Читать книгу Grobe Nähte - Johannes Schweikle - Страница 16
ОглавлениеDIE AMATEURE HABEN HEIMRECHT. Deshalb musste Bavaria München beim Wettbewerb um den deutschen Fußballpokal in der Provinz antreten. Der Verein hatte einen lustigen Namen. Im Bus wurden Witze gemacht, die Victor nicht verstand. Die Fahrt zog sich, irgendwann wurde ihm klar: Der Platz, auf dem sie heute spielen sollten, lag nicht mehr in Bayern. So groß konnte auch dieses Land nicht sein. Er stellte sich also auf schwierige Verhältnisse ein, denn so hatte der Mann aus Afrika seinen Betreuer Hermann verstanden: Bayern war toll. Den Rest von Deutschland musste man nicht unbedingt gesehen haben. Victor dachte an Belgien, sein erstes Land in Europa. Anderlecht hatte ihn gekauft. Von dort war er an einen Verein aus der zweiten Liga verliehen worden. Am schlimmsten war der Wind. Bis in den Mai hinein wehte er eiskalt über die Plätze. Er zog Handschuhe und lange Hosen an, aber das tat er nur einmal. Die Weißen hänselten ihn, und Victor verstand schnell, warum der Verteidiger aus Algerien, der schon länger hier spielte, in kurzen Hosen bibberte. Ein Afrikaner musste zeigen, dass er hart genug war, um in Europa zu bestehen. Auch an den Rasen musste Victor sich gewöhnen. Er staunte, wie viel Wasser ein Fußballplatz nach dem Regen speichern konnte, und es regnete oft. In Lommel wurde er zum Gespött der ganzen Tribüne, als er aus vollem Lauf eine Flanke schlagen wollte, aber den Ball nicht traf, weil er den matschigen Boden unterschätzt hatte. Sein Standbein rutschte weg, auf dem Hintern schlitterte er bis zur Eckfahne. Alle lachten, Victor schämte sich. So etwas war ihm zuletzt als Junge passiert. Im Norden Nigerias, wo die Plätze holprig waren und man keinen Rasen erwarten durfte. Die nackte Erde staubte, deshalb sah er die Kuhle nicht, die sich nach dem Regen gebildet hatte. Ihm versprang der Ball, die Zuschauer höhnten schadenfroh, in dieser Hinsicht waren die Menschen anscheinend gleich. Auf den Dörfern in Nigeria hatten allerdings die Tore kein Netz, das musste jeder Stürmer bedenken. Einmal erwischte er eine Flanke perfekt. Traf mit dem Spann, es war ein Traum, der Schuss ging genau ins linke Eck. Aber weil er so viel Energie hatte und von keinem Netz gebremst wurde, flog der Ball weiter, viel weiter, über die Böschung, die zum ausgetrockneten Fluss hinunter führte. Zu dritt mussten sie ihn aus dem Gestrüpp holen, er kratzte sich blutig, und alle schimpften mit ihm, obwohl er ein Tor geschossen hatte. So lernte er, dass es besser ist, Verteidiger und Torwart auszuspielen, danach den Ball nur noch mit einem kleinen Stoß lässig über die Linie zu schieben. Das sah überlegen aus und hatte außerdem den Vorteil, dass es den Gegner demütigte.
Und dann lief er in diesem deutschen Dorf auf einem Rasen, der nicht einmal dort braune Löcher hatte, wo die Torhüter standen. Die Linien waren schnurgerade mit weißer Kreide gezogen, kein bisschen anders als in der Arena in München. Es gab nicht nur Netze an den Toren, sondern hinter jedem Tor auch noch einen hohen Gitterzaun aus Metall. Er funkelte in der Sonne, noch nicht mal an den Schrauben konnte Victor beim Warmlaufen Rost entdecken. Neben dem Rasenplatz gab es einen zweiten, zum Üben, mit Kunstrasen. Er hatte Flutlicht und lag in einem Käfig mit einem abschließbaren Tor im Gitterzaun. Victor fragte sich, ob die Spieler beim Training nicht herausdurften. Oder ob die Kinder aus dem Dorf davon abgehalten werden mussten, ohne Aufsicht Fußball zu spielen. Am Geländer vor der kleinen Tribüne hingen ein paar Schilder, die Victor auch nicht verstand. Auf einem sah er ein Stück rotes Fleisch, das von weißen Streifen durchzogen war. Darunter stand:
METZGER SCHENKELS
MEISTERSCHINKEN – LECKER!
