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Die Villa am See

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David Engel hörte, wie hinter ihm der Dieselmotor startete und der Wagen sich Richtung Hauptstraße entfernte. Gerade eben hatte er dem Taxifahrer zu einem weiteren lukrativen Geschäft verholfen. Geradeheraus hatte er den Fahrer gefragt, ob er ihm den Glücksbringer, der am Rückspiegel an einem Samtband hing, nicht verkaufen wollte. David konnte sich selbst nicht genau erklären, warum er diesen Knochen unbedingt besitzen musste. Er hatte direkt eine hohe Summe geboten, um ein lästiges Feilschen von vornherein auszuschließen. Der Taxler hielt seinen sonderbaren Fahrgast nicht für einen Idioten. Für einen dieser Neureichen oder deren Nachkommen, die sich seit den zwanziger Jahren von den mit allen Wassern gewaschenen Bauern der Umgebung das Geld aus der Tasche ziehen ließen. Arme Tröpfe. Jahrhundertealte, wertlose, feuchte Wiesen waren über Nacht plötzlich ein Vermögen wert gewesen. Selbst sein Schwager, der jetzt in der Stadt wohnte, hatte erheblich davon profitiert.

Für heute würde er Schluss machen. Sein Auftrag war erfüllt. Er wäre froh, wenn er seinem Schwager den Wagen schon wieder heil zurückgebracht hätte.

Die lederne Reisetasche geschultert, betrat David Engel das parkähnliche Gelände. Er folgte nicht dem breiten Kiesweg, der direkt an der Villa am See endete, sondern ging in entgegengesetzter Richtung über die Wiese auf die am Hang stehende Baumlichtung zu. Sein Ziel war eine alte Holzbank, von der aus man eine gute Sicht über das ganze Gelände, die Villa und den See hatte. Schon als Kind war diese Stelle sein Lieblingsplatz gewesen.

Nach einer guten Viertelstunde setzte David sich auf den jahrelang der Witterung ausgesetzten halben Baumstamm und genoss für einen Moment die Aussicht. Ein schönes Gefühl überkam ihn, immer wieder feststellen zu dürfen, dass es Orte gab, die sich scheinbar nicht veränderten. Drei Wochen eintauchen in eine unbeschwerte Kindheit. Der Seele einen Ruck geben und sich weit hinaus auf den dunkelblauen Bergsee treiben lassen. Sich dem barocken Wolkenspiel hingebungsvoll überlassen. Das war genau das, was er jetzt brauchte.

Voll neugieriger Erwartung holte er aus seinem abgenutzten weißen Jackett den Talisman und begann mit seinen Untersuchungen. Die beiden Einfassungen aus Silber waren mit Stahlstichen verziert. Auf dem oberen Ende waren einzelne Punkte eingraviert, auf dem unteren ein Adler. Wenn er beides, Punkte und Adler, zusammenbringen könnte, wäre er einen großen Schritt weiter. David griff in die Innentasche seines Jacketts, holte sein kleines Notizbuch heraus und kopierte die siebzehn Punkte auf eine leere Seite. Anschließend verband er die Punkte miteinander und versuchte, die unterschiedlichen Bilder zu interpretieren, die sich aus den entstandenen Grafiken bilden ließen. Aber nichts ergab für ihn einen Sinn. Wenn es sich um eine verschlüsselte Botschaft handeln sollte, war seine Schlussfolgerung, hatte der Verfasser höchst wahrscheinlich auch eine Codierung benutzt. Er versuchte es mit der einfachsten Art: der Spiegelung. So setzte David die Koordinaten der siebzehn Punkte neu. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er das Ergebnis betrachte. Kein Zweifel, die Punkte bildeten ein Sternbild. Das Sternbild des Skorpions. Auf der oberen Einfassung ein Skorpion und auf der unteren ein Adler. Wo gab es da einen Zusammenhang?

David schloss die Augen und begann seine geistige Suche. Irgendetwas Religiöses, dessen war er sich sicher. Die vier Tierkreiszeichen im Zeichen der Religionen, die Vier war der Schlüssel.

„Vier..., vier..., vier“, sprach er zu sich selbst. Die vier Evangelisten, das war die Lösung. Die vier Evangelisten repräsentierten die vier Tierkreiseichen, zumindest nach der Symbolik der florentinischen Kirche San Mineato al Monte. Markus der Löwe. Matthäus, der geflügelte Mensch, also der Wassermann. Lukas, der Stier und Johannes, der Adler. Der Adler des Skorpions, das einzige von zwölf Sternkreiszeichen, das zwei Symbole hat. Einen Adler und einen Skorpion. Es waren unverkennbar die Zeichen des Evangelisten Johannes.

Eine wohltuende Wärme überkam ihn. Selbstzufrieden räkelte sich David auf der Bank und streckte seine Arme aus.

Was gab es Schöneres, als den Dingen ihr Geheimnis zu entlocken?

