Читать книгу +++ Neue Nachricht +++ - Johannes Tilly - Страница 6
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Veronika kommt wieder einmal spät aus der Schule.
Mein Gott, denkt sie, was waren das noch für Zeiten, als um zehn nach eins der Unterricht endete. Natürlich hatte man dann kein frei, aber der Druck war weg. Erst mal was essen, dann eine Kanne Kaffee, auch schon mal ein Mittagsschläfchen. Irgendwann am Tage die notwendige Schreibtischarbeit. Stunden für den nächsten Tag vorbereiten, Unterrichtseinheiten projektieren, Klassenarbeiten und Tests korrigieren und benoten. So zwischen zwei und drei Stunden, also ungefähr zwölf Schreibtischstunden pro Unterrichtswoche. Das konnte man, wenn es eng wurde, auch alles an einem Arbeitssonntag erledigen. Aber das war hart und der Qualität diente es auch nicht.
Aber mal einen ganzen Mittag nichts tun, zu Freundinnen fahren, in die Sauna gehen, nach Kleinklottenburg ins Städtchen oder nach Köln in die Großstadt, das konnte man sich als Lehrer schon mal erlauben.
Heute hat sie dreimal pro Woche Unterricht bis viertel vor vier. Wenn sie dann um halb fünf zu Hause ist, ist sie so platt wie jeder Arbeitnehmer nach acht Arbeitsstunden.
Ja, ich bin ein Arbeitnehmer, eine Angestellte beim Staat, offiziell Landesbeamtin, aber ein freier Lehrer wie vor 30 Jahren bin ich nicht mehr, denkt sie.
Die Bezahlung ist nicht schlecht, aber Karriere, wie man das heute sogar bei den Kassiererinnen bei Aldi nennt?
Sie wurde 1982 als Realschullehrerin mit A 13 eingestellt und aller Voraussicht nach wird sie mit derselben Gehaltsstufe in rund zehn Jahren in Pension gehen. Eine tolle Karriere!
Sie verscheucht diese negativen Gedanken. Quatsch! Sie ist gesund und ihr geht es gut.
Sie hat etliche Männer in ihrem Leben kennen gelernt, mit dreien war sie über längere Zeiträume liiert.
Mit dem ersten dieser drei, Erwin, war sie sogar zusammen gezogen. Heirat war für beide kein Thema, schwanger wurde sie nicht, obwohl sie nachlässig verhüteten. Der
Zauber des Anfangs, den Hermann Hesse zitiert, hatte sich verflogen, sie hatten sich nach vier Jahren wieder getrennt.
Später waren noch Dieter und Maik ihre Lebensabschnittspartner geworden, doch ihre Wohnung hatte sie nie mehr aufgegeben, wenn sie auch manchmal wochenlang verwaist war.
Seit 2002 lebt sie als Single, braucht ab und zu einen Flirt, auch mal einen One-Night-Stand.
Während sie in der Küche Spaghetti kocht und aus einer vom Vortag übrig gebliebenen Kopfsalathälfte einen Salat zubereitet, lässt sie im Arbeitszimmer den Computer hochlaufen. Zu den Spaghetti gibt es Ketchupsoße und zwei Spiegeleier, dann den Salat mit Vollkornbrot. Satt !
Fleisch mögen eh nur die Männer!
Zwei von diesen Spezies haben ihr auf facebook eine Nachricht hinterlassen.
Klaus-Jürgen, ein Urlaubsflirt vom letzten Jahr, schickt ihr schöne Grüße aus Miami. Ja, in Florida ist es auch jetzt im November noch angenehm warm. Aber eigentlich interessiert es sie gar nicht, der Typ auch nicht. Bankangestellter, im Moment einfach nur unsexy.
Die zweite Nachricht ist von diesem Segler: Er dankt ihr für ihre tolle Einstellung einem Streuner gegenüber, ihre Weltoffenheit und Toleranz und erzählt dann von seinem Projekt: Rund ums Mittelmeer.
Nächstes Jahr will er Anfang August Kroatien erreichen. Das interessiert sie eher, sie kennt diese Küste und einige der wunderschönen vorgelagerten Inseln. Cres zum Beispiel, der istrischen Ostküste gegenüber, nur getrennt durch die Kvarner Bucht, diesem herrlichen Meeresarm, oft schrecklich von der Bora gebeutelt.
Veronika vergrößert noch einmal sein Profilfoto, liest: Christian Söndermann, geb.
10. November 1949, Single.
Sie klickt auf die Sammlung >Fotos< und mehrere Fotoalben werden sichtbar. Sie öffnet irgendeins, sieht herrliche, von der Sonne verwöhnte Mittelmeerlandschaften, sieht ein Segelschiff in einer malerischen Bucht vor Anker liegen und am Strand einen älteren, schlanken, gut gebräunten Herrn in sportlicher Badehose. Sie vergrößert auch dieses Foto. Für einen 63 jährigen Mann hat er sich gut gehalten. Er lächelt sympathisch in die Kamera, ein facebook-Foto halt. Ein Sympathie-Foto für die Welt.
Unter dem Foto steht als Untertext: Wie Odysseus am Strand der Phäaken.
Ja, sie kennt diese historische Theorie: Wenn Homers Geschichten wirklich einen realen Hintergrund haben, dann ist Odysseus, der listenreiche, vielleicht wirklich von den Kräften der Natur - Homer gibt natürlich Poseidon die Schuld - durchs Mittelmeer getrieben worden, auf Schiffen, die nicht die technischen und navigatorischen Möglichkeiten von heute hatten.
