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Neuntes Kapitel Der Abend in Richmond

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Inhaltsverzeichnis

Auch andere als Junes und Soames' Augen hatten ›jene Beiden‹ (wie Euphemia sie bereits zu nennen begann) aus dem Wintergarten kommen sehen, und andere Augen hatten auch den Ausdruck in Bosinneys Gesicht bemerkt.

Es gibt Momente wo die Natur eine Leidenschaft offenbart, die sich sonst unter der sorglosen Ruhe ihrer gewöhnlichen Stimmungen verbirgt – ein plötzlicher Frühling, der weiß auf Mandelblüten durch die purpurnen Wolken blitzt; ein schneeiger mondheller Gipfel mit einem einzigen Stern droben im sehnsüchtigen Blau; oder gegen die Flammen des Abendrots ein alter Eichenbaum, der als finsterer Hüter eines feurigen Geheimnisses dasteht.

Es gibt auch Momente, wo in einer Bilder-Galerie ein Werk, das als ›*** Titian – besonders bemerkenswert‹ bezeichnet ist, den Widerstand eines Forsyte durchbricht, der vielleicht besser gefrühstückt hat als seine Mitmenschen, und ihn in einer Art von Ekstase gefangen hält. Hier sind Dinge, fühlt er – Dinge die – die eben Dinge sind. Etwas Unüberlegtes, Unvernünftiges überkommt ihn; wenn er versucht, es mit der Gründlichkeit des praktischen Mannes zu erklären, entgleitet, entschlüpft es ihm, wie die Glut des Weines, den er getrunken, sich verliert, und ihn verstimmt zurückläßt und daran mahnt, daß er eine Leber hat. Er fühlt, daß er extravagant gewesen, daß er etwas verschwendet hat; sein gesunder Verstand hat ihn verlassen. Er wünschte nichts von dem zu sehen, was die drei Sternchen dieses Katalogs verhießen. Gott bewahre ihn davor, etwas von den Kräften der Natur zu wissen! Gott bewahre ihn davor, einen Augenblick zuzugeben, daß so etwas existiert! Gab er das einmal zu, wohin führte es dann? Man bezahlte einen Schilling für den Eintritt und einen zweiten für den Katalog.

Der Blick den June gesehen und den andere Forsytes gesehen, war wie das plötzliche Aufblitzen einer Kerze durch das Loch eines imaginären Vorhangs, hinter dem sie sich bewegte – schattenhaft und lockend, wie das plötzliche Aufflammen eines vagen irrenden Scheines. Es gab den Zuschauern die Gewißheit, daß drohende Mächte an der Arbeit waren. Für einen Augenblick gewährte es ihnen Vergnügen und Interesse, dann aber hatten sie das Gefühl, es gar nicht bemerken zu dürfen.

Es erklärte jedoch die Ursache von Junes spätem Kommen und Verschwinden ohne zu tanzen, ohne selbst ihren Bräutigam begrüßt zu haben. Sie sei krank, hieß es, und das war kein Wunder.

Aber schuldbewußt blickten sie einander an. Sie wollten keinen Skandal verbreiten, wollten nicht boshaft sein. Wer wollte das wohl? Und es wurde Außenstehenden gegenüber kein Wort davon verraten, ein ungeschriebenes Gesetz unter ihnen hieß sie schweigen.

Dann kam die Nachricht, daß June mit dem Großvater an die See gegangen war.

Er hatte sie nach Broadstairs gebracht, das jetzt in Aufnahme kam, nachdem Yarmouth, trotz Nicholas, an Ansehen verloren hatte, und kein Forsyte ging ohne die Überzeugung an die See, für sein Geld eine Luft zu erhalten, die seine Galle in einer Woche krank machen mußte. Die verhängnisvolle Neigung des ersten Forsyte Madeira zu trinken, hatte seine Nachkommen offenbar anfällig gemacht.

Also June ging an die See. Die Familie wartete Entwicklungen ab; sonst war nichts weiter zu tun.

Aber wie weit – wie weit waren ›jene Beiden‹ gegangen? Wie weit würden sie noch gehen? Ging wirklich überhaupt etwas vor? Es konnte sicherlich nichts daraus werden, denn sie hatten beide kein Geld. Höchstens ein Flirt, der wie all solche Beziehungen zu rechter Zeit ein Ende nahm.