Er fasste alles zusammen: Dem Äußeren nach entsprach der Gegenstand also einer religiösen Reliquie, die in einem Bezug zum Evangelisten Johannes stand. Die Silbereinfassung schätzte er auf höchstens zehn Jahre. David schabte ein wenig an dem Mittelstück, das wie ein kleiner, durch die Sonne ausgetrockneter grober Splitter eines Treibholzes aussah. Nein, nein, es gab keinen Zweifel: Das Mittelstück war ein Knochen. Und wenn ihn nicht alles täuschte, handelte es sich hierbei um einen menschlichen Knochen. David schloss erneut die Augen und ging systematisch das menschliche Skelett von oben nach unten durch. Scheitelbein, Schläfenknochen, Halswirbel, Atlas, vorderer und hinterer Höcker, Schlüsselbein und Schulterblatt, Elle und Speiche, Finger, Mittelhand und Handwurzel, Brustbein und Rippe, Kreuzbein, Darmbein, Schambein und Sitzbein, Oberschenkel, Knie und Unterschenkel, Fersenbein, Sprungbein, Grundglied und Endglied.

Er war sicher: Mittelhand, mit aller größter Wahrscheinlichkeit handelte es sich hierbei um einen Mittelhandknochen. David Engel hatte seine eigene Methode, um einen Knochen zu definieren. Er legte das in Silber eingefasste Mittelstück auf seine Hand und ging Finger für Finger durch. Von der Größe seiner eigenen Hand zu schließen, handelte es sich um den Mittelknochen des Zeigefingers der rechten Hand. Er steckte den Talisman zurück in seine Tasche. Den ersten Zauber hatte er ihm bereits entlockt, den Rest würde er wahrscheinlich in einer Nacht am Computer klären. Nur eine Sache beschäftigte ihn dennoch, er hatte den Fetisch schon einmal gesehen. Nur wo? vielleicht in einer anderen Form. Aber das Grundmuster: rote Samtschnur, silberne Einfassung und Knochen waren identisch. Nur, warum hatte es ihn damals nicht interessiert?

Wenn es in einem Museum war, würde er es über das Internet herausbekommen. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Kirche. In einem Gotteshaus waren Reliquien nichts Außergewöhnliches. Da wäre auch er ohne weiteres daran vorbeigegangen.

Als David nach mehr als zwei Stunden, die Sonne war inzwischen hinter den Baumzipfeln verschwunden, unten den Kiesweg betrat, um zur Villa zu gelangen, kam ihm nach etwa hundert Metern ein schwarzer Pullmann entgegen. Fast auf gleicher Höhe verlangsamte der Wagen seine Fahrt und fuhr im Schritttempo an ihm vorbei. David blickte zur Seite, konnte aber im Inneren nichts erkennen, da die Fenster mit grauen Gardinen zugezogen waren.

Irgendwas aber schoss in diesem Moment durch seinen Körper, der sofort in eine sonderbare Erregung geriet. Lange war David sich nicht mehr so nahe gewesen wie in diesem Augenblick. Starr vor diesem ihn überkommenden nicht benennbaren Gefühl, drehte er sich erst um, als er das Autokennzeichen nicht mehr lesen konnte. Nur eines konnte er nach dieser seltsamen Begegnung mit Sicherheit sagen: Ein ausländisches dunkles Nummernschild gesehen zu haben.

Die kleinen weißen Kieselsteine knirschten unter seinen Füßen. So war es jetzt, so war es immer gewesen. Seit seinem zwölften Lebensjahr, dem Beginn seiner Internatszeit, derselbe Weg, dasselbe Gefühl. Vor ihm lag der gotische Vorbau des Eingangsportals, die Tür in Eiche und Schmiedeeisern verziert. Im oberen Drittel das bierfarbene Butzenfenster mit Gitter davor. Auf dem Vordach an beiden Seiten die Regenspeier in Form kleiner Drachen - die wenn ein Gewitter über den See niederbrach - recht gespenstisch aussahen und im kurzen, hellen Schein der Blitze bizarre Schatten auf Weg und Rasen warfen. Wie das Mausoleum eines Fabrikanten aus der Gründerzeit sah der Eingangsbereich aus, wenn man sich das Haus wegdachte. Es gab Zeiten, da hatte er sich nicht nur das Haus, den See, nein sein ganzes Leben einfach weggewünscht.

Ehe David läuten konnte, wurde ihm die Tür bereits geöffnet. In einem langen schwarzen Gewand, die Haare mit einem Stirnband zusammengehalten, stand die Hausherrin selbst vor ihm. In einer Hand hielt sie eine lange silberne Zigarettenspitze, in der anderen einen fast leeren großen Cognacschwenker und starrte ihn mit schwarz geschminkten Augen an.

