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Joseph Huftreter wird getauft

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In der kleinen Wehrkirche, die erhöht auf einem nackten Felsen im Zentrum des Bergdorfes steht, ist es bitterkalt. Der ehrwürdige Pfarrer Ignatius Sebastian von Tamm sitzt in seinem weißen Untergewand auf einer schmucklosen Holzbank und versucht, innere Ruhe zu finden. Schließlich muss er heute ein Kind taufen, das in Sünde entstanden ist. In jedem anderen Fall hätte er dies naturgemäß verweigert, aber wie ihm der Landarzt und designierte Landtagsabgeordnete Dr. Julius Holzer in einem vertraulichen Gespräch mitgeteilt hat, ist dem neuen Erdenbürger nur ein kurzes Leben beschert. Dann ist es schon besser, wenn er als Christenmensch vor den Thron des allmächtigen Herrn tritt. Nur ungern erinnert er sich daran, wie ihn die beiden Huftreter Schwestern mit Steinen und der Androhung den Hund von der Kette zu nehmen vom Hof gejagt haben, nachdem ihr Vater gestorben war. Jetzt liegt die arme Seele des alten Huftreter mit gebrochenen Knochen am äußersten Rand des Gottesackers direkt neben dem Gebeinhaus, und irgendwo oben auf dem Huftreteranwesen seine älteste Tochter Maria Magdalena, verscharrt wie ein Hundeknochen in ungeweihter Erde. Der Landarzt hat ihm das glücklicherweise gebeichtet. So obliegt beiden durch ihre gebotene Schweigepflicht zumindest nicht die unangenehme Aufgabe, irgendeine Aufsichtsbehörde zu benachrichtigen.

„Umso näher die Menschen dem Herrn, desto gottloser sind sie“, so sein Bischof vor mehr als zwanzig Jahren, als er hier in den Bergen seine Stelle angetreten hat. In tiefster Demut all die Jahre ertragen. Seit zwei Jahren aber friert er. Eine unheimliche Kälte hat sich in seinem Inneren breit gemacht. Eine Kälte, die ihn von Tag zu Tag immer mehr in Beschlag nimmt.

Knarrend öffnet sich die Sakristeitür. Der zwölfjährige Martin, jüngster Sohn des Gemeindebediensteten, steht im Eingang und klopft sich den Schnee von der väterlichen Kotze. Im weißen Untergewand kniet der Pfarrer vor dem dunklen Sakristeischrank, der von einem silbernen Heiland, einem Geschenk, derer von Tamm, zur Primiz, überragt wird.

Der Pfarrer ist ein Heiliger, dessen ist sich der Martin sicher. Ihm gehorcht er blind, ihm will er nachfolgen. Nach Ostern wird er seine Schulausbildung in einem Jesuitenkloster fortsetzen. Bis dahin will er fleißig Lateinvokabeln lernen, hat er sich geschworen. Er wird der erste in der Familie sein, der studieren darf. Das alles hat er dem Pfarrer zu verdanken, zu dem er sich jetzt auf den kalten Steinboden niederkniet, um ihm im Gebet noch näher zu sein.

Unterdessen machen sich oben, fast am Scheitel des Berges, alle auf dem Huftreterhof reisefertig. Der Schnee ist in den letzten zwei Tagen so stark gefallen, dass Elisabeth den großen Schlitten aus der Scheune geholt und den Klepper davor eingespannt hat. Der Gundi hat sie die Festtracht ihrer verstorbenen Schwester umgenäht und dem Kleinen das Taufkleid ihres Vaters angezogen. Doch, heute können sie sich alle wirklich sehen lassen. In einen Korb packt sie ein paar leere Milchfläschchen, über die sie eine Decke legt. Vor der Taufe muss sie, wie jeden Tag, noch schnell bei der Müllegger vorbei. Die hat fast zur selben Zeit ein Kind entbunden, und in ihren großen Brüsten steckt zum Glück so viel Milch, dass es für zwei Kinder reicht. Elisabeth hält es für ein gutes Omen, dass heute in der Früh bei ihr endlich die Blutungen, eine Folge der unauslöschlichen Nacht, aufgehört haben. Sie wird sehr stark sein müssen, das weiß sie. Das ganze Dorf wird auf den Beinen sein. Seit Tagen zerreißen sie sich unten das Maul über sie und überlegen, wer wohl aus ihren Reihen der Vater des zu taufenden Kindes sein könnte. Dass niemand von ihnen ihrer Schwester, der Maria Magdalena, eine Träne nachgeweint hat, das weiß sie. Das war schon bei ihrem Vater so und wird, wenn es denn an der Zeit ist, bei ihr nicht anders sein.