Soames' Schwester, Winifred Dartie, die mit der Luft von Mayfair, wo sie wohnte, modernere Grundsätze in Bezug auf eheliches Verhalten eingesogen hatte, als, zum Beispiel, in Ladbroke Grove üblich waren, lachte bei der Idee, daß etwas daran sein sollte. Das ›kleine Ding‹ – Irene war größer als sie selbst, und es war ein wesentliches Zeugnis für den soliden Wert einer Forsyte, immer so ein ›kleines Ding‹ zu sein – das kleine Ding langweilte sich. Warum sollte sie sich nicht amüsieren? Soames war ziemlich langweilig, und was Mr. Bosinney anbetraf – nur dieser Hanswurst George hatte ihn den ›Bukanier‹ nennen können – sie blieb dabei, daß er sehr ›chic‹ war.

Dieser Ausspruch – daß Mr. Bosinney ›chic‹ war – verursachte förmlich Aufsehen, doch er wirkte nicht überzeugend. Daß er ›einigermaßen gut aussah‹, waren sie bereit zuzugeben, aber daß man einen Mann mit so ausgesprochen vorstehenden Backenknochen, den merkwürdigen Augen und weichen Filzhüten ›chic‹ nennen konnte, war nur ein weiteres Beispiel für Winifreds extravagante Art allem Neuen nachzulaufen.

Es war in jenem denkwürdigen Sommer, wo Extravaganz an der Tagesordnung war, wo selbst die Erde extravagant war, wo die Kastanien mit Blüten übersäet, die Blumen von Duft getränkt waren, wie nie zuvor; wo Rosen in jedem Garten blühten und die Nächte kaum Raum genug für das Gewimmel der Sterne hatten; wo jeden Tag von früh bis spät die Sonne in voller Rüstung ihren ehernen Schild über dem Parke schwang, und die Menschen so sonderbare Dinge taten, wie ihr Frühstück und Mittag im Freien einzunehmen. Unerhört war die Zahl der Droschken und Wagen, die über die Brücken des schimmernden Flusses strömten und den besseren Mittelstand zu Tausenden in die grüne Pracht von Bushey, Richmond, Kew und Hampton Court hinaus trugen. Beinahe jede Familie mit dem Anspruch zur Equipagen-Klasse gerechnet zu werden, sah sich einmal in diesem Jahre die Roßkastanien in Bushey an oder unternahm eine Spazierfahrt unter den spanischen Kastanien im Richmond Park. Gemächlich, wenn auch in einer Wolke von Staub, die sie selber aufwirbelten, rollten sie dahin und starrten vornehm auf die ragenden Geweihe großer träger Hirsche in einem Wald von Farren, der Herbstliebhabern eine Decke versprach, wie man sie nie zuvor gesehen. Und dann und wann, wenn der zärtliche Duft der Kastanienblüten und Farren ganz nahe herüberwehte, sagte wohl einer zum andern: »Was für ein sonderbarer Geruch!«

Und die Lindenblüten waren in diesem Jahr von seltener Pracht, beinahe honigfarben. In den Ecken der Londoner Squares strömten sie einen Duft aus wenn die Sonne unterging, der süßer war als der Honig, den die Bienen daraus gesogen – einen Duft, der ein namenloses Sehnen in den Herzen der Forsytes und ihresgleichen erweckte, wenn sie die Kühle nach dem Essen im Bereich jener Gärten genossen, zu denen sie allein die Schlüssel besaßen.

Und diese Sehnsucht trieb sie, im sinkenden Licht des Tages inmitten der vage dämmernden Blumenbeete zu weilen, trieb sie, sich wieder und immer wieder umzuschauen, als warte ein Liebhaber auf sie – warte, das letzte Licht unter dem Schatten der Zweige verlöschen zu sehen.