Als er seine Dehnungsübungen machte, beobachtete Victor aus den Augenwinkeln die deutsche Provinz. Einer der Gegner war so nervös, dass ihm beim Schuhebinden der Schnürsenkel riss. Es gab keinen Sicherheitszaun, der die Zuschauer auf Abstand hielt. Das war auch nicht nötig, alle blieben brav hinter dem Geländer, das so dicht neben der Seitenlinie verlief, dass man die Spieler aus München beim Einwurf oder Eckball piesacken könnte. An der Bude hinter dem Tor stand eine Schlange, vom Grill wehte Bratwurstgeruch in den Strafraum. In Plastikbechern wurde Bier ausgeschenkt. Es musste richtiges Bier sein, mit Alkohol, Victor sah Männer mit roten Köpfen. Er wusste nicht viel über Deutschland, aber er verstand: In diesem Dorf war heute Festtag. Neben der Tribüne hatte der Verein Bierbänke aufgestellt. Ein einzelner Mann versuchte, sich in die schmale Lücke neben einer Familie zu quetschen. Der Vater wollte schon rutschen, aber die Mutter schimpfte ihn weg: Wir sitzen hier seit einer Stunde – und du glaubst, du kriegst kurz vor dem Anpfiff noch einen Spitzenplatz?
Nach sieben Minuten bekam Victor die erste Chance. Der Ball ging knapp am linken Pfosten vorbei und donnerte in den Fangzaun. Es gab einen dumpfen Knall. Alle hörten, welche Wucht dieser Schuss hatte, die Zuschauer raunten ehrfürchtig. Als der Stürmer aus Afrika zurücktrabte, kam das Glück des Spiels über ihn. Ich hab nicht getroffen – aber das macht nichts. Keiner schimpft, der Rasen ist perfekt, und ich hab Energie für viele weitere Versuche.
An seinen Augen konnte jeder sehen, wie er sich fühlte. Das Weiß der Augäpfel war ständig in Bewegung. Als Erster bemerkte der Spanier im Münchner Mittelfeld Victors Spielfreude. Aus der eigenen Hälfte schickte er einen Steilpass. Victor rannte los, nahm den Ball aus der Luft, umspielte den ersten Verteidiger, tunnelte den zweiten, und der Torwart hatte keine Chance.
Jetzt wurde das Spiel anders. Es bekam eine magische Leichtigkeit. Als ob die Bavaria ein Netz über den Platz gespannt hätte, dessen Fäden der Gegner nicht sehen konnte. An ihnen bewegten sich die Spieler und ließen den Ball fliegen. Der Versuch, den Rechtsaußen der Bavaria aufzuhalten, endete mit einem Tritt in den Knöchel. Der Schiedsrichter zeigte gelb, die Zuschauer tobten:
Das war nix! Das war gar nix! So ’ne Muschi!
Hinter dem Tor schwenkten zwei Dutzend Bavaria-Fans ihre Fahnen. Victor wunderte sich, dass sein Verein auch hier Anhänger hatte. In der Halbzeitpause erklärte ihm Hermann: Das sind unsre Allesfahrer.
Was ist ein Allesfahrer?
Die fahren zu jedem Spiel. Die sind noch härter als die Vierunddreißiger.
Was ist ein Vierunddreißiger?
Der kommt zu jedem Bundesligaspiel – 17 Heim- und 17 Auswärtsspiele, verstehst? Aber der echte Allesfahrer ist eine Klasse für sich. Der ist auch im Pokal und in der Champions League dabei. Barcelona, Mailand, Osnabrück – dem ist kein Weg zu weit.
