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I.

Margret (Peggy)

Mary Walsh

* * *

Überleben

Auf einer Leinwand zu malen oder zu zeichnen,

ist wie gefrorene Musik.

Wie könnte ich nicht mit meiner Mom beginnen? Sie war keine Musikerin – nur eine Naturgewalt, deren Leben sich fast über das gesamte 20. Jahrhundert erstreckte. Mein Dad war sehr ruhig, meine Mom nicht. Sie liebte Musik so sehr, dass sie mir erlaubte, mein Schlagzeug im Wohnzimmer aufzubauen und in lärmender Lautstärke darauf zu spielen. Der Musikgeschmack meiner Eltern war eher eklektisch. Manchmal war die Musik gut, zum Beispiel die von Beethoven, manchmal aber auch nicht nicht, etwa die von Mantovani.

Margaret Marys zentrales Thema war es, zu überleben. Es glich einem musikalischen Leitmotiv, das sich durch ihr ganzes Leben zog. Sie hatte vier Geschwister, doch verlor sie schon in jungen Jahren zwei davon, ihre beiden älteren Schwestern. Eine schmerzvolle Erfahrung. Diese beiden Todesfälle als Jugendliche, die gerade einmal das Teenageralter erreicht hatten, verarbeiten zu müssen, hat sie sicherlich bis ins Innerste erschüttert. Wie es mein Cousin Jim einmal so treffend ausgedrückt hat: „Vom Tod ihrer Schwester May zu erfahren, hat vielleicht dazu geführt, dass deine Mom die entstandene Lücke mit Quasseln ausfüllen wollte.“

Sie überwand all ihre Sorgen mithilfe der Malerei. Auf einer Leinwand zu malen oder zu zeichnen, ist wie eingefrorene Musik. Zwischen den Bildern eröffnen sich Freiräume, wie sie auch zwischen den Tönen in der Musik existieren. Nachdem sie ihren Abschluss am Chouinard Art Institute in Los Angeles gemacht hatte, war Peggy Margaret schier besessen davon, der leeren Leinwand Leben einzuhauchen. Sie signierte alle ihre Arbeiten mit „Margret“. Sie verzichtete auf das zweite „a“, um ihrem Namen etwas Einzigartiges zu verleihen. Sie hatte eine gute Hand für figurative Darstellungen, entdeckte jedoch irgendwann ihre Vorliebe für das

Abstrakte.

Ich war nicht der allergrößte Fan ihrer Kunst, doch mir war klar, dass sie ihr das Leben gerettet hatte. Als Dad das Zeitliche segnete, vermutete ich, dass Mom nach 40 Jahren Ehe ihm schon bald nachfolgen würde. Das tat sie nicht. Stattdessen blühte sie auf. „Wann immer ich Schmerz empfinde, male ich“, pflegte sie zu sagen. Ich verstand die meisten ihrer Gemälde nicht, aber ich verstand die Gabe, die ihr durch sie zuteilwurde: Das Malen hielt die Zeit auf. Und die Malerei war ihre wahre Religion. Sie gedieh bis ins hohe Alter von 94 Jahren. Dann legte sie den Pinsel weg und starb.

Ich kann nur hoffen, dass ich von ihr ein paar dieser Überlebens-Gene geerbt habe. Sie liebte Musik und ermöglichte es mir, Klavierunterricht zu nehmen, als ich acht Jahre alt war. Peggy Margret ermutigte mich zum Üben. Sie drohte mir sogar, die Stunden zu streichen, wenn ich nicht noch mehr übte. Ich liebte das Klavier. So fand ich etwa großen Gefallen an Arpeggios. Dabei handelt es sich um Akkorde, bei denen die Einzeltöne in kurzen Abständen angeschlagen werden. Die spielte ich dann stundenlang die Tastatur rauf und runter und stellte mir vor, ich wäre ein Konzertpianist. Da kam dann zumeist meine Mom ins Zimmer und befahl mir, anständig zu üben, weil sonst der Unterricht gestrichen würde. Sie lag ja richtig damit, andererseits war meine Tendenz, gelegentlich in eigene Improvisationen abzudriften, bereits ein Indikator für eine meiner späteren Vorlieben, den Jazz.

Es offenbarte sich ein Gefühl von Freiheit darin, niedergeschriebene Kompositionen zu verändern, wenn man zum Beispiel eine Phrase wiederholte oder eine neue hinzuerfand. Aber zunächst einmal musste ich Tonleitern und die vorgeschriebenen Stücke üben und einstudieren. Irgendwann weiß man intuitiv, wie viel Übung wirklich notwendig ist und wie viel Freiraum man sich zugesteht. Diese Balance ist der Schlüssel, wenn man seine eigene musikalische Einzigartigkeit finden will.