Ein vages, durch den Duft der Linden erwecktes Mitgefühl, der schwesterliche Wunsch sich selbst zu überzeugen, der Gedanke, die Wahrheit ihres Ausspruchs, daß ›nichts daran sei‹ zu beweisen, oder einfach nur das Verlangen nach Richmond zu fahren, dem man in diesem Sommer nicht widerstehen konnte, veranlaßte die Mutter der kleinen Darties (Publius, Imogen, Maud und Benedikt) den folgenden Brief an ihre Schwägerin zu schreiben.

»30. Juni.

Liebe Irene!

Ich höre, daß Soames morgen über Nacht in Henley bleibt. Wäre es nicht lustig, wenn wir uns in einer kleinen Gesellschaft aufmachten und nach Richmond führen. Willst Du Mr. Bosinney bitten, so bringe ich den jungen Flippard mit.

Emily (sie nannten ihre Mutter beim Vornamen – es war so ›chic‹) will uns den Wagen leihen. Ich werde Dich und Deinen Herrn um sieben Uhr abholen. Deine Dich liebende Schwester Winifred Dartie.

Montague hält das Essen in ›Scepter und Krone‹ für ganz schmackhaft.«

Montague war Darties zweiter und bekannterer Name – der erste war Moses – denn er war nichts, wenn nicht der Mann von Welt.

Die Vorsehung setzte ihrem Plan mehr Widerstand entgegen, als ein so wohlwollendes Unternehmen verdiente. Erstens antwortete der junge Flippard:

»Liebe Mrs. Dartie!

Tut mir schrecklich leid. Zu fest versagt.

Ihr

Augustus Flippard.«

Es war zu spät herumzuschicken, um dieses Mißgeschick zu beseitigen. Mit der Entschlossenheit und Taktik einer Mutter, kam Winifred auf ihren Mann zurück. Sie hatte ganz das entschiedene, aber tolerante Temperament, das zu einem gut Teil Profil, blondem Haar und grünlichen Augen paßt. Sie kam selten oder nie in Verlegenheit; oder wenn es geschah, verstand sie immer es in einen Vorteil umzuwandeln.

Auch Dartie war in bester Laune. Erotic hatte den Lancashire Cup nicht gewonnen. Dies berühmte Tier, obendrein noch Eigentum einer der Säulen des Rennplatzes, der heimlich viele Tausende gegen ihn gesetzt, war nicht einmal gestartet. Die achtundvierzig Stunden, die dieser Schlappe folgten, gehörten zu den dunkelsten in Darties Leben.

Visionen von James suchten ihn Tag und Nacht heim. Schwarze Gedanken über Soames mischten sich mit leisester Hoffnung. Am Freitag abend war er so angegriffen, daß er sich betrank. Doch am Samstag Morgen triumphierte der echte Börsen-Instinkt in ihm. Mit ein paar hundert Pfund, die er unmöglich hätte zurückzahlen können, ging er in die Stadt und setzte alles auf Concertina im Saltown Borough Handicap.

Wie er zu Major Scrotton sagte, mit dem er im Iseeum frühstückte, hatte ›der kleine Judenjunge, Nathans, ihm den Tip gegeben‹. Ihm sei alles ganz einerlei. Sollte er knausern – ein Geizhals sein? Kam er nicht heraus – nun ja, dann zum Teufel, mußte der Alte eben zahlen!

Eine Flasche Pol Roger für eigene Rechnung hatte ihm neue Verachtung für James eingeflößt.

Er kam heraus. Concertina brach den Hals dabei – ein furchtbarer Schrei! Aber wie Dartie sagte: es ging nichts über Mut!

Er war der Expedition nach Richmond durchaus nicht abgeneigt, wollte sogar selbst alles ›bestreiten‹. Er hegte große Bewunderung für Irene und wünschte auf mehr gemütlichem Fuße mit ihr zu stehen.

Um halb sechs kam der Diener von Park Lane mit der Botschaft herüber, daß es Mrs. Forsyte sehr leid täte, aber eines der Pferde hustete. Unverzagt trotz dieses neuen Schlags, schickte Winifred den kleinen (jetzt siebenjährigen) Publius sogleich mit der Erzieherin nach Montpellier Square.

Sie müßten in Droschken hinfahren und sich um 7.45 in ›Scepter und Krone‹ treffen.