Der Kirchenwirt reibt sich die Hände und zählt draußen auf dem bitterkalten Häusl das Geld, das ihm vorhin der Landarzt Dr. Holzer in einem Umschlag zugesteckt hat. Im Voraus hat er alles bezahlt, die ganze Pauschale. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er ihn glatt für den Vater des Täuflings halten. Das schlechte Gewissen wird ihn plagen und Wut um den missratenen Sohn, der ihn jetzt eine Stange Geld gekostet hat. Den Betrag, ohnehin nur ein überhöhtes Phantasieprodukt des Wirtes, hat er auch noch aufgerundet. Sorgfältig steckt der den dicken Umschlag zurück in seinen Trachtenrock. Am späten Abend wird er das Geld in ein sicheres Versteck bringen. Die Frau muss nicht alles wissen.

Gut gelaunt schreitet der Kirchenwirt durch den tiefen Schnee über den Hof, wo bald die Remise der Poststation stehen wird, und betritt von außen die Küche. Wie ein Feldherr schreitet er die brodelnden Töpfe ab, in denen Suppe, Erdäpfel, Wurzelgemüse und Tafelspitz schwimmen. Seit zwei Tagen bereitet seine Frau mit zwei Aushilfen alles für die Taufe vor. Er selbst ist zudem günstig an ein paar Fässer Bier gekommen, die mehrere Tage Frost abbekommen haben. Zu später Stunde, wenn ohnehin niemand mehr etwas wahrnimmt, wird er es seinen angesoffenen Gästen unter Zusatz von ein wenig Sodawasser kredenzen.

Das zweiundsechziger Jahr hat ohnehin schlecht genug begonnen. Fast alle im Dorf, die Geld haben, besitzen jetzt ein Auto und fahren am Wochenende in die Stadt. Und die anderen kleben an ihrer Halben oder einem Achtel Wein wie die Fliegen auf dem Häusl. Nein, nein, in diesen Zeiten muss jeder selbst schauen, wo er bleibt.

In der noch nicht geheizten Wirtsstube sitzt ein einziger Gast. Seine dritte Halbe ist schon wieder leer und er brüllt nach der Bedienung.

„Komm ja schon, komm ja schon“, antwortet ihm der Kirchenwirt.

Ohne das Glas zu spülen, nimmt er die leere Halbe und füllt sie erneut.

„Weißt schon, dass der Bub meinen Namen bekommt? Im Grunde bin ja ich der eigentliche Pate. Da kann sich der Lackel von Holzer noch so aufspielen wie er will!“

„Ist schon recht“, sagt der Kirchenwirt und stellt dem Schäfer Josef, dem Bestatter und Schreiner des Ortes, eine frische Halbe hin.

Naturgemäß kassiert er das Geld sofort, denn die Tauffeier hat noch nicht begonnen. Zudem weiß man bei solch einem Trunkenbold, wie der Josef einer ist, ohnehin nicht, an was er sich später noch erinnern kann.

Elisabeth führt den Schlitten langsam den Berg hinunter. Hochkonzentriert und die Muskeln angespannt, achtet sie darauf, dass der Abstand zwischen Schlitten und Pferd derselbe bleibt. Kommen die Kufen erst einmal ins Rutschen, ist das schwere Ungetüm nicht mehr zu halten.