Nach der Hälfte war das Spiel gelaufen. Die Bavaria führte drei zu null. Der Münchner Torwart hielt sich mit Gymnastik im leeren Strafraum geschmeidig. Die beiden Innenverteidiger schoben eine ruhige Kugel. Die Pässe des Spaniers sahen elegant aus, gingen aber in die Breite des Spielfelds und waren wirkungslos. Nur der Afrikaner passte sich nicht an. Mit temperamentvollen Gesten forderte er den Ball. War auf Grätschen und Tritte gefasst, sprang federleicht über gestreckte Beine. Wenn man ihm zusah, konnte man meinen, die Bavaria liege im Rückstand. Das Gesicht seines polnischen Konkurrenten im Sturm zeigte Unverständnis. Aber bitte, wenn unser Wilder meint, dann soll er doch! So wurde Victor in einer Mannschaft von elf Spielern zum Alleinunterhalter. Nach einer Stunde schoss er das vierte Tor für die Münchner, zehn Minuten vor dem Schluss traf er mit dem Kopf. An der Anzeigetafel klappte wieder ein Helfer der Heimmannschaft von Hand eine Ziffer um, jetzt stand es 0 : 5. Die bayrischen Allesfahrer johlten.
Gibt es auch männliche Gouvernanten? Der Pressesprecher der Bavaria verhielt sich so. Nach dem Abpfiff wich er nicht von Victors Seite. Dieser Sportplatz in der Provinz war ihm nicht geheuer. Jeder konnte auf den Rasen. Das war ungeschütztes Gelände, ganz anders als die Arena in München. Dort hatte der Verein fast alles unter Kontrolle. Gleich nach dem Wettkampf mussten zwei Spieler vor einer Sponsorenwand die Alibifragen des Fernsehens beantworten, das war vertraglich geregelt. Alle anderen verschwanden in einem Tunnel, der unter der Tribüne zur Kabine führte. Sie konnten duschen, sich ins Entmüdungsbecken legen, die Wunden der Schlacht versorgen lassen, essen und trinken. Erst auf dem Weg zu ihren Autos mussten sie durch die Mixed Zone. So nannte sich der Kontakthof, in dem Journalisten hinter Absperrbändern warteten. Wenn ein Spieler nicht mit ihnen reden wollte, nahm er den Weg links herum und wurde in Ruhe gelassen, das war ungeschriebenes Gesetz. Aber auf diesem Fußballplatz in der Provinz sorgten weder Bänder noch unterirdische Gänge für Distanz. An der Seitenlinie bildete sich unkontrolliert ein Rudel. Kameramänner, Fotografen und Reporter drängten sich um Victor. Er strahlte wie ein Junge. Was er sagte, klang so dankbar, dass auch Bayern-Hasser diesen Sportler nicht unsympathisch finden konnten. Der Afrikaner lobte den perfekten Rasen, die gute Stimmung auf der Tribüne und den fairen Gegner. Wie zum Beweis krempelte er die Stutzen herunter, legte die Schienbeinschützer ab und zeigte seine Beine. Sie sahen aus, als käme er gerade vom Ballett. Dann lächelte er und zitierte ein Sprichwort:
Wenn der Ball nicht wäre, wären die Leute traurig.
Ein Reporter mit Block fragte: Ist die Torjägerkanone ein Ziel für dich?
Victor antwortete: I’m a striker. Ich bin bereit für viele Tore.
Der Pressesprecher atmete erleichtert aus.
Geografisch gesehen war dieser Gegner in der zweiten Runde des Pokals ein schlechtes Los. Der nächste Flughafen lag weit weg. Es hätte keine Zeit gespart, den Learjet zu nehmen. Deshalb war die Mannschaft im Bus unterwegs. Alle motzten, nur Victor freute sich auf die Fahrt. Auch hier waren die Sitze mit Leder bezogen, wie in den Autos vom Sponsor. In jede Kopfstütze war das Wappen von Bavaria München gestickt. Die Klimaanlage sorgte für Wohlfühltemperatur. In dieser Kapsel konnte man vergessen, durch welche Jahreszeit man fuhr. Wie im Flugzeug hatte jeder Platz einen eigenen Bildschirm, er war in die Rückenlehne des Vordersitzes integriert. Zwölf Kanäle wurden angeboten. Wem diese zu langweilig waren, der konnte Filme seiner Wahl abspielen, an jedem Platz gab es diverse Einsteckmöglichkeiten.