Dartie war sehr zufrieden damit. Es sei angenehmer als mit dem Rücken zu den Pferden zu sitzen! Er hatte nichts dagegen mit Irene hinauszufahren. Sie sollten die andern in Montpellier Square wohl abholen und mit den Droschken tauschen?

Bei dem Bescheid, daß sie sich in Scepter und Krone treffen und er mit seiner Frau fahren sollte, war er verdrießlich und fand es verd–t öde!

Um sieben Uhr brachen sie auf, und er wollte mit dem Kutscher um eine halbe Krone wetten, daß er es in dreiviertel Stunden nicht machen könne.

Zweimal nur wechselten die Gatten unterwegs Bemerkungen.

Dartie sagte: »Der gute Soames wird seinen Ohren nicht trauen, wenn er hört, daß seine Frau mit Mr. Bosinney in einer Droschke ausgefahren ist!«

Winifred erwiderte: »Rede nicht solchen Unsinn, Monty!«

»Unsinn!« wiederholte Dartie. »Du kennst die Frauen nicht, meine Liebe!«

Bei der zweiten Gelegenheit fragte er nur: »Wie sehe ich aus? Ein bißchen aufgedunsen wohl? Dieser Champagner, den George so liebt, ist ein windiger Wein.«

Er hatte mit George Forsyte gefrühstückt.

Bosinney und Irene waren schon vor ihnen angelangt. Sie standen in einer der großen Glastüren, die auf den Fluß hinausgingen.

In diesem Sommer standen die Fenster den ganzen Tag hindurch offen und auch die ganze Nacht, und Tag und Nacht kam der Duft von Blumen und Bäumen, der heiße Geruch des dürren Grases und der kühle Hauch des schweren Taus herein.

Für das Auge des beobachtenden Dartie, schienen seine beiden Gäste nicht gerade sehr aufgelegt, als sie dort, ohne ein Wort zu sprechen, dicht neben einander standen. Bosinney sah aus wie ein Hungernder – mit dem war nicht viel los!

Er überließ sie jedoch Winifred und übernahm es, das Diner zu bestellen.

Ein Forsyte verlangt gutes, wenn auch nicht leckeres Essen, aber ein Dartie wird alle Hilfsmittel einer ›Krone und Scepter‹ aufbieten. Wer von der Hand in den Mund lebt, wie er, findet nichts zu gut für seinen Gaumen; und er ißt nur das beste. Auch seine Getränke müssen sorgfältig gewählt sein; es gibt viele Getränke in diesem Lande, die für einen Dartie ›nicht gut genug‹ sind, er muß die allerbesten haben. Da er nichts aus der eignen Tasche bezahlte, lag kein Grund für ihn vor, sich einzuschränken. Einschränkung ist das Kennzeichen eines Narren, nicht eines Dartie.

Das beste von allem! Es gibt keinen gesünderen Grundsatz, nach dem ein Mann sein Leben aufbauen kann, der einen Schwiegervater mit einem beträchtlichen Einkommen und einer besonderen Vorliebe für seine Enkel hat.

Mit seinem nicht unkundigen Blick hatte Dartie diese Schwäche bei James bereits im ersten Jahr nach der Ankunft des kleinen Publius (ein Versehen) erkannt und sich seine Scharfsichtigkeit zunutze gemacht. Jetzt waren vier kleine Darties eine Art von dauernder Versicherung.

Der Hauptgang des Festmahls war fraglos die rote Seebarbe. Dieser köstliche, in einem Zustand fast vollkommener Konservierung aus weiter Ferne kommende Fisch wurde nach einem nur Wenigen auf dieser Erde bekannten Rezept zuerst gebacken, dann entgrätet und in Eis mit Madeirapunsch anstatt der Sauce serviert.

Wenn nichts anderes, so verdiente die Bezahlung der Rechnung seitens Dartie doch Anerkennung.