„Wie Weihnaaacht, wie Weihnaaacht“, ruft auf dem Bock die Gundi lallend in den weißen Wald und klatscht vor Freude in die Hände. Um ihr Kinn haben sich dünne Eiszapfen aus Spucke gebildet. Immer wieder schaut Elisabeth in das dicke Bündel aus Decken, aus dem nur der große, lang gezogene Kopf des Neugeborenen herauslugt, dem sein erster Ausflug in die Welt nichts auszumachen scheint.

Der Pfarrer hat seine Gebete beendet. Seine Lederschuhe knarren beim Aufstehen. Es hat nichts genützt, er ist immer noch da. Ein rührendes Bild, wie der kleine Martin auf dem kalten Steinboden vor dem silbernen Heiland kniet. Ein Gefühl ergreift ihn, das er nicht mehr zulassen darf. Eine nicht kontrollierbare Regung, die seit dem letzten Sommer, als er mit seinen Messdienern draußen am See schwimmen gewesen ist, immer wieder in heftigen Hitzeschüben über ihn kommt.

„Komm Junge, steh auf, es ist an der Zeit“, flüstert der Pfarrer mit weicher Stimme und streichelt dem Martin über sein Haar.

„Ich habe schwere Sünde getan“, antwortet ihm der Junge und neigt seinen Kopf verschämt zu Boden, „mein Vater hat meinen Bruder, den Johann, fast zu Tode geprügelt, und ich habe dabei große Freude empfunden.“

Der Johann ist dem Pfarrer ohnehin ein Dorn im Auge. Ein Halbstarker ohne Manieren, Anstand und Moral. Sicher, auch er ist einmal Messdiener gewesen und dem Martin nicht unähnlich. Aber jetzt raucht und trinkt er in aller Öffentlichkeit, zieht alles in den Schmutz und verbreitet mit seinem alten Wehrmachtmotorrad im Ort nur einen Lärm, der unerträglich ist.

„Ist schon gut“, murmelt der Pfarrer und zieht den Kopf des Jungen an seinen Schoß. So verharren beide, der eine in heiliger Andacht, der andere in sündiger Wollust.

Elisabeth kann vom Bock des Schlittens schon die ersten Dächer des Dorfes erblicken. Der gefährlichste Teil des Weges liegt hinter ihnen. Gundi hat das Bündel mit dem Kleinkind auf ihren Schoß genommen. Und so schaut der Junge zum ersten Mal auf das karge Bergdorf, das eingebettet zwischen den Bergen liegt. Es scheint ihm zu gefallen, denn ein vergnügtes Lächeln überzieht sein unförmiges kleines Gesicht.

Dem kleinen Martin hingegen steht Schweiß auf der Stirn. Sein Kopf ist purpurrot und glüht, so müht er sich ab mit dem rauen Hanfseil, an dem er sich mit beiden Händen festklammert, um die große Glocke, die zwanzig Meter über ihm hängt, in Schwingung zu bringen. Der Pfarrer steht unterdessen am Sakristeibecken und wäscht sich zum wiederholten Mal die Hände. So voller Sünde, wie er ist, ist an ein Gebet nicht zu denken.

Im Gemeindeamt, wo die Familie Ganser das obere Stockwerk bewohnt, machen sich alle, bis auf die Großmutter, die seit Jahren ans Bett gefesselt ist, für die Heilige Messe fertig. Zu siebt bewohnen sie drei Zimmer und demgemäß herrscht ein unruhiges Treiben auf dem Flur. Immer wieder wird nach der Mutter gerufen, deren Aufgabe es ist, die Familie im guten Glanz erscheinen zu lassen. Allen Familien im Dorf geht es so, denn fast jede fühlt sich wegen der Nacht des 17. Februars verpflichtet, der Taufe beizuwohnen. Auch die Väter haben neben Dr. Holzer einen kleinen Brief bekommen. Geschrieben auf einer alten Schreibmaschine mit blassen unsauberen und hüpfenden Buchstaben. Auch in ihren Exemplaren war eine Schwarzweißfotografie des ältesten Zöglings beigelegt, wie er sich an der Huftreterin vergeht. Naturgemäß haben sie die unschöne Sache für sich behalten. Die Bestrafung des ältesten Nichtsnutzes erfolgte meist ohne Worte und wurde von den Delinquenten ohne mit der Wimper zu zucken und mit einem inneren Grinsen entgegengenommen.

