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Die vierte Station

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Der Hausherrin war es gar nicht recht, dass ihr Sohn einen Gast mitgebracht hatte, zudem dieser auch noch vorhatte, längere Zeit in der Villa am See zu bleiben. So ging Frau Engel beiden aus dem Weg, zog sich nach dem Mittagessen zurück und telefonierte mit ihren Freunden, die ihr rieten in der Sache nichts zu unternehmen. Einen Tag später kehrte Katharina Kranz, Johannas Mutter, überraschend in die nachbarliche Villa zurück. Sie lieh sich bei Frau Borgmann ein Stück Butter und erkundigte sich ganz nebenbei nach dem Gast aus Den Haag. Noch in derselben Nacht heulten die Sirenen der Alarmanlage des Van. Keine zwei Minuten später stand Gabriel angezogen unten an seinem Wagen. Mehr als einen unscharfen flüchtenden Schatten konnte er auf seinen Überwachungsmonitoren allerdings nicht erkennen. Wenigstens hatten seine Installationen den nächtlichen Unbekannten aber in die Flucht geschlagen. Dennoch galt es, angesichts dieses Zwischenfalls ein paar Verbesserungen vorzunehmen, um sein Warnsystem noch perfekter zu machen, fand Gabriel. Nach dem Bootsausflug mit David würde er sich sofort ans Werk machen.

Gabriel fühlte sich sichtlich wohl am See mit dem Ausblick auf die majestätisch wirkenden Berge. Alles erinnerte ihn an seine Kindheit, als er mit seinen Eltern jedes Jahr im Sommer mit dem Wohnwagen in die Berge gefahren war. Gabriel Lavant stammte aus Den Helder. Dort hatte sein Vater in der ansässigen Marine als Kapitän gedient. Im Winter war das kleine holländische Küstenstädtchen eher beschaulich, erinnerte sich Gabriel, aber im Sommer waren die langen Sandstrände überfüllt, Hotelzimmer wie Ferienwohnungen restlos ausgebucht. Und es gab kaum eine Wiese, auf der für einige Wochen nicht eine kleine Zeltstadt entstanden war.

„Bis zu seinem Ausscheiden aus der Marine sind wir jedes Jahr in die Berge gefahren. Ein Wunder, dass ich überhaupt schwimmen und tauchen gelernt habe“, scherzte Gabriel und grinste David an, der mit aller Kraft auf die Mitte des Sees zuruderte.

„Ungefähr hier wollte Johanna damals mit mir schlafen. Was sage ich, sie wollte ein Kind von mir. Sie war gerade vierzehn Jahre alt geworden. Seltsam, an fast derselben Stelle hat sich übrigens auch ihr Großvater das Leben genommen.“ Gabriel hob die Brauen und blickte sich zur Kranz-Villa um.

„Morgen werde ich meine Taucherausrüstung mitnehmen, vielleicht haben wir Glück, und die Nazis haben hier ihr Beutegold versenkt“, scherzte er und fügte nach einer kleinen Pause hinzu, „übrigens werden wir vom Dach eurer Nachbarvilla beobachtet.“

David war längst in Gedanken versunken. Ihn beschäftigte das Untersuchungsergebnis der zweiten Reliquie. Sie hatte dieselbe DNA wie die erste. Es musste also, irgendwo ein menschliches Skelett geben, das in seinen Einzelteilen zu Amuletten verarbeitet worden war. Auch die weiteren Ergebnisse waren höchst interessant. Der dazugehörige Mensch war zwischen seinem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr gestorben. Gabriel konnte mit Sicherheit sagen, dass das Fleisch durch eine Säure vom Knochen getrennt worden war.

„Mord“, murmelte David, „es muss Mord gewesen sein. Aber wieso macht sich jemand die Mühe, den Leichnam zu zerstückeln und auch die Knochen noch weiter zu verarbeiten?“

„Wir werden das herausbekommen“, versprach Gabriel. „Du mit deinem Wissen und deiner Kombinationsgabe und ich mit meiner Technik. Ich finde, wir sind ein unschlagbares Team.“

David grübelte weiter.

„Ich sollte mit meiner Mutter reden, vielleicht gibt es ja eine ganz normale Erklärung für alles.“

„Hallo?“ unterbrach Gabriel ihn, „wo bleibt deine Logik? Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass deine Mutter da mit drin hängt. Wir werden die ganze Zeit von deiner Nachbarin beobachtet, auch das ist nicht normal, wie Du mir sicher bestätigen wirst. Hier läuft irgendwas ab, wir durchschauen es bloß noch nicht.“

„Und wenn die Knochen zu meinem Vater gehören?“ fragte David leise.