Er war während der ganzen Mahlzeit sehr liebenswürdig gewesen und hatte nur selten den dreist bewundernden Blick von Irenens Antlitz und Figur gewandt. Wie er sich selbst eingestehen mußte, schien es keinerlei Wirkung auf sie auszuüben – sie blieb ganz kühl, so kühl wie ihre Schultern unter dem Schleier der crêmefarbenen Spitze. Er hoffte sie bei einem kleinen Spiel mit Bosinney zu ertappen; aber keine Spur davon, sie hielt die Grenze ausgezeichnet inne. Und dieser Baumeister, der Mensch war schwerfällig wie ein verwundeter Bär – Winifred konnte kaum ein Wort aus ihm herausbringen. Er aß nichts, trank aber seinen Likör; sein Gesicht ward immer weißer und die Augen blickten seltsam.

Es war alles sehr unterhaltend.

Dartie selbst war in ausgezeichneter Stimmung und sprach frei mit einer gewissen Anzüglichkeit, denn er war nicht dumm. Er erzählte zwei oder drei ans Unpassende streifende Geschichten, ein Zugeständnis an die Gesellschaft, denn seine Geschichten pflegten sonst solche Dinge nicht nur zu streifen. Er brachte in einer neckischen Rede Irenens Gesundheit aus, aber keiner stieß mit ihm an, und Winifred sagte: »Sei kein solcher Clown, Monty!«

Auf ihren Vorschlag gingen sie nach Tisch auf die öffentliche Terrasse hinaus, von der aus der Fluß zu übersehen war. »Ich möchte gern die Liebespärchen draußen sehen,« sagte sie, »das macht solchen Spaß!«

Eine Menge solcher gingen nach der Hitze des Tages in der Kühle spazieren, und die Luft war erfüllt von Tönen heiserer, lauter oder so leiser Stimmen, als flüsterten sie Geheimnisse.

Es währte nicht lange, so hatte Winifred – sie war die einzige Forsyte unter ihnen – umsichtig eine Bank für sie gesichert. Sie setzten sich in einer Reihe nieder. Ein großer Baum breitete einen mächtigen Baldachin über ihre Köpfe, und langsam verdichtete sich der Nebel über dem Fluß.

Dartie saß am Ende neben Irene, dann Bosinney, und als letzte Winifred. Es war kaum Platz für vier, und der Mann von Welt konnte Irenens Arm fühlen, der sich an den seinen drückte. Er wußte, daß sie ihn nicht zurückziehen konnte ohne ungezogen zu scheinen, und das machte ihm Spaß; er ersann alle Augenblick eine Bewegung, die sie ihm noch näher brachte und dachte: »Dieser Narr von einem Bukanier soll sie nicht ganz für sich allein haben! Eine schwierige Lage, allerdings!«

Weither von dem dunkeln Fluß herauf kam der Klang einer Mandoline und von Stimmen, die die alte Weise sangen:

»A boat, a boat, unto the ferry

For we'll go over and be merry

And laugh, and quaff, and drink brown sherry!«

Und plötzlich erschien der Mond, kam jung und zart, langsam hinter einem Baum hervor. Und als ginge von ihm ein Atem aus, ward die Luft kühler, aber immer noch drang die Wärme der Linden durch diese Kühle.

Über seine Zigarre hinweg schielte Dartie nach Bosinney hin, der mit gekreuzten Armen dasaß und gerade vor sich hin starrte; sein Gesicht hatte den Ausdruck eines Gefolterten.

Dann warf Dartie schnell einen Blick auf das Gesicht zwischen ihnen. Es war von dem sich herabsenkenden Schatten so verhüllt, daß es sanft, geheimnisvoll, lockend wie ein dunkleres Stück der Dunkelheit erschien, die Gestalt und Leben angenommen hatte.

Ein Schweigen herrschte jetzt auf der geräuschvollen Terrasse, als hielten alle, die dort wandelten, ihre Geheimnisse für zu kostbar um sie auszusprechen.

Dartie dachte: »Oh! die Frauen!«

Die Abendglut erlosch über dem Fluß, der Gesang verstummte; der junge Mond verbarg sich hinter einem Baum, und alles ward dunkel. Er preßte sich an Irene.

Ihn erschreckte der Schauder nicht, der ihre Glieder überlief, als er sie berührte, auch der verstörte, zornige Blick ihrer Augen nicht. Er fühlte ihren Versuch sich ihm zu entziehen und lächelte.