Als hätten sie sich verabredet, verlassen die Familien des Ortes gleichzeitig ihre Häuser und betreten die Straße. Die Männer heben ihre Hüte, die Frauen nicken einander zu, und die Kinder ziehen hinter den Rücken der Erwachsenen Grimassen. So strömen die Menschen aus allen Richtungen zusammen und begeben sich zur alten Wehrkirche, die seit ewigen Zeiten über sie wacht.

Drei weitere Kinder sind mittlerweile in der Sakristei eingetroffen und helfen dem Pfarrer unter Anleitung des kleinen Martin in sein Messgewand. Aus der Kirche dringt Orgelmusik zu ihnen herein. Der Dorfschullehrer versucht, sich warm zu spielen, was äußerst schwierig ist. Obwohl seine Hände bis zu den Fingerkuppen in dicken Handschuhen stecken, sind sie steif vor Kälte. Er versucht an etwas Schönes zu denken, aber immer wieder taucht vor seinen stark bebrillten trüben Augen diese unsägliche Schwarzweißfotografie des einzigen Sohnes auf. Hat er dafür am Salzburger Konservatorium Musik studiert, um dann hier zu enden? Sein ganzes Leben stößt ihm auf, als hätte er einen ganzen Korb gegorenes Obst gegessen. Fugenlos müsste man sein, denkt er und spielt seinen hassgeliebten Bach. Zumindest versucht er es auf der rostigen verstimmten Orgel.

Im Schritttempo fährt Dr. Holzer mit seinem Wagen an den Dorfbewohnern vorbei. Seinen unsäglichen Sohn Barnabas hat er schon einen Tag zuvor zu seinem Bruder in die Stadt gefahren. Hinten auf der Rückbank liegen drei weiße Lilien, die ihn um diese Jahreszeit ein kleines Vermögen gekostet haben. Sie sind für seine Frau bestimmt, die vor mehr als fünf Jahren unterhalb der alten Wehrkirche auf dem Friedhof ihre letzte Ruhe gefunden hat. Vor einem großen Schneehaufen bringt er den Wagen zum Stehen. Er zündet sich eine Zigarette an und geht noch einmal, wie in den letzten schlaflosen Nächten auch, den Tag durch. Sein Plan scheint nicht nur perfekt, er ist es auch. So steigt er zufrieden aus dem Auto, öffnet den Kofferraum und schaut auf sein Taufgeschenk, einen Kinderwagen, der in dieser Luxusausführung nur in der Stadt zu bekommen ist. Letzte Nacht hat er die Kugellager der Räder mit Waffenöl geschmiert und die Gummireifen angeraut. Er schließt den Wagendeckel und geht mit den weißen, in Zeitung eingeschlagenen Lilien zum Grab seiner Frau. Ohne den Schnee wegzuwischen, entfernt er das Papier und legt die Blumen ab. Da hört er ein Klirren und Knarren, gemischt mit dem Geschnaufe eines alten Kleppers, das sich langsam aber stetig dem Friedhof nähert.

Elisabeth springt vom Bock und ist erleichtert, dass außer dem Wagen des Landarztes noch niemand aus der Dorfgemeinschaft die alte Wehrkirche erreicht hat. Vorsichtig nimmt die Gundi das Bündel mit dem Säugling vom Schlitten. Immerhin ist sie die Taufpatin, auch wenn sie nicht genau weiß, was das ist.