Wer schlafen wollte, konnte seine Lehne weit nach hinten klappen. Für die Beine gab es Auflagen, elektrisch in der Höhe verstellbar. Der Ersatztorwart betätigte einen Hebel und verschob seinen Sitz um eine Pfostenbreite in den Mittelgang. So gewann er Abstand von seinem Nebenmann.
Victor saß hinten und hatte Durst. Er ging nach vorn. Dort gab es eine Maschine für Kaffee und eine für Eiswürfel. Im Kühlschrank gab es allerdings kein Bier oder sonstigen Alkohol, noch nicht mal Radler, obwohl eine Brauerei zu den Sponsoren gehörte. Lustlos nahm Victor ein isotonisches Getränk, das nach Grapefruit schmeckte. Beim Rückweg durch den Mittelgang wuchs seine Verwunderung. In diesem Bus saß eine Fußballmannschaft. Sie hatte gewonnen, aber es war still. Fast alle trugen Kopfhörer, keiner redete. Der Pole schaute finster entschlossen auf seinen Bildschirm, dort lief ein Ballerspiel. Sein Spitzname war Alleinikow. Nach dem Schlusspfiff hätte man meinen können, diese Sportler seien Freunde. Aber jetzt sah man eine Zweckgemeinschaft auf dem Heimweg. Die Stimmung der Männer war so, als hätten sie mit Gewürge ein Unentschieden erkämpft. Wehmütig erinnerte sich Victor an Siege in Afrika. Die Mannschaft johlte, sang und schunkelte, bis der Bus schwankte und der Fahrer mit energischem Gebrüll für Ordnung sorgte. Alle tranken Bier, keiner dachte an den schweren Kopf von morgen, bis zum nächsten Spiel dauerte es noch lang. Wieso war das Leben in Deutschland so still? Haben die Leute verlernt, sich zu freuen? Allen geht es gut, wir haben gewonnen – warum lacht keiner?
Der Bus fuhr als Verheißung über die Autobahn. Außen stand in riesigen Buchstaben:
DER GROSSE TRAUM
Hermann war eingenickt. Victor hatte niemand, mit dem er über seine drei Tore reden konnte. Auf das zweite war er besonders stolz, es lief als Film in seinem Kopf. Bilder in Zeitlupe, Wiederholungen in Endlosschleife: Mit Rechts holt er den Pass halbhoch aus der Luft. Stoppt den Ball, legt ihn am Gegner vorbei, dann schießt er mit Links. Trifft mit der ganzen Wucht seines Körpers, der in diesem Augenblick gespannt ist wie ein Bogen. Wieder die unsichtbare Linie, ihr entlang fliegt der Ball, der immer schneller wird. Kurz vor dem Torwart flattert er.
Victor liebte die Müdigkeit in den Beinen. Dieses Gefühl war gut, am Abend nach dem Spiel erinnerte es an den Kampf. Er holte sein Telefon raus und klickte sich durch die digitale Welt. Dabei entdeckte er, dass es noch mehr Gemeinsamkeiten gab zwischen den verschiedenen Kontinenten des Planeten Fußball. Alle interessierten sich für den Sieger. The Winner Takes It All. Der Erfolg durfte nicht nach Zufall aussehen. Die Leute sollten vergessen, dass jeder Sportler Glück braucht, wenn er nicht verlieren will. Ein gewonnenes Spiel wurde hochgeschrieben zum Triumph, der das Auf und Ab des Wettkampfs überragte. Auf beiden Seiten hatte es Chancen gegeben, aber Tore waren eindeutig. Der Stürmer, der getroffen hatte, verwandelte sich in ein Wesen mit Eigenschaften, die jenseits des normalen Lebens lagen. So las Victor Akbunike über sich:
Der Zerstörer
Die Maschine mit den Killerfüßen
Die Natur hat ihn zum Torjäger bestimmt