg war eine Sensation. In Afrika gewinnt die Heimmannschaft. Sie bezahlt den Schiedsrichter, und der weiß, was er schuldig ist. Aber mein Tor war eindeutig. Kein Abseits, kein Foul – ich konnte mich bei keinem Verteidiger aufstützen, weil keiner mich bewacht hat. Außerdem hatten sie in Lagos Netze an den Toren. Der Ball lag drin, und keiner konnte behaupten, mein Schuss sei vorbei gegangen. Der Torwart hat heftig mit Händen und Armen auf den Schiedsrichter eingeredet, ihn beschimpft. Aber als der standhaft geblieben ist, landete die Schuld ganz schnell beim Torwart. Die Anhänger seiner Mannschaft haben ihn verspottet und auf der Tribüne gesungen: In unsrem Tor, da steht ein alter Mann!
Nach dem Schlusspfiff lag mein Schlappen nicht mehr neben dem Pfosten. So schnell wir konnten, sind wir zum Bus gerannt. Die Wut der Gegner galt jetzt uns. Der Fahrer hat den Gürtel aus der Hose gezogen, das war seine Peitsche, damit hat er uns den Weg freigedroschen. Im Gedränge hat mein nackter Fuß einiges abbekommen. Mit Geheul haben die Verlierer am Bus gegen das Blech getrommelt. Als wir drin waren, haben wir die Fenster aufgemacht und sie verhöhnt. Ein dicker Mann hat sich nach vorn geboxt und zu mir herauf gerufen: Hey, Nummer neun, komm raus. Ich bin Manager – ich bring dich zu den Bridge Boys!
Geh, so ein Schmarrn, sagte Hermann, wer sind die Bridge Boys?
Julius Berger Football Club, sagte Victor, spielt in der Premier League. Berger ist eine Baufirma, sie baut alle großen Brücken. Jonathan Akpoborie hat für die Bridge Boys gespielt, und Sunday Oliseh hat es von dort nach Europa geschafft. Zuerst dachte ich, das ist eine Falle. Der Dicke will mich aus dem Bus locken, damit sie mich verhauen können. Aber er trug das aktuelle Trikot von Manchester United. Und Gold, viel Gold: goldene Uhr, goldene Brille, goldene Halskette, goldene Ringe. Jeder konnte sehen: Das ist ein Big Boy. Überzeugt hat er mich mit einem Paar Fußballschuhen. Nike, mit denen hat er herumgefuchtelt. Sie haben geglänzt, mussten direkt aus der Shopping Mall für die Reichen kommen. Der Bus fuhr an, ich konnte nicht lang überlegen. Hab mich aus dem Fenster gezwängt und mich fallen lassen, in die Arme von Alhaji. Er hat mich beschützt und mitgenommen. In einem Mercedes sind wir zu seinem Compound gefahren. Rings um das Haus war eine hohe Mauer, oben mit Glasscherben und Stacheldraht gesichert. Alhaji hat gehupt, da kam der Boy und hat das Stahltor aufgeschoben. Ich hab eine fette Satellitenschüssel auf dem Dach gesehen, er hat mir stolz das Generatorhäuschen gezeigt. Weißt du, wenn wir zuhause Fußball im Fernsehen geguckt haben, musste immer auch das Radio laufen, weil das Bild jederzeit verschwinden konnte, wenn der Strom ausfiel. Alhaji konnte immer alles sehen. Die Mauer um seinen Compound war weiß, sein Haus aus blauem Stein, er hatte die Farbe von Taubenfedern. Das sei Marmor aus einem fernen Land, hat er mir erklärt. Und im Pool schwamm ein aufblasbarer Flamingo, der war pink.
Hinter Schneizlreuth fuhren sie an einem Fußballplatz vorbei. Ein Mann saß auf einem kleinen Traktor und fuhrwerkte zwischen den Toren herum.
Was macht der Mann? fragte Victor. Das ist der Platzwart, sagte Hermann, er mäht den Rasen. Im nächsten Dorf lachte Victor wieder. Er zeigte auf den Kirchturm und sagte: Sieht aus wie eine Zwiebel! – Ja mei, sagte Hermann, so gfallt’s uns halt in Bayern. Dann fragte er vorsichtig: Bist du Moslem? Er schaute in Victors dunkle Augen und konnte seinen Blick nicht deuten – war er finster? Hatte er etwas Falsches gefragt? Victor nestelte die goldene Halskette aus seinem T-Shirt, an der ein Kreuz hing, und sagte ernst: In Nigeria haben wir vor jedem Spiel gebetet. Wenn wir am Sonntag gekickt haben, durften wir nicht nur auf den Ball schauen. Die Frauen gingen quer über den Platz zur Kirche. Die rote Erde war staubig, vor der Regenzeit bekam der Boden Risse. Und die Frauen in Afrika sind anders als die in Deutschland. Am Sonntag ziehen sie bunte Kleider an. Solche Farben gibt’s gar nicht in deinem Land – hier ist alles ernst. In Afrika gehen sie mit prächtigen Röcken zur Kirche, stolz und langsam. Wenn eine kam, mussten wir das Spiel auf den anderen Flügel verlagern, damit ihr Kleid nicht schmutzig wurde. Das hätte großen Ärger gegeben.