Eine steile holzüberdachte Stiege führt hinauf zur Kirche. Die erste Stufe ist noch nicht genommen, da fängt das Baby aus voller Brust an zu schreien. Purpurrot läuft es an, als ob es irgendetwas verschluckt hätte. Mit großen Augen und offenem Mund ringt es nach Luft. Entsetzen steht in dem eben noch so ruhigen Gesicht geschrieben. Vor Schreck hätte die Gundi das Bündel fast fallengelassen, aber die starken Hände des Landarztes übernehmen den Täufling sicher.

Keine fünf Monate gibt Dr. Holzer dem Kleinen. Neben den Schädeldeformierungen und der Diabetes ist mittlerweile wohl auch ein Asthmaleiden hinzugekommen. Ganz abgesehen vom angeborenen Herzfehler des Kleinen. Obwohl das Kind wie der Teufel schreit, ist sein Puls so schwach, dass er ihn kaum fühlen kann. Elisabeth übernimmt den angenommenen Sohn als drittes, aber auch das bringt keine Veränderung. Im Gegenteil, das Baby mobilisiert alle seine Reserven, um noch lauter schreien zu können. Es scheint, als hätte es vor irgendetwas unerklärliche Angst.

Während zwei der Ministranten die Silberschiffchen mit Weihrauch füllen, legt Martin mit dem dritten Jungen glühende Holzkohle in die beiden Weihrauchkessel. Er muss sich beeilen, denn im Tabernakel des barocken kleinen Hochaltars müssen die Hostien noch aufgefüllt werden. Ein kräftiges Kindergeschrei versucht im Kircheninneren, mit der Orgel in Konkurrenz zu treten. Was letztendlich auch gelingt. Entnervt nimmt der Dorfschullehrer seine schwere Brille von der Nase und reibt sich seine triefenden Augen. Jetzt gehört die Akustik ganz allein dem Kleinkind. Und so brüllt es weiter, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter ihm her.

Martin hebt den Ministrantenrock und huscht aus der Sakristei. Im Seitenschiff, direkt am Taufbecken, sitzt Elisabeth Huftreter mit der Gundi, die ein Bündel auf dem Schoß hält. Neben ihnen Dr. Holzer, der Landarzt. Mit so einem schreienden Kleinkind kann der Pfarrer unmöglich die Heilige Messe eröffnen, denkt Martin und stellt seinen Auftrag hinten an. Schnellen Schrittes begibt er sich in Richtung Taufbecken. Und so steht der kleine Martin, in seinen Händen die goldene Schatulle mit den Hostien, das erste Mal vor dem Neugeborenen. Ein Sonnenstrahl bricht durch eines der bleiverglasten Kirchenfenster, erleuchtet den Evangelisten Johannes, trifft das runde goldene Etui und lenkt das kegelförmige Licht auf das gespenstische Antlitz des Täuflings. Vollkommen entrückt schaut der kleine Martin in das Gesicht des Babies. So nah ist er noch nie jemanden gewesen. Obwohl es bitter kalt ist in der alten Wehrkirche, durchflutet den Ministranten eine ungeheure Wärme. Mit einem Mal ist er nicht mehr zehn Jahre alt, sondern glaubt, das Universum zu begreifen. Noch nie zuvor in seinem Leben hat ihn so jemand wie der in Decken eingewickelte Kleine, angelächelt. Das Baby hat beim ersten Sonnenstrahl, der auf seine Nase zielt, aufgehört zu schreien. Es hat einen Verbündeten auf dieser ihm noch fremden Welt, das spürt es, während es den Messdiener studiert.

Nach dieser Begegnung betritt Martin als anderer Mensch die Sakristei und fängt von dem ehrwürdigen Pfarrer von Tamm eine Backpfeife, die sich gewaschen hat. Er selbst wird sich diese Reaktion bis zu seinem Tod nicht erklären können. Aber das Gefühl, den so sehr geliebten Jungen in diesem Moment für immer verloren zu haben, hat ihn bis zum Schluss nicht mehr losgelassen.