Allerdings hatte der Mann von Welt mehr getrunken als ihm gut war.

Mit den dicken, halbgeöffneten Lippen unter seinem wohlgepflegten Schnurrbart und den frechen Augen, die von der Seite auf sie blickten, hatte er den tückischen Ausdruck eines Satyrs.

Auf der Himmelsbahn zwischen den Gruppen der Baumwipfel drängte sich Stern an Stern; wie Sterbliche hienieden, schienen sie zu schwärmen, sich zu bewegen und zu wispern. Dann brach der Lärm auf der Terrasse aufs neue los, und Dartie dachte: »Ah, was für ein armer hungriger Narr ist dieser Bosinney!« und preßte sich wieder an Irene.

Die Bewegung hätte besseren Erfolg verdient. Sie stand auf, und alle folgten ihrem Beispiel.

Der Mann von Welt war fester denn je entschlossen zu sehen, aus was für Stoff sie gemacht war. Die Terrasse entlang hielt er sich dicht an ihrer Seite. Er war des guten Weines voll. Nun kam die lange Heimfahrt, die lange Fahrt, das warme Dunkel und die angenehme Engigkeit des Wagens mit der Abgeschlossenheit von aller Welt. Der hungrige Laffe von Architekt konnte mit seiner Frau fahren – er wünschte ihm viel Vergnügen mit ihr! Und sich wohl bewußt, daß seine Stimme nicht ganz sicher klang, war er so vorsichtig nicht zu sprechen; aber ein Lächeln hatte sich auf seinen dicken Lippen festgesetzt.

Sie wanderten nach der andern Seite zu, wo ihre Droschken sie erwarteten. Sein Plan hatte den Vorzug aller großen Pläne, eine fast brutale Einfachheit – er wollte nur an ihrer Seite bleiben bis sie einstieg und schnell hinter ihr einsteigen.

Aber als Irene an ihre Droschke kam, stieg sie nicht ein, sondern schlüpfte statt dessen nach vorn zu dem Pferde. Dartie war im Augenblick nicht genügend Herr seiner Beine um ihr folgen zu können. Sie streichelte die Nase des Pferdes, und zu seinem Ärger war Bosinney zuerst neben ihr. Sie drehte sich um und sprach mit leiser Stimme schnell zu ihm; die Worte ›der Mann dort‹ fing Dartie auf. Er blieb hartnäckig am Wagentritt stehen und wartete auf sie. Er kannte einen Kniff, der seiner zwei wert war!

Hier im Lampenlicht mit seiner wohlgestalteten (nicht mehr als mittelgroßen) Figur, in der weißen Weste, den hellen Überzieher über den Arm geworfen, eine rote Blume im Knopfloch und diesem Ausdruck von keckem, gutmütigem Übermut in dem dunklen Gesicht, kam er am besten zur Geltung – war er durch und durch der Mann von Welt.

Winifred war bereits in ihrer Droschke. Dartie überlegte, daß Bosinney ein armseliges Vergnügen darin haben werde, wenn er nicht aufpaßte! Plötzlich erhielt er einen Stoß, der ihn beinah zu Boden warf. Bosinneys Stimme zischte ihm ins Ohr: »Ich fahre mit Irene zurück, verstehen Sie?« Er sah ein Gesicht, weiß vor Leidenschaft, und Augen, die ihn anfunkelten, wie die einer wilden Katze.

»He?« stammelte er. »Wie? Keine Spur! Sie fahren mit meiner Frau!«

»Fort!« zischte Bosinney – »oder ich werfe Sie auf die Straße!«

Dartie trat zurück; er sah deutlich, daß der Mensch es ernst meinte. Als Irene an der Stelle, die er frei gemacht, vorüberschlüpfte, streifte ihr Kleid seine Beine. Bosinney stieg hinter ihr ein.

»Fahren Sie!« hörte er Bosinney rufen. Der Kutscher trieb das Pferd an, und es griff aus.

Dartie stand einen Augenblick betäubt, dann stürzte er zu der Droschke, in der seine Frau saß, und kletterte hinein.