Apropos einzigartig: Ich besaß einen Sittich als Haustier, den ich mitunter aus seinem Käfig herausließ. Er setzte sich dann auf meinen Finger oder meine Schulter. Eines Tages, als Bill gerade von seiner Position auf der Schulter aus mit seinem Schnabel auf meinen Hals einpickte, schlenderte ich hinüber zum Klavier und nahm Platz. Er hatte mich schon in seinem Käfig spielen gehört und auch mitgesungen, wenn ich mir richtig Mühe gab. Dieses Mal wollte ich aber besonders sanft spielen, da er sich nun so nahe am Piano befand. Ich fing an, ein paar Arpeggios in Dur zu klimpern. Dur gilt weithin als ein „positives“ Tongeschlecht. Bill stimmte mit ein. Nach ein paar Minuten hielt ich ihm den Finger hin, damit er von der Schulter dorthin wechseln konnte. Wie üblich nahm er diese Einladung umgehend an. Dann setzte ich ihn vorsichtig auf den weißen Tasten ab und fing erneut an zu spielen, was ihn aber überhaupt nicht zu stören schien.

Dieser Ablauf entwickelte sich zur Gewohnheit. Zusammen genossen wir die sonoren Klänge der 88 Tasten. Manchmal spazierte der Sittich die Tasten hinauf und hinunter. Mitunter schiss mir der Vogel auch auf die Tastatur. Das putzte ich dann sofort weg. Ich hatte keine Lust auf den klebrigen Schmutz. Außerdem wollte ich unter keinen Umständen Margaret Mary verärgern. Vielleicht hätte ich mich noch eingehender mit der musikalischen Seite meines Vogels beschäftigen sollen. Wir hätten in der Ed Sullivan Show auftreten können. Nun ja, später schaffte ich es auch so in ebendiese Unterhaltungssendung – zwar ohne meinen Piepmatz, dafür aber in Begleitung eines schrägen Vogels in schwarzem Leder. Das war damals ein höchst außergewöhnliches Outfit. Jim Morrison hätte wirklich eine finanzielle Beteiligung an dem Modetrend verdient gehabt, den er damals auslöste.

Als wir mit den Doors noch richtige Hungerleider waren, kochte uns meine Mom regelmäßig Spaghetti zum Abendessen. Das war noch, bevor Robby in der Band war. Mein Dad fand unseren Bandnamen bekloppt, aber er war ja auch nicht mit jenem Buch vertraut, dem wir ihn entlehnt hatten, The Doors of Perception von Aldous Huxley [deutscher Titel: Die Pforten der Wahrnehmung]. Er verstand nicht, dass die Idee dahinter darin bestand, seinen Geist zu öffnen – nicht unbedingt mit Drogen, obwohl es in diesem Buch genau darum geht. Es ging auch mit Alkohol. Oder Meditation. Selbst mit Büchern war es möglich.

Ray Manzarek und seine Freundin Dorothy baten immer um einen Nachschlag. Sie verfügten nicht über das Privileg, sich aus dem Kühlschrank von Rays Eltern zu bedienen, die eine Stunde mit dem Auto weiter südlich in Manhattan Beach wohnten. Ich machte mir stets Sorgen, wie Jim sich benehmen würde, aber auch er hatte Hunger, weshalb ein herzlicher Grundtenor herrschte. Wenn ich mich auf die hinteren beiden Beine meines Stuhls zurücklehnte, was ich schon seit Jahren tat, wies mich meine Mutter nicht zurecht, indem sie mir befahl „aufrecht“ zu sitzen. Zumindest nicht in Gegenwart meiner Bandkollegen. Ich besitze diese sechs Stühle samt Esstisch auch heute noch. Einer davon ächzt gewaltig, was daran liegt, dass ich viele Jahre lang darauf herumgeritten bin. Einmal bin ich auch nach hinten umgekippt, was meiner Mom innerlich Genugtuung bereitete. Ich hatte aber nichts daraus gelernt.