„Und so taufe ich Dich im Namen des Herrn auf die Namen Joseph Nepomuk Baptist Huftreter“, verkündet der Dorfpfarrer, wobei er bei dem letzten Vornamen mehrfach ins Stocken gerät. Das Kind ist freundlich, denkt er, es kann nichts dafür, dass es aus einer gottlosen Familie stammt. Es lächelt immerzu, ist voller Zuversicht. Selig sind die Kinder des Herrn, seufzt der Pfarrer innerlich und versucht mit aller Kraft nicht weiter zu denken. Gundi, die Taufpatin sabbert vor Freude in das Taufbecken und ist auch ansonsten kurz davor, alles laufen zu lassen. Für sie ist es ein schönes, prickelndes Gefühl, wenn der warme Urin an ihren Beinen herunterläuft.

Auch Elisabeth glaubt, dass heute ein ganz besonderer Tag ist. Vorne neben dem Taufbecken bekommt sie mit, wie sich plötzlich alle Fenster in der Kirche durch die eindringende Wintersonne erhellen. Urplötzlich, - vielleicht hervorgerufen durch das helle Farbenspiel, - glaubt sie, in einem imaginären Seitenschiff ihre gerade verstorbene Schwester Maria Magdalena zu erkennen. Gekleidet in ein festliches Ornat, lächelt sie zu ihnen herüber und gibt auch ihren Segen noch dazu.

Für den Pfarrer hingegen ist diese Feier ein Albtraum. Soviel unwertes Leben hat in seiner ganzen Amtszeit noch nicht um sein Taufbecken gestanden. Blasphemie, denkt er empört.

Feierlich läuten die Kirchenglocken und hallen in den Bergen nach.

Der Kirchenwirt legt selbst letzte Hand in der Küche an, indem er, die Suppe und die Soßen gegen den Willen seiner fleißigen Frau mit Wasser verdünnt. Er hat das Geschäft seines Lebens gemacht, dessen ist er sich sicher. Damit soll er auch Recht behalten.

Nachdem alle Segen ausgeteilt sind, zieht die Dorfgemeinschaft wie bei einer Prozession durch den kleinen Bergort. Diesmal folgen sie nicht dem Gekreuzigten, sondern dem Wagen des Landarztes, in dem auch der Täufling, Elisabeth und Gundi sitzen.

Als der Schreiner und Totengräber – um zwei Bier erleichtert – aber immer noch vollkommen betrunken vom Häusl zurücktorkelt, ist der kleine Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Tische sind, wie es auch bei Hochzeiten üblich ist, in Hufeisenform aufgestellt. Am Kopfende sitzen Elisabeth und die Gundi in der Mitte, ihnen gegenüber der Landarzt Dr. Holzer. Und im neuen Kinderwagen, den alle gebärfähigen Frauen des Ortes neidisch beäugen, thront der Täufling Joseph Nepomuk Baptist Huftreter.