»Fahren Sie zu!« schrie er dem Kutscher zu, »und verlieren Sie ja nicht den Burschen da vor uns aus den Augen!«

Als er neben seiner Frau saß, brach er in Verwünschungen aus. Schließlich beruhigte er sich mit äußerster Anstrengung und sagte: »Eine schöne Geschichte, daß du den Bukanier mit ihr nach Haus fahren läßt; warum in aller Welt konntest du ihn nicht festhalten? Er ist toll vor Liebe; jeder Narr kann das sehen!«

Er übertäubte Winifreds Erwiderungen mit neuen Anrufen des Allmächtigen und hörte auf dem ganzen Wege nicht auf mit seinen Jeremiaden, in denen er sie, ihren Vater, ihren Bruder, Irene, Bosinney, den Namen Forsyte, seine eigenen Kinder schmähte und den Tag verwünschte, an dem er geheiratet hatte.

Als Frau von starkem Charakter ließ Winifred ihn gewähren, worauf er endlich in verdrossenes Schweigen versank. Er wandte den zornigen Blick nicht von der Rückseite der Droschke, die wie ein verlorenes Glück in der Dunkelheit vor ihm spukte.

Glücklicherweise konnte er Bosinneys leidenschaftliche Ergüsse nicht hören – Ergüsse, die das Benehmen des Mannes von Welt zum Überfließen gebracht, gleich einer Flut. Er konnte Irenens Erschauern nicht sehen, als wäre sie eines ihrer Kleidungsstücke beraubt, noch ihre Augen, dunkel und traurig, wie die Augen eines geschlagenen Kindes. Er konnte nicht hören, wie Bosinney unaufhörlich inständig bat und bat; konnte ihr plötzliches leises Weinen nicht hören, noch sehen, wie der arme hungrig blickende Teufel verschüchtert und zitternd, ihre Hand demütig berührte.

Am Montpellier Square fuhr ihr Kutscher, den Weisungen buchstäblich folgend, getreulich hinter der Droschke vor ihnen her.

Darties sahen Bosinney herausspringen, dann Irene ihm folgen und mit gesenktem Kopf die Stufen hinaneilen. Sie hatte offenbar ihren Schlüssel in der Hand, denn sie verschwand sogleich. Es war unmöglich zu sagen, ob sie sich umgewandt, um mit Bosinney zu sprechen oder nicht.

Dieser ging an ihrer Droschke vorüber; beide Gatten konnten sein Gesicht im Licht einer Straßenlaterne deutlich sehen. Es kämpfte mit einer heftigen Bewegung.

»Gute Nacht, Mr. Bosinney!« rief Winifred.

Bosinney stutzte, riß seinen Hut herunter und eilte davon. Er hatte ihre Existenz offenbar vergessen.

»Da!« sagte Dartie, »hast du das Gesicht der Bestie gesehen? Was habe ich gesagt? Schöne Geschichten!« Er machte sich die Gelegenheit zunutze.

So sicher war es zu einer Krisis in der Droschke gekommen, daß Winifred nicht imstande war ihre Theorie zu verteidigen.

»Ich werde nicht darüber sprechen,« sagte sie. »Es hat doch keinen Zweck viel Wesens davon zu machen!«

Mit dieser Anschauung stimmte Dartie ganz überein. Da er James als Privatrückhalt betrachtete, war er durchaus dagegen, daß er durch die Nöte anderer beunruhigt wurde.

»Sehr richtig,« sagte er, »mag Soames selber aufpassen. Er hat ganz das Zeug dazu!«

Damit betraten Darties ihre Wohnung, deren Miete James bezahlte, und suchten die wohlverdiente Ruhe. Es war Mitternacht, und kein Forsyte blieb draußen in den Straßen, um Bosinneys Wanderungen auszuspähen, ihn zurückkehren zu sehen, am Gitter des Square Gartens, fern vom Licht der Straßenlaternen im Schatten der Bäume stehen zu sehen und das Haus anstarren, wo sie im Dunkeln verborgen war, die für einen einzigen Augenblick zu sehen, er die Welt gegeben hätte – sie, die für ihn jetzt der Hauch der Linden, der Inbegriff von Licht und Dunkel, der Schlag seines eigenen Herzens selber war.

Die Forsyte-Saga (Buch 1-3)

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