Gabriel winkte sofort ab.

„Vollkommen ausgeschlossen. Überlege doch nur, wie alt dein Vater heute wäre.“

„Und wer beobachtet uns?“

„Da ist jemand auf dem Dach der Nachbarvilla.“

„Vielleicht sollten wir mit Johannas Mutter reden und ihr deine Untersuchungsergebnisse vorlegen“, schlug David vor.

„Warte lieber den Termin des Gerichts ab, das ist früh genug. Außerdem habe ich heute Abend ein Experiment mit dir vor. Wenn es klappt, sind wir ein großes Stück weiter.“

„Ein Experiment, mit mir?“ fragte David und lächelte unsicher.

„Lass dich überraschen!“ grinste Gabriel.

David legte die Ruder ins Boot, lehnte sich zurück und genoss die brennende Nachmittagssonne. Er war froh, dass Gabriel da war und ihm zur Seite stand.

In der Nacht betrat Gabriel Lavant in einer Art schwarzem Kampfanzug und mit zwei Rucksäcken das Zimmer seines Freundes.

„Zieh das über“, sagte er nur und warf David die Ausrüstung zu.

„Was hast du denn vor?“ fragte David verwundert und schlüpfte, ohne eine Antwort bekommen zu haben, in den schwarzen Overall aus leichtem Synthetikstoff.

„Kommen wir hier irgendwie unbemerkt hinaus?“ erkundigte sich Gabriel geschäftig und ließ seine Blicke schweifen.

„Sicher, es gibt einen Weg über die Dächer, den habe ich immer als Kind benutzt.“

Beide grinsten sich wie Lausbuben an, die vorhatten irgendeiner Witwe die Hähnchen durch den Kamin vom Feuer zu stehlen.

So stiegen sie, die Rucksäcke geschultert, aus dem Gaubenfenster. Sie hielten sich an den Eisenhaken fest, die gegen Schneesturz in regelmäßigen Abständen zwischen den Dachkallen eingelassen waren, und hangelten sich so in vollkommener Dunkelheit Stück für Stück bis zur Dachrinne vor. An deren Fallrohr ließen sie sich bis zum Garagendach herunter. Von dort war es nur noch ein kleiner Sprung auf den angrenzenden Rasen.

Dann huschten sie weiter über die Wiese, um schnell aus dem Blickfeld der Villa am See zu verschwinden.

„Hast du keine Angst um deinen Wagen?“ fragte David, als sie außer Reichweite der Villa waren und eine kleine Pause machten.

„Nein, ich habe ein paar Extras aktiviert, die jeden in die Flucht schlagen werden.“ orakelte Gabriel.

„Und jetzt?“

„Jetzt führst du mich zu diesem ominösen Wegkreuz, an dem du dich beobachtet gefühlt hast.“

Ein seltsames Gefühl in vollkommener Dunkelheit auf einer Bank zu sitzen, aber David vertraute seinem Freund. Seine unkonventionellen Methoden hatten in der Vergangenheit schon des Öfteren zu sensationellen Erfolgen geführt. So war er beispielsweise mit einer großen Schar Frauen aus einem Dorf nahe Prijedor in Zentral-Bosnien zu Fuß aufgebrochen, um die Gräber ihrer erschossenen Männer zu finden. Eine Suche, die von den zuständigen europäischen Behörden nach einem halben Jahr eingestellt worden war, weil sie als hoffnungslos galt. Drei Tage war Gabriel mit den Bosnierinnen scheinbar ziellos durch die unwegsame Gegend geirrt, bis eine der Frauen auf einem Feld plötzlich angefangen hatte, laut zu schreien. Sofort hatten die anderen vom Krieg gezeichneten Dorfbewohnerinnen in ihr Wehgeschrei mit eingestimmt. Gabriel hatte damals persönlich die Ausgrabungsarbeiten geleitet und war gemeinsam mit seinen Mitarbeitern schnell fündig geworden. Ein Grab, aus dem sie sechsundachtzig männliche Leichen hatten bergen müssen.

Allein der Gedanke an Massengräber jagte David kalte Schauer über den Rücken.

„Gabriel“, flüsterte er, „wo bist du?“

Aus der Dunkelheit kam keine Antwort. Schon spürte er wieder dieses Kribbeln, als würde jemand direkt hinter ihm stehen. Aber da war niemand. Alles Einbildung, nicht mehr und nicht weniger. David streckte die Arme aus und griff mehrfach ins Leere. Nein, da war wirklich nichts. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Bis zum Waldrand konnte er die leere Wiese erkennen.