Schnell haben alle Gäste vergessen, aus welchem Anlass man eigentlich zusammengekommen ist. Gierige Augen, glänzende Münder, zielsicher geführte Gabeln fischen große Bratenstücke von den Platten. Mit großen Löffeln werden Kartoffeln und Gemüse geschaufelt. Leere Bierhumpen knallen auf die Tische, dass Frauen und Kinder ihre Wasser- und Limonadengläser festhalten müssen. Derselbe Klatsch, dieselben Anekdoten, Jägerlatein durch Generationen vererbt, macht die Runde. Dieselben Witze, dasselbe Geschnalze, wie bei jedem anderen Dorfgemeinschaftstreffen auch. Alles ist wie sonst. Selbst die eindeutig verfänglichen Schwarzweißfotografien sind bei den Vätern für ein paar Stunden vergessen. So stehen sie gemeinschaftlich in einer Reihe vor der angerosteten Pissrinne und erleichtern sich mit dampfendem Strahl. Der Weg zum Häusl, da wo die Frauen unruhig von einem Bein auf das andere treten, gleicht einer großen Schneepfütze. Grobe Bauernhände klatschen den Bedienungen wie Kühe auf die Hinterteile. Beim Abdecken versucht ein jeder der Männer und Halbwüchsigen einen Blick in den Ausschnitt zu werfen. Kinder kriechen unter den Tischen herum, werfen neugierige Blicke unter die Röcke oder binden Schnürriemen zweier jeweils fremder Schuhe zusammen. Längst hat der Kirchenwirt sein schlechtes Bierfass im Ausschank und ein lüsternes Auge auf die vierzehnjährige, schon voll entwickelte Tochter des Schlachters aus der Nachbargemeinde geworfen, die am heutigen Tag aushilft. Vielleicht ergibt sich ja die Gelegenheit, sie in den Keller zu locken. Es wäre nicht die erste Aushilfe, der er im Halbdunkeln zwischen dem Leergut und den Krötenpfützen den Sinn des Lebens beigebracht hätte.

Zur selben Zeit hat ein Wanderer die Anhöhe erreicht. Er lehnt sich auf seinen Stock und schaut nach unten auf den kleinen Huftreter Hof. Er ist ein paar Tage zu spät dran. Aber manche Dinge haben eben länger gedauert als eingeplant. Er steigt den kleinen schmalen Pfad herab und rutscht immer wieder durch den tiefen Schnee. Dann steht er zwischen Stall und Wohnhaus. Er zündet sich eine Zigarette an und lauscht, aber es sind nur Tiergeräusche aus dem Verschlag unter der Scheune zu hören. Müsste aber nicht ein Kind schreien? Zudem neigt sich der Tag dem Ende zu. Die Kühe müssen gemolken und versorgt werden. Er schaut nach oben, aus dem Kamin steigt nur ein kleiner Rauchkringel, nicht größer als eine Ringelnatter. Der Mann drückt seine Zigarette in den Schnee und klopft mit seinem schweren Wanderstab gegen die Haustür. Aber niemand rührt sich. Der Wanderer tritt seine Schuhe ab und betritt den Flur des Bauernhauses.

„Ist jemand zu Hause? Maria, Elisabeth, Gundi, wo seid ihr?“

Ohne zu bellen kommt der Hund die Treppe herunter, schnuppert an der Kotze und den Bergschuhen und wedelt zur Begrüßung mit dem Schwanz. In der Küche ist niemand und genauso wenig in den oberen Zimmern. Der Mann überlegt, ob er unten warten und den Ofen wieder einheizen soll. Aber irgendetwas stimmt mit dem Hund nicht. Er scharrt an der Tür, - ihn zieht es nach draußen, und er soll ganz offensichtlich mitkommen. So folgt er dem Hund durch den Schnee. Vorbei an dem Unterstand neben der Scheune, wo das Holz gehackt und aufgestapelt ist. Es geht durch eine Schonung junger Tannen, in deren Mitte erst kürzlich gerodet worden ist. Vor einem lang gezogenen Schneehügel bleibt der Hund bellend stehen. Der Wanderer tritt näher heran und entdeckt jetzt auch das kleine eingeschneite Holzkreuz. Er zieht seine Handschuhe aus und wischt den Neuschnee vom Querbalken.

Hier ruht

Maria Magdalena Huftreter

Unten im Tal hat Elisabeth längst die Feier verlassen und sich auf den Weg gemacht, um das Pferd mit dem Schlitten zu holen. Allzu spät möchte sie nicht oben am Berg ankommen. Zudem müssen die Viecher noch versorgt werden.

Der Wanderer ist in die Knie gegangen und streichelt zärtlich den lang gezogenen Schneehügel. Ein verzweifeltes NEIN kommt aus seinem Mund und verteilt sich an den steilen Wänden des Berges.