Hermann war erleichtert. Der Neue war kein Moslem, sondern Christ, und nicht bigott. Das Leben wurde kompliziert, wenn er bei jedem zweiten Satz überlegen musste, welche fremden Gefühle zu berücksichtigen waren, ob er jemand auf die Zehen trat. Erleichtert sagte er: Gott sei Dank, mit dem gräuslichen Boko Haram hast du nix am Hut! Victor verstand das bayrische Adjektiv nicht, aber rasch erfasste er, dass sie einen gemeinsamen Feind hatten, und sagte grimmig: Ich weiß nicht, welches Verbrechen schlimmer ist: Was die Terroristen mit unseren Mädchen machen. Oder die Feigheit unserer Regierung. Im ganzen Land siehst du Soldaten. Sie lungern herum und kassieren Wegzoll, wenn du irgendwohin willst. Haben aber nicht die Eier, um gegen ein paar Terroristen zu kämpfen. Die Generäle stehen mit ihren Orden herum wie Gockel. Wenn der Präsident die Parade abschreitet, denkt er nicht an sein Land. Sondern an seinen Clan – ob vielleicht irgendwo noch einer die Hand aufhalten kann. In Europa habt ihr falsche Vorstellungen. Nigeria will eine Nation sein, so wie Deutschland oder England. Aber das funktioniert nicht. Fußball ist das Einzige, was unser Land zusammenhält. Wenn die Super Eagles beim Afrika-Cup spielen, stehen die Moslems im Norden genauso hinter der Mannschaft wie die Christen im Süden. Wenn wir gegen die Löwen von Marokko gewinnen, gibt’s alles umsonst: Bier und Pfeffersuppe, und die Frauen auch.
Das Ziel der Fahrt lag kurz vor der Grenze. Der Dorfbrunnen war mit Blumenkübeln geschmückt. Hermann zeigte quer über den Rathausplatz und spottete: Da hinten liegt Österreich. Sogar dort gibt’s gute Straßen.
Das Geschäft, in dem sie erwartet und überschwänglich begrüßt wurden, war eine Boutique. Die Einrichtung wagte einen Balanceakt: Einerseits erzählte sie von Tradition. Zwischen den Regalen hingen Geweihe von Gams und Hirsch, hinten ging’s zur Werkstatt. Andererseits durfte diese Inszenierung nicht provinziell aussehen, kein Münchner sollte sich hier fremdschämen müssen. Deshalb waren die Hocker mit Kuhfell bezogen, und auf dem Schild über der Tür zur Werkstatt stand Manufaktur. Die junge Verkäuferin trug Dirndl und musste keine Freundlichkeit heucheln, als sie bei Victor das Maßband anlegte, Bund und Schrittlänge. Dieser Kunde hatte schwarze Haut, aber das machte nichts, denn er strotzte vor Saft und Kraft und lachte strahlend. Zudem war er prominent.
Die Lederhose für den Afrikaner war an den Nähten mit hellen Paspeln verziert. Handgestickte Ornamente schmückten das Hosentürl und lenkten den Blick auf die männlichste Region des Körpers. Rechts gab’s eine Seitentasche für das Jagdmesser. Das dunkle Leder war weich und passte sich geschmeidig den Muskeln des Sportlers an. Hermann zeigte auf das große Geweih an der Wand und sagte: Hirsch, mein Lieber, da kriegst was Gscheits! Die Verkäuferin brachte noch ein Leinenhemd, weiße Kniestrümpfe und Haferlschuhe. Mit den Größen gab es kein Geschiss, bald passte alles, der Mann aus Nigeria füllte die bayrische Tracht gut aus. Aber Victor war unsicher. Er beschaute sich im Spiegel und fragte skeptisch: Zieht der Torwart das auch an?
Jetzt lachte Hermann. Was glaubst denn du? Sogar unser wilder Chilene, der Held des Münchner Nachtlebens, steigt in die Tracht. Auch der Trainer kommt selbstverständlich in Lederhosen zum Shooting. Und so zieht ihr dann auf die Wiesn.
Schon länger spielte kein Münchner mehr in der ersten Mannschaft des erfolgreichsten Vereins der Stadt. Ein Verteidiger kam aus dem Speckgürtel, ein Stürmer aus der bayrischen Provinz. Mit der Brauerei, einem Sponsor des FC Bavaria, verhielt es sich ähnlich. Sie warb mit einer Tradition, die wenig mit der Gegenwart zu tun hatte. Ihre Sudkessel standen nicht mehr am Nockherberg, sondern in einer neuen Bierfabrik. Sie lag so weit draußen vor der Stadt, dass die Bewohner von Schwabing, Giesing und Haidhausen diesen Vorort nicht mehr als München gelten ließen. Außerdem hatte ein Konzern aus den Niederlanden die Hälfte des Unternehmens gekauft. Deshalb hatte die Marketingabteilung der Brauerei die Idee entwickelt, Fußballspieler in bayrischer Brauchtumsuniform zu zeigen. Ein Vertrag regelte die Angelegenheit. Er sicherte dem Sponsor das Recht auf einen Tag, an dem alle Spieler, Trainer und Betreuer für Werbeaufnahmen zur Verfügung stehen mussten.
Victor Akbunike ließ sich schnell überzeugen. Wenn die ganze Mannschaft solche Hosen trug, auch der Brasilianer und der Holländer, konnte er sich nicht blamieren. Die Sache mit dem Hirsch gefiel ihm sogar richtig gut. Der Jäger schmückt sich mit der Haut des erlegten Tiers. Und der Hirsch musste in Bayern ungefähr das sein, was der Löwe in Afrika war, jede Wildnis hat ihren eigenen König. Deshalb gab es kurz vor der Heimfahrt noch einen kleinen Disput mit Hermann. Der wollte Victor unbedingt die Hosenträger ausreden, das sei was für alte Männer. Aber der Fußballspieler aus Nigeria bestand darauf. Ihm gefiel das Medaillon, das ins Leder des Querriegels eingearbeitet war. Ein Relief, aus Elfenbein geschnitzt, es zeigte den springenden Hirsch. Ihn wollte Victor vor der Brust tragen.