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9.

Im Lehrerzimmer der Ernst Barlach Realschule in Miesenhain sitzen, alle weit voneinander entfernt, drei Lehrer. Sie haben eine Freistunde, 45 Minuten keinen Unterricht. Ob das aber Arbeitszeit ist, wird nach wie vor unterschiedlich interpretiert. Auf jeden Fall ist es unterrichtsfreie Zeit, wie die Bürokratie das nennt.

Eine von den dreien ist Veronika Langhäuser, Deutsch- und Geschi-Lehrerin, wie die Schüler sagen. Sie hat wie ihre Kollegin am anderen Ende des Tisches ihren Laptop vor sich stehen und schaut auf ihre facebook-Seite. Doch ihre Gedanken fliehen vom Monitor hinweg.

Ihre Kollegin, Bärbel Sommer, unterrichtet Englisch und Musik, ist so um die zehn Jahre jünger als sie und bei den Schülern recht beliebt. Sie scheint es geschickt zu verstehen, Musik und Englisch miteinander zu verknüpfen: How many roads must a man walk down, lernt sich in Verbindung mit Bob Dylan natürlich leichter, als wenn dieser Satz in Lektion 11 im Englisch-Lehrbuch steht.

Aber sonst weiß Veronika nicht sehr viel über Bärbel, sie sind aber per du, wie die meisten hier.

Um die 50 Frauen, zum Teil als Teilzeitlehrerinnen, manche auch nur mit einem Lehrauftrag für Maschinenschreiben und ähnliches.

Dann unterrichten heute hier auch Frauen, die gar nicht Lehramt studiert haben, sondern als Seiteneinsteiger ein paar Stunden bei mieser Bezahlung diesen Job machen. Sport zum Beispiel. Richtig weiß sie es aber auch nicht. Es herrscht eine ständige Fluktuation und viel reden tut man heutzutage auch nicht mehr miteinander. So wie im Moment.

In einer Ecke des Lehrerzimmers sitzt noch der Mathe- und Physiklehrer Johannes Maier, ihr Alter, übergewichtig geworden in den letzten Jahren. Er sagt offen, dass er keine Lust mehr hat und lieber heute als morgen in den Sack hauen würde.

Veronika erinnert sich an frühere Zeiten. Da hätten die drei jetzt neben einander und gegenüber gesessen, hätten sich unterhalten, gelacht, über einzelne Schüler geschimpft und Pläne für das Schulfest geschmiedet. Informelle Gruppenarbeit, würde man das heute nennen.

Nein, sie hatten einfach nur Spaß miteinander, sie waren Kollegen, auch Freunde, auf jeden Fall zogen sie zusammen an einem Strick, wussten instinktiv, dass dieser Job nur in Solidarität zu bewältigen war.

Sie hatten gemeinsam geraucht und Kaffee getrunken und das Gespräch unterbrach nicht, bis die Klingel zur nächsten Stunde sie zum Aufstehen zwang.

Nein, als Team hatten sie sich nicht gesehen, Team, das war eine Fußballmannschaft mit Trainer mit klar verteilten Rollen.

Lehrer waren früher aber Individualisten, freiheitsliebende Einzelkämpfer, die in Konferenzen Gemeinsamkeit planten, den Rest aber in solidarischen Chaos gestalteten.

Wie gerne ging sie damals jeweils nach zwei absolvierten Unterrichtsstunden in das Lehrerzimmer, es war Heimat und Freiheitsraum, die Viertelstundenpausen dort massierten das angekratzte Ego zum nächsten Einsatz.

Gut, sie alle waren jünger gewesen, aber kann es daran liegen? Auch damals gab es einige ältere Kollegen, die man schon mal ermutigen musste, nach der Konferenz noch auf ein Bier mitzukommen. Die Jungen zogen, die Alten folgten.

Sie kann sich gar nicht mehr erinnern, wann sie mit einer größeren Kollegengruppe im Ort eine Kneipe besucht hatte, gefühlte 50 Jahre nicht mehr.

Egal, sinnlose Gedanken, sie wendet sich der modernen Art der Kommunikation zu.