„Gabriel?“

David stand auf. Ihm wurde die Sache langsam zu dumm.

„Und, spürst du was“, flüsterte Gabriel ihm ins Ohr, der plötzlich wie aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht war.

David zeigte mit seiner Hand in die Dunkelheit.

„Da, da! Ich habe das Gefühl, als ob da jemand stände. Aber da ist niemand.“

„Bleib so!“

Gabriel streckte seinen Arm parallel zu Davids aus. Eine Stabtaschenlampe blitzte auf und richtete ihren Lichtkegel direkt auf das Eisengitter des Wegkreuzes.

Langsam gingen die beiden darauf zu. Nichts hatte sich dort verändert. Die abgebrannte Kerze in der schwarzen Schale, die verwelkten Wiesenblumen im Würstchenglas, alles stand noch an seinem Platz.

Gabriel stellte seinen Rucksack auf den Boden und holte einen Akkuschrauber heraus. In Sekundenschnelle löste er geschickt die Schrauben des Eisengitters. Vorsichtig nahm er es ab und reichte es zusammen mit der Stabtaschenlampe an David weiter.

„Ich habe es geahnt“, flüsterte Gabriel, stellte die abgebrannte Kerze beiseite und nahm vorsichtig die Schale heraus. Mit einem skalpellähnlichen kleinen Messer kratzte er vorsichtig an der schwarzen Lackierung. Was da im Schein der Stabtaschenlampe unter der Farbe hervorkam, war ein Knochen. Von der Form her war es auch diesmal ein Leichtes, ihn zu bestimmen. Kein Zweifel, es handelte sich um das Becken eines Menschen.

Ungläubig starrte David auf das lackierte Skelettteil und schaute zu, wie Gabriel mit dem kleinen Messer ein winziges Stück Knochen abschabte und es in einer kleinen Plastikdose verschwinden ließ.

„Wir müssen einen Abdruck machen“, erklärte er kurz, „in deinem Rucksack ist alles, was wir dafür brauchen.“

David holte die Schalen, die zwei Komponentenpulver und einen Wasserkanister aus seinem Rucksack.

Gabriel begann sofort damit, das weiße Pulver mit der Flüssigkeit zu verbinden. Während sie die chemische Reaktion beobachteten, schwante ihnen beiden, dass sie in dieser Nacht höchstwahrscheinlich noch mehrmals fündig werden würden.

Ein Kreuzweg hat normalerweise vierzehn Stationen, kalkulierte David im Stillen. Unmöglich, das in einer Nacht zu schaffen.

Gabriel tauchte bereits das schwarzlackierte Becken in den flüssigen Kautschuk.

David schulterte unterdessen den Rucksack seines Freundes und wollte schon zur nächsten Station aufbrechen, da hielt ihn Gabriel zurück.

„Das machen wir morgen bei Tag“, erklärte er entschlossen. „Ich habe da nämlich ein neues Gerät, das erleichtert unsere Arbeit ungemein.“

Dann begann er, sich genüsslich eine Zigarette zu drehen und machte es sich im Gras bequem.

„Drehst du mir auch eine?“ fragte David und setzte sich neben ihn.

Gabriel schaute ein wenig irritiert, hatte er David doch, solange er ihn kannte, nie rauchen gesehen. Und weiß Gott, sie hatten gemeinsam grauseligere Funde als diesen hier erlebt.

„Ich habe dein Dossier über die Zigarettenkippe gelesen“, sagte David leise und nahm einen ersten zaghaften Zug, „eine original Schweizer Davidoff, deren Filter abgebrochen worden ist, richtig?“ Gabriel nickte und blies Rauchkringel in die Nachtluft.

„Richtig!“

„Ich kenne nur einen, mit so einer Marotte“, sinnierte David und zögerte. Gabriel führte seinen Gedanken zu Ende:

„Ich weiß, dein Vater, aber der ist schon seit vierzig Jahren tot. Aber keine Sorge, wir werden alles herausfinden, dafür bin ich schließlich da.“

Schweigend saßen die beiden in der Wiese und warteten darauf, dass sich die Gummiform festigte.