Vermutlich vermittelte sie mir das Geschenk der Musik indirekt, indem sie mich in eine katholische Kirche mitschleifte. Dort lauschte ich den Klängen eines durchgeknallten irischen Organisten. Aber auch der Umstand, dass sie zuhause liebend gern Musik hörte, spielte eine Rolle. Wenn wir an der Messe teilnahmen, ließ ich meine Mutter wissen, dass ich den Geruch des Weihrauchs nicht aushielte. Also erlaubte sie mir, hinauf auf die Empore zu steigen, wo sich außer mir niemand hin traute, weil der Klang der Orgel, auf der Mr. K mit der roten Nase spielte, viel zu laut war. Mom sagte, dass er das Lautstärkepedal viel zu großzügig einsetzte. Wenn ich da oben bei ihm saß und Zeuge wurde, wie er das „Ave Maria“ rockte, konnte ich förmlich spüren, wie die tiefen Töne meinen Sitzplatz zum Erbeben brachten. Mein Gehirn vibrierte ebenfalls, was mir den Anflug eines euphorischen Hochgefühls bescherte.

Zuhause gab es entweder abgeschmackte Fahrstuhlmusik oder Beethoven aus der Musiktruhe zu hören. Ich konnte mit beidem etwas anfangen, doch gefiel mir das dramatische Getöse ernsthafter klassischer Musik doch besser. Die Dynamiken – „fortissimo“ und „pianissimo“ – der drei großen Komponisten mit „B“ am Anfang (Bach, Beethoven und Brahms) sollten später auch meine Arbeit als Perkussionist maßgeblich beeinflussen. Diese Art der Musik vermittelte mir meine Mom auch in Form der Klavierstunden. Später profitierte mein Schlagzeugspiel davon, da es dadurch viel musikalischer wurde.

Meine Mom konnte mich unter den Tisch trinken. Ihr Spitzname lautete nicht umsonst „Margarita“. Sie gehörte zu den Martini-Enthusiasten der 1950er, weshalb sie daran gewöhnt war, allabendlich Cocktails zu süffeln. Ich entstammte jener Ära, in der man der Ansicht war, Alkohol sei nur etwas für alte Leute. In den Sixties wurde vielmehr gekifft! Als sie älter wurde, führte ich sie in ihr mexikanisches Lieblingsrestaurant aus, wo sie sich ein paar Margaritas genehmigte. Margret hatte dann definitiv einen sitzen, was sie noch gesprächiger machte. Ich gab es irgendwann auf, mit ihr mitzuhalten. Außerdem war ich ja als ihr Fahrer eingeteilt. Ein Tequila reichte da schon aus, was mich insgesamt auch weniger kostete! Sie liebte die Mariachi-Musiker und verwickelte jeden, der ihr zuhören wollte, in ein Gespräch. Aber auch wenn jemand nicht zuhörte, ließ sie sich kaum bremsen.

Ich erwähnte das ermüdende Geplappere auch in meiner Grabrede und erntete großes Gelächter, als ich betonte, dass es mir unmöglich war, mit der 92-jährigen „Peggy Margarita“ Schritt zu halten. Möge sie in Frieden ruhen – vielleicht gönnt sie sich ja jetzt gemeinsam mit Dad noch einen Schlummertrunk.

Als ich jung war, trieb sie mich mitunter förmlich in den Wahnsinn, aber selbst daran erinnere ich mich heute gerne zurück. Ein paar Tage, bevor sie starb, teilte mir meine Cousine MaryAnn mit, dass ich besser bald die anderthalbstündige Autofahrt hinter mich bringen sollte, um sie noch einmal zu sehen, da sie nun rapide abbaute. Ich sagte ihr, dass ich mich sofort auf den Weg machen würde. Da ich erst ein paar Tage zuvor bei ihr gewesen war, trödelte ich ein bisschen herum. Eine Stunde oder so später brach ich endlich nach Ventura auf. Als ich eintraf, schlief Peggy Margret. Sie war noch nicht auf die andere Seite gewechselt und sollte noch einen Tag länger leben. Allerdings sollte sie nicht mehr aufwachen. Nun wusste ich, dass ich wirklich sofort hätte aufbrechen sollen.

Das Pflegepersonal meinte, dass sie am Vorabend um 3 Uhr morgens noch wach gewesen wäre, weshalb sie an diesem Tag so früh eingeschlafen war. Man hatte ihr ganz offensichtlich mitgeteilt, dass ich kommen würde, da sie mit ihren türkisenen Ohrringen, einer türkisenen Halskette und leicht verschmiertem Lippenstift im Bett lag. Eine 94 Jahre alte Dame, die sich für ihren Sohn immer noch zurechtmachte – dieses Bild wird mir immer in Erinnerung bleiben.

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