Facebook ersetzt das Plaudern früherer Zeiten. Wenn sie junge Leute in der Stadt im Straßencafe beobachtete und sah, dass die anstelle von Reden, Erzählen, Flirten, Lachen, nur noch in ihre Smartphones starten, einander mit ausgestreckter Zunge fotografierten und diese affischen Bilder sofort in facebook veröffentlichten,

kommentar- und kritiklos, ahnte sie, dass die Welt sich gerade entscheidend änderte.

Doch auch sie, Veronika Langhäuser, moderne, emanzipierte Frau, nutzt facebook oder benutzt es sogar.

Jetzt zum Beispiel:

Dieser Segler hatte ihr wieder geschrieben und wunderbar von seinen Reisen und seiner Arbeit an den Reiseberichten erzählt. Sogar Gitarre kann er spielen. Und kennenlernen würde er sie gerne. Doch sie hat ihn vertröstet, nicht weil sie wirklich Probleme oder keine Zeit gehabt hätte, nein, wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, genießt sie dieses langsame Anmachen durch kurze Schreiben, durch Andeutungen. Das prickelt mehr, als wenn sie sich mit ihm zum Kennenlernen trifft, dann ist das Flair weg, was sollte an einem 63jährigen auch noch smart sein? Nur sein Geist, sein Charme, wenn er ihr schreibt, sie gewinnen will, reizt sie wirklich. Und nächste Woche fliegt er zum Tauchen nach Ägypten, wird dort wahrscheinlich mit allen Taucherinnen flirten und sie längst vergessen haben.

Ah, sie hat eine Idee: Soll er ihr doch eine Postkarte schicken, dann muss er ihre Adresse mitnehmen, eine vernünftige, interessante, ästhetisch schöne, vielleicht leicht anmachende Postkarte suchen, Briefmarken und eine Postbox finden, und das alles nur für sie, Veronika.

Sie schreibt ihm in der Rubrik: Nachrichten:

Lieber Christian,

ich danke dir für deine netten Zeilen und dass du so verständnisvoll meine momentane Dateabsage akzeptierst.

Ich weiß, das ist nicht selbstverständlich, aber du scheinst ein sehr sensibler Mann zu sein, der bei allem Abenteuergeist und Mut sich ein Herz für kleine Geheimnisse bewahrt hat.

Ja, ich bin seit 30 Jahren Lehrerin und hier an der Ernst Barlach Realschule in Miesenhain schon seit 25 Jahren.

Ich habe Germanistik und Geschichte studiert und liebe ganz besonders die Kunstgeschichte. Da, denke ich, liegt auch eine große Gemeinsamkeit zwischen uns. Deine Reiseberichte zeigen, dass auch du die Welt mit den Augen der Historie schaust, und als ich dein Foto von der Kathedrale Sagrada familia in Barcelona sah und deine ausführliche Bildunterschrift zu Gaudis Architektur, habe ich in dir schon mehr gesehen als den bewundernswerten Segler und Weltenbummler.

Ich konnte in jungen Jahren übrigens auch mal Gitarre spielen, habe es aber schon gefühlte 100 Jahre nicht mehr getan, die Gitarre steht aber noch in einer Ecke meines Arbeitszimmers. Oh, wie liebe ich es, guten Gitarristen zuzuhören. Eric Clapton zum Beispiel. Sein wonderful tonight macht mich an.

Und du fliegst nach Ägypten, Christian !

Da wünsche ich dir ganz viele tolle Erlebnisse. Und ich drücke dir die Daumen für ein super schönes Postkartenwetter. Ach ich denke, jeder Urlaub birgt immer was Schönes in sich. Es fängt schon mit der Vorfreude an. Und wenn man dann noch mit guten Freunden zusammen ist, dann macht das Spaß.

Erstmal siehst du das Meer wieder, auf dem du dich doch sicherlich wie zu Hause fühlst.

Hab eine schöne Zeit und komme gesund wieder zurück!

Wenn du Lust hast, kannst du mir ja eine Karte schreiben. Ich würde mich freuen:

Veronika Langhäuser

Lange Reihe 13

43150 Miesenhain

Mal sehen, wann sie ankommt, aber es ist ja egal!

O.k., das war‘s für heute. Alles Liebe dir, Christian, und pass auf dich auf!

Ciao von Veronika

Ab geht’s, es klingelt gleich. Hat das nun mehr Spaß gemacht, als ein Gespräch mit Bärbel, von Frau zu Frau sozusagen? Sie weiß es nicht. Sie fährt ihren Laptop runter.

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