Das Archiv des Vaters wies eklatante Lücken auf. Das war David sofort aufgefallen, als er einen Tag nach seiner Ankunft in den Keller gestiegen war. Der oder diejenigen, die all die Akten, Filmrollen, Kontaktabzüge und Zeitungsausschnitte entwendet hatten, mussten sich ihrer Sache ziemlich sicher gewesen sein und gezielt gesucht haben. Sie hatten sich zumindest nicht die Mühe gemacht, Lücken in den Regalen zu schließen oder überhaupt Spuren zu verwischen. Vor allem die Bilder und Unterlagen aus Johnny Engels Frankfurter Zeit waren verschwunden. Mit der Geschichte von Rosemarie Nitribitt hätte er gern sein Buch über den Vater begonnen: Wirtschaftswunder. Es geht wieder aufwärts in Deutschland, und mitten drin diese Frau. Welche Rolle hatte sie gespielt? Und in welchem Zusammenhang hatte sie zu seinem Vater gestanden? Mit eben diesen Fragen müsste er das Buch beginnen und es in den Fluten der Hamburger Sturmflut von 1962, kurz nach seiner Geburt enden lassen. Zum Glück hatte er bei seinen letzten Besuchen immer wieder Unterlagen eingescannt und auf seinen Laptop geladen. Aber das übrig gebliebene Material waren Fragmente, die niemals ausreichen würden, um eine fundierte Geschichte zu beginnen. An die zweihundert Aktenordner, in denen Kopien von Frankfurter Prozessprotokollen abgeheftet waren, fehlten komplett. Ähnlich verhielt es sich mit den Bildern vom Frankfurter Leichenschauhaus und den unzähligen Beerdigungsbildern, auf denen eine Unzahl von Trauergästen abgebildet war. Fünfziger Jahre, das konnte er einordnen. Aber welches Jahr, welcher Tag und um wessen Beerdigung handelte es sich überhaupt?

David nahm sich vor, zumindest auch noch die restlichen Unterlagen zu dieser Sache einzuscannen. Ob er alles einordnen konnte oder nicht - die gigantische Anzahl an Bildern und Negativen galt es zu sichern. Dann konnte man in Ruhe weitersehen.

Natürlich hatte er die Mutter zur Rede gestellt. Gleich nach der Entdeckung. Und was hatte sie gemacht? Ihm eine weitere Lüge aufgetischt. Mit der üblichen Nonchalance, die ihn so ärgerte, weil sie ihn einmal mehr für dumm verkaufte.

„Ein Museum interessiert sich für den Nachlass deines Vaters“, hatte sie achtlos gesagt und nicht einmal von ihrem Buch aufgeschaut. „Er hat mit seinen Bildern Geschichte dokumentiert, Zeitgeschichte. Es war längst an der Zeit, dass das Werk deines Vaters angemessen gewürdigt wird.“

Und als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, hatte sie noch eine ihrer üblichen Nörgeleien nachgesetzt:

„Du und dein Buch. Wie lange schiebst Du es schon vor dir her, ein Buch über deinen Vater zu schreiben?“

Es war nicht zu übersehen gewesen, dass sie ihn damit getroffen hatte. Er war stumm und ihr eine Antwort schuldig geblieben. Tausend Dinge gingen ihm seither durch den Kopf.

Die letzten zehn Jahre waren wie im Fluge vergangen. Von wirklicher Selbstbestimmung keine Spur. Seine Ehe war daran gescheitert, und von einem innigen Verhältnis zu seiner Mutter konnte man auch nicht gerade sprechen. Eigentlich war er sich auch heute noch selbst genug. Es gab einfach so viele Dinge, die ihn interessierten, fesselten. Mehr als genug für ein Leben.

Als er damals wortlos seine Mutter verlassen hatte, war da dieser Blick gewesen. Diese hochmütigen, unnahbaren Augen. Nur der Mund leicht schief. Da, wo der Lippenstift abgeplatzt war. Er kannte diesen Ausdruck, dieses Bild. Natürlich in einem ganz anderen Zusammenhang. Es war in Frankfurt gewesen, damals vor vielen Jahren, als er den Hotelportier im Ruhestand aufgesucht hatte. Etwas irritiert war er damals durch die fremde Stadt geschlendert. Wieder hatte er etwas über seinen Vater, Johnny Engel, erfahren. Ein weiteres kleines Puzzleteil in einem riesigen unvollständigen Bild, über einen Menschen, den er nicht mehr kennen gelernt hatte.

„Du bist so unnahbar“, hatte ihm seine Frau am Telefon gesagt. Im Hintergrund hatte er die Kinder toben gehört. Sie hatten freudig seinen Namen gerufen.

„Warum sind dir die Toten bloß näher als die Lebenden?“ hatte sie kalt gefragt.

Er hatte dann aufgelegt. Unfähig irgendetwas zu erwidern. Er hatte sich allein gefühlt. Frankfurt hatte es ihm außerdem leicht gemacht, dieses Gefühl zu empfinden.