Dem Typen mal ein paar Zeilen schreiben, macht sicher mehr Spaß als diese widerlichen Kommentare unter Schüleraufsätzen, dieser Mischung aus keine Ahnung und orthographischem Unvermögen. Ein ganzer Stapel solcher Hefte eines neunten Schuljahres liegt noch auf der Fensterbank. Zehn Hefte hat sie durchgelesen und korrigiert. Auch ihre Kommentare schon darunter geschrieben. Benotet hat sie diese Aufsätze noch nicht, nur ein Zettelchen mit einem Bleistiftvermerk dazu gelegt: 3-4 oder 4-.
Eigentlich sind diese Leistungen nur mit mangelhaft zu bewerten. Aber das akzeptiert man heute nicht mehr. Maximal ein Drittel einer Klassenarbeit darf schlechter als ausreichend benotet werden. Ihr graut es. Sie schreibt in den Laptop:
Hallo, Christian,
zwischen der Korrektur zweier Schüleraufsätze will ich dir schnell ein paar Zeilen schreiben.
Wie schön ist es, deine Texte zu lesen und deine Fotos anzuschauen. Das ist Leben pur, nicht Leben aus zweiter Hand.
Wie faszinierend finde ich es, Odysseus am Strand zu suchen und nicht im Geschichtsbuch auf Seite 133 unter der Überschrift: Die alten Griechen.
Auf deinen Fotos kann ich das Meer rauschen hören, die silbrig glänzenden Blätter der Olivenbäume glitzern in der Sonne. Das Zirpen einer Zikade zersägt die Stille. Ich spüre förmlich das Brennen der Sonne auf meiner Haut, wie angenehm und antörnend. Ja, du stehst da auf einem Foto wie Odysseus, so stark, so schlau, so durchtrieben!
Veronika findet Spaß an solcher Formulierkunst. Ja, sie schreibt gerne, wenn es sich lohnt, wenn es keine Perlen vor die Säue geworfen ist.
Und Kroatien kenne ich auch, als Kind
Sie rechnet nach, Anfang der 70er war sie schon mit ihren Eltern auf Krk im damaligen Jugoslawien noch.
habe ich schon auf Krk gebadet. Leider hatten wir kein stolzes Segelboot, aber dafür war die Küste auch nicht so überlaufen wie heute.
Auf der Ostsee bin ich auch schon mal mitgesegelt von der Schleimündung hinauf in die Inselwelt der Dänischen Südsee und zurück.
Und ich bewundere deinen Mut, so alleine in der Welt unterwegs zu sein. Ohne Angst vor Wellen und Menschen, mit Selbstvertrauen auf dein seglerisches Können und deine Menschenkenntnis.
Ich wünsche dir aber auch hier in Deutschland jetzt im traurigen Spätherbst eine schöne Zeit und freue mich weiterhin auf deine facebook-Beiträge.
So und nach diesem Spaß, dir schreiben zu können, nehme ich meinen nächsten Aufsatz vor, da muss ich dann was drunter schreiben, bei dir wollte und durfte ich.
Es grüßt dich herzlich,
Veronika
Sie drückt auf >Antworten< und der Text ist angenommen. Auch wenn er Rechtschreib- und Formulierungsfehler enthalten sollte, darauf kommt's hier nicht an. Nur der Inhalt zählt, die Absicht, das erzählende, informatorische Element.
Widerstrebend wendet sie sich ihrer beruflichen Tätigkeit zu. Sie schlägt ein Aufsatzheft auf.
Erörterung: Sollte die Benotung in den Schulen abgeschafft werden?
Erörtern heißt, das Pro und Contra finden.
An einer ähnlichen Themenstellung: Sollte man das Sitzenbleiben in den Schulen abschaffen? hatte sie es eine Woche lang im Deutschunterricht geübt. Solche Themen müssen doch der Gedankenwelt der Schüler entsprechen.
Doch was muss sie lesen?
„Bei einer guten Note gibt es von der Oma Schokolade und vom Vater Geld! Also wäre die Abschaffung der Noten ein Nachteil für die Schüler.“
Ihr graut es. Befriedigend minus, schreibt sie auf ein Zettelchen und wirft das Heft zu den zehn schon nachgesehenen. Es reicht ihr. An die restlichen 14 Hefte geht sie morgen.
Sie schlägt noch einmal Christians Seite auf und schreibt:
Ich begrüße auf meiner Seite Christian, den Streuner!
Darunter schreibt sie einen Text, der bei ihr im Arbeitszimmer an der Wand hängt:
Es gibt keine Pflicht des Lebens,
es gibt nur eine Pflicht des Glücklichseins.
Dazu allein sind wir auf der Welt,
und mit aller Pflicht und aller Moral und allen Geboten
macht man einander selten glücklich,
weil man sich selbst damit nicht glücklich macht.
Wenn der Mensch gut sein kann, so kann er es nur, wenn er glücklich ist,
wenn er Harmonie in sich hat, also wenn er liebt.
Dies war die Lehre, die einzige Lehre der Welt:
dies sagte Jesus, dies sagte Buddha, dies sagte Hegel.
Für jeden ist das einzig Wichtige auf der Welt
sein eigenes Innerstes, seine Seele, seine Liebesfähigkeit.
Ist die in Ordnung, so mag man Hirse oder Kuchen essen,
Lumpen oder Juwelen tragen,
dann klingt die Welt mit der Seele zusammen, ist gut, ist in Ordnung.