Besorgt schaut Elisabeth nach oben. Irgendetwas hat sie gehört. Irgendetwas liegt in der Luft, was sie sich nicht erklären kann. Keiner ihrer Peiniger hat sich heute blicken lassen, das erfüllt sie mit Genugtuung. Dennoch, der Tag ist noch nicht zu Ende.

„Kann ich mit dem Joseph ein bisschen spazieren fahren?“ fragt der kleine Martin den Landarzt.

„Warum nicht“, antwortet Dr. Holzer freundlich. Die Reihen im kleinen Saal der Dorfwirtschaft haben sich ohnehin gelichtet. Die meisten Frauen sind schon nach Hause gegangen, um ihren kleinen Viehbestand zu versorgen.

Der Kirchenwirt hat durch einen schnellen Blick in die Küche beruhigend festgestellt, dass seine Frau mit dem Abwasch alle Hände voll zu tun hat. So packt er hinter dem Tresen seine Aushilfe, die schon voll entwickelte Tochter des Schlachters aus der Nachbargemeinde, am Arm und gibt ihr den Auftrag, aus dem Keller neuen Wein zu holen.

„Wie komme ich denn in den Keller?“ fragt die Kleine.

„Das werd’ ich dir schon zeigen“, flüstert der Kirchenwirt ihr so nah ins Ohr, dass sie seinen heißen Atem auf ihrem Hals spürt.

Das alles entgeht dem Blick des Landarztes nicht, der sich zur Seite gedreht hat und sich freundlich mit dem kleinen Martin unterhält. Mit wollüstigem Blick öffnet der Wirt die Klappe zum Keller.

Endlich ist die Zeit gekommen, dass Dr. Holzer handeln kann. Als erstes ruft er der kleinen Aushilfe zu, dass sie ihm ein frisches Bier bringen solle, was zur Folge hat, dass sie sofort wieder hinter dem Tresen verschwindet, der Wirt sich aufrichtet und verdutzt in den kleinen Saal hineinschaut. Er steht jetzt genau vor der geöffneten Kellerklappe.

„Geh ruhig mit dem Kleinen, die frische Luft wird ihm gut tun“, sagt der Landarzt, und der kleine Martin folgt aufs Wort. Glücklich springt er auf und greift nach dem breiten Griff des Kinderwagens. Wird das ein Spaß draußen im Neuschnee! Aber was ist das? Der jüngste Sohn des Gemeindebediensteten erhält einen kräftigen Schlag auf seinen Rücken, dass ihm die Luft weg bleibt. Er stolpert nach vorne, spürt an seinen Füßen einen Widerstand, worauf er mit seinen Händen dem Kinderwagen noch einen heftigen Stoß versetzt, bevor er mit rudernden Armen der Länge nach auf den staubigen Holzboden fällt. So sieht der kleine Martin aus der Perspektive der angerauten Gummiräder, wie der Wagen an Fahrt gewinnt, den verdutzten Kirchenwirt überfährt und mit ihm in die Tiefe des Kellers stürzt.

Der Landarzt hat der Szenerie längst den Rücken gekehrt und wartet darauf, was kommen wird, denn die Anwesenden im Saal haben so gut wie nichts mitbekommen. Sie sind wein- und bierselig und erzählen sich, wie bei jedem anderen Dorffest auch, dieselben Geschichten. Erst als der kleine Martin mit blutender Nase beginnt, ohrenbetäubend zu schreien, unterbrechen sie ihr Ritual und registrieren mit großen dumpfen Augen, dass irgendetwas passiert sein muss. Die kleine Aushilfe aus dem Nachbardorf hat den Mund offen und mit ihm auch den Zapfhahn, aus dem das umgekommene schale Bier auf den bereits völlig verklebten Tresenboden plätschert, denn soeben ist ihr Chef zusammen mit Kinderwagen und Täufling im dunklen Kellerloch verschwunden.

Joseph

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