Ziellos war er durch die Nacht gelaufen und irgendwie in dieses Viertel geraten. Frauen aus allen Teilen der Welt hatten halbbekleidet ihre einzige Ware angeboten und David hatte ein Ecklokal betreten: Ihm war nach Alkohol, Zigarettenqualm und Schweißgeruch. Einfach so an der Theke sitzen, das andere Leben um sich herum spüren und sich selbst zwischen den Schnapsflaschen in einem stumpfen Barspiegel betrachten. Die anderen Gäste hatten ihn in Ruhe gelassen. Ein paar Mädchen hatten zaghaft versucht, mit ihm ins Geschäft zu kommen. Aber er hatte ihre Angebote einfach überhört.

Plötzlich war die ganze Szene wieder so präsent, als säße David wieder auf demselben Barhocker wie damals. Er hörte die Musik um sich rauschen und die Mädchen schnattern. Er sah den Barkeeper mit seinem angeschmutzten Hemdkragen vor sich und hörte ihn sagen: „Sie sind neu in der Stadt“, und stellte ihm den doppelten Whisky hin.

„Bin früher in Hockenheim Autorennen gefahren, aber dann kam dieser blöde Unfall.“

Erst jetzt hatte David Engel bemerkt, dass der Mann ein Bein nachzog.

Es war schon gegen Morgen gewesen, der Wirt stellte an den leeren Tischen die Stühle hoch, als sich eine grell geschminkte Frau um die fünfzig neben ihn setzte.

„Wir sind wohl übrig geblieben, was? Zumindest haben wir was gemeinsam“, eröffnete sie ihr Verkaufsgespräch.

Der Wirt schrie von hinten, dass er gleich zusperren werde.

„Wenn Sie noch eine Flasche ordern können, komme ich mit“, sagte David und vermied es, in den stumpfen Barspiegel zu schauen.

Neben den Toiletten gab es eine Stiege, die sie kurz darauf schweigend nach oben gingen.

Erst auf dem Zimmer, in dem es aufdringlich süßlich roch, wurde sie redseliger.

„Französisch, griechisch, russisch, bei mir geht alles!“ leierte sie müde ihr Angebot herunter.

David setzte sich auf das Bett und öffnete die Flasche.

„Eigentlich möchte ich nur reden.“ sagte er und starrte auf den herausgezogenen Korken.

„Reden, wie geht das? Was ist los? Bin ich dir zu hässlich? Zu alt, dass dir keiner abgeht? Was ist das für eine Zeit, wo alle nur reden wollen?“ sie suchte in ihrer Handtasche nach Zigaretten.

„Machst du das schon lange?“ fragte er und schüttete ihr ein Glas Wein ein.

„Was soll das? Bist du einer von der Kirche oder ein Bulle?“ genervt steckte sie sich eine Zigarette in ihren schiefen Mund.

„Nein, nein, ich recherchiere da in einer Sache und komme nicht weiter.“

Sie machte einen kräftigen Zug an ihrer Zigarette und nickte wissend: „Privatdetektiv, stimmt’s? Oder bist du so ein verkappter Schriftsteller aus reichem Haus?“

Er reichte ihr das Weinglas.

„Nein, es ist eher privater Natur. Es geht um das Jahr 1957, um den 1. November.“

„Der Todestag der Nitribitt“, sagte sie leise.

Sie stand direkt vor ihm, schaute ihm ins Gesicht. Mit demselben wohlbekannten Blick. Mit diesen hochmütigen, unnahbaren Augen, nur der Mund leicht schief. Da, wo der grelle Lippenstift abgeplatzt war.

Sicher war es ein Fehler gewesen, sich die ganzen Jahre nie mit der Mutter beschäftigt zu haben. David würde es nachholen, sobald er Zeit dafür hatte. Jetzt galt es erst einmal, Spuren zu sichern.

Der synthetische Kautschuk war mittlerweile getrocknet. Geschickt löste Gabriel ihn mit seinem scharfen Messer von der lackierten Schale und packte das unförmige Gummistück in seinen Rucksack. Mit einer Spraydose entfernte er dann die letzten kleinen Partikel und stellte das schwarzlackierte Becken zurück an seinen Platz. Es dauerte nicht lange, da war der alte Zustand des Wegkreuzes wieder hergestellt.

Sie schlichen zurück, wie sie gekommen waren. Über das Fallrohr hoch auf das Dach der Garage, von dort weiter bis zum Gaubenfenster, in das sie lautlos verschwanden.

Joseph

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