Irgendetwas war anders als sonst. Nicht, dass es David in all den Jahren verborgen geblieben wäre, dass seine Mutter trank und rauchte, - es aber vor seinen Augen zu tun, und das auch noch an der Eingangstür, war neu. Die Mutter drehte sich auf der Stelle um und schwebte zurück in die große Eingangshalle, die einem Rittersaal glich. David folgte ihr, ohne ein Wort der Begrüßung mit ihr gewechselt zu haben. Aline hatte angerufen, dessen war er sich sicher. Aus ihrer Sicht schien es verständlich, dass sie die Dinge ein für alle mal klären wollte.

David stellte sein Gepäck neben die Rüstung eines Johanniterkreuzritters und folgte seiner Mutter in den Salon.

„Es ändert sich ja nichts. Die Kinder werden dich sicher besuchen.“

„Alles wird sich ändern“, krächzte die Mutter, „ich werde das Anwesen verkaufen!“

David reagierte darauf nicht sonderlich erstaunt. Es war nicht das erste Mal, dass die Mutter die Villa am See verkaufen wollte. Irgendeine Hassliebe verband sie mit alldem hier. Für ihn war es ohnehin verwunderlich, dass sie in den letzten Jahren das Anwesen immer mehr der komfortablen Stadtwohnung in Hamburg vorgezogen hatte.

Im Kamin loderten die Flammen. Ein ganzer Papierstapel war offensichtlich erst vor kurzem in den unersättlichen Schlund des Feuers geworfen worden. Kleine Rußflocken und gewellte wie Kohlepapier aussehende Klumpen zeugten am Rand des Kamins davon. Am anderen Ende des Raumes stand der mannshohe stählerne Tresor einer englischen Firma aus dem Jahre 1924 offen. Außer ein paar Schatullen und Samtschobern war aus dem Inneren alles ausgeräumt worden.

„Willst du auch was trinken, dann bedien’ dich. Das Personal hat heute frei“, sagte die Mutter müde.

David ging an die Anrichte und wählte aus den unzähligen Kristallflaschen einen Brandy aus.

Längst hatte sich die Hausherrin in eins der schweren Ledersofas fallen lassen und starrte wie in Trance in die lodernden Flammen des Kamins.

David war froh, dass er nicht zu reden brauchte und seine Mutter keine Fragen stellte. Er würde noch ein, zwei Brandies trinken und dann früh zu Bett gehen.

Sein Blick konzentrierte sich auf den geöffneten Tresor. In Gedanken sah er die alten Ordner, deren gelbe Rücken mit lateinischen Zahlen nummeriert waren und die großen dicken Briefumschläge, die an einer roten Kordel ein Wachssiegel trugen. All das war jetzt verschwunden, wohl in den Flammen. David dachte daran, wie er als Kind das ganze Haus systematisch durchforscht und so manches Geheimnis entdeckt hatte. So auch die geheimen Räume im Keller, wo der Vater ein zweites Fotolabor und ein gewaltiges Bilder- und Dokumentenarchiv unterhalten hatte. Bis heute hatte er mit niemanden über seine Entdeckung gesprochen.

David stand auf und legte Holz nach. Wie ein Taschenspieler steckte er dabei unbemerkt den kleinen unversehrten Rest eines verkohlten Blatt Papiers ein.

„Du hattest Besuch“, begann er den Versuch einer Unterhaltung.

„Es hört eben nie auf“, murmelte die Mutter und steckte sich eine Zigarette in die silberne Spitze. Fast automatisch fiel sein Blick in den Aschenbecher, in dem vier Zigarettenstummel lagen. Die drei mit dem markanten Goldring ordnete er seiner Mutter zu. Die vierte war filterlos. Erneut stand David auf, nahm den schweren Messingteller vom Tisch und warf die Stummel in das Feuer. Dass es nur drei waren, die er entsorgte, konnte die Mutter von ihrem Platz aus nicht erkennen. Es beunruhigte ihn ein wenig, diesen kläglichen Rest einer Zigarette nicht auf der Stelle untersuchen zu können. So setzte er sich wieder hin, starrte durch sein halbleeres Brandyglas in die Flammen des Kaminfeuers und lauschte dem dumpfen beruhigenden Ton des Pendels der alten Standuhr.

Ein Kälteschauer weckte David aus einem schwarzen Nichts. Im Kamin war das Feuer längst erloschen. Nur die unteren, größeren Holzscheite glühten noch. Das flimmernde Rot versetzte den Raum in einen sonderbaren Zustand. Der mannshohe Tresor war verschlossen und der Vorhang davor halb zugezogen. Der Tisch mit Mutters Glas und Aschenbecher war abgeräumt. Schwerfällig richtete sich David auf. Er fror am ganzen Körper, und es gab kaum eine Körperpartie, die nicht schmerzte. So schleppte er sich mühsam im Halbdunklen über die breite Stiege hinauf in den zweiten Stock, wo er am Ende des Ganges sein Zimmer hatte.

Joseph

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