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Elftes Kapitel Bosinney und Soames

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Inhaltsverzeichnis

Am Tage nach dem Abend in Richmond kehrte Soames mit einem Morgenzug von Henley zurück. Da er sich in seiner Gemütsverfassung jedoch für keinerlei Land- oder Wassersport interessierte, war sein Besuch, zu dem ein Klient von einiger Bedeutung ihn eingeladen hatte, eher ein Geschäft als ein Vergnügen gewesen.

Er begab sich direkt in die City, als er aber nur Unwichtiges vorfand, ging er, froh über die Gelegenheit ruhig nach Haus zu können, um drei Uhr wieder fort. Irene erwartete ihn nicht. Zwar hatte er nicht den Wunsch ihr Tun auszuspionieren, aber es war doch kein Unrecht den Schauplatz so unvermutet zu übersehen.

Nachdem er den Anzug gewechselt, ging er ins Wohnzimmer. Sie saß müßig in einer Sofaecke, ihrem Lieblingsplatz, und er sah Ränder unter den Augen, als hätte sie nicht geschlafen.

»Wie kommt es, daß du hier bist?« fragte er. »Erwartest du jemand?«

»Ja, – das heißt, nicht bestimmt.«

»Wen?«

»Mr. Bosinney sagte, er würde vielleicht kommen.«

»Bosinney. Er sollte an der Arbeit sein.«

Hierauf gab sie keine Antwort.

»Übrigens möchte ich dich bitten mit mir ins Kaufhaus zu kommen,« sagte Soames, »und dann könnten wir in den Park.«

»Ich möchte nicht ausgehen; ich habe Kopfweh.«

Soames erwiderte: »Wann ich dich um etwas bitte, hast du stets Kopfweh. Es wird dir gut tun, draußen unter den Bäumen zu sitzen.«

Sie antwortete nicht.

Soames schwieg einige Minuten; schließlich sagte er: »Ich weiß nicht, was für eine Vorstellung du von den Pflichten einer Frau hast. Habe es nie gewußt.«

Er hatte nicht erwartet, daß sie antworten würde, aber sie tat es.

»Ich habe versucht zu tun, was du wolltest; ich kann nicht dafür, daß ich nicht imstande war, es mit dem Herzen zu tun.«

»Wer kann denn dafür?« Er beobachtete sie von der Seite.

»Bevor wir heirateten, versprachst du mich gehen zu lassen, wenn unsere Ehe nicht glücklich würde. Ist sie glücklich?«

Soames runzelte die Stirn.

»Glücklich,« stotterte er – »sie wäre glücklich, wenn du dich richtig benehmen wolltest!«

»Ich habe es versucht,« sagte Irene. »Willst du mich gehen lassen?«

Soames wandte sich ab. Heimlich erschrocken, suchte er eine Zuflucht im Toben.

»Dich gehen lassen? Du weißt nicht, was du redest. Dich gehen lassen? Wie kann ich dich gehen lassen? Wir sind verheiratet, oder vielleicht nicht? Also, wovon sprichst du? Um Gottes willen, laß doch all solchen Unsinn! Setze deinen Hut auf und komm in den Park.«

»Also, du willst mich nicht gehen lassen?«

Er fühlte ihre Augen mit einem seltsam rührenden Blick auf sich gerichtet.

»Dich gehen lassen!« sagte er; »und was in aller Welt würdest du anfangen, wenn ich es täte? Du hast doch kein Geld!«

»Ich könnte es schon einrichten.«

Er ging schnell im Zimmer auf und ab; dann stellte er sich vor sie hin.

»Ich bitte dich ein für alle Mal,« sagte er, »sprich nicht wieder von solchen Dingen. Geh und setze deinen Hut auf!«

Sie rührte sich nicht.

»Du willst wohl Bosinney nicht versäumen, wenn er kommt!« sagte Soames.

Irene erhob sich langsam und verließ das Zimmer. Dann kam sie mit ihrem Hut herunter.

Sie gingen aus.

Im Park war die bunte Stunde des Spätnachmittags vorüber, wo Fremde und andere würdige Leute, die modern zu sein glauben, spazieren fahren; die wahre, die rechte Stunde war gekommen und fast wieder vorbei, bevor Soames und Irene sich unter die Achillesstatue setzten.

Es war ziemlich lange her, seit er ihre Gesellschaft im Park genossen. Das war ehemals eine der höchsten Freuden der ersten beiden Jahre seines Ehelebens, wo das Gefühl vor ganz London der Eigentümer dieses anmutigen Wesens zu sein, sein größter, wenn auch geheimer Stolz gewesen. Wie manchen Nachmittag hatte er nicht äußerst elegant, mit hellen grauen Handschuhen neben ihr gesessen und mit leisem verächtlichen Lächeln, dann und wann den Hut lüftend, Bekannten zugenickt!

Seine hellgrauen Handschuhe trug er immer noch, und das spöttische Lächeln war auf seinen Lippen, aber wo das Gefühl in seinem Herzen?

Die Sitze leerten sich schnell, aber er hielt sie immer noch zurück, still und blaß, als wäre es eine heimlich ersonnene Strafe für sie. Ein- oder zweimal machte er eine Bemerkung und sie senkte den Kopf oder antwortete mit müdem Lächeln ›Ja‹.

Das Gitter entlang ging ein Herr so schnell, daß die Leute ihm nachstarrten, als er vorüber kam.

»Sieh doch diesen Esel!« sagte Soames, »er muß verrückt sein, in der Hitze so zu rennen!«

Er drehte sich um; Irene hatte eine rasche Bewegung gemacht.

»Holla!« sagte er, »'s ist unser Freund, der Bukanier!«

Und er blieb mit seinem höhnischen Lächeln still sitzen, denn er wußte, daß auch Irene lächelte. Wird sie ihn grüßen, dachte er.

Aber sie regte sich nicht. Bosinney erreichte das Ende des Gitters und kam, die Fährte suchend wie ein Wachtelhund, zwischen den Stühlen hindurch wieder zurück. Als er sie sah, blieb er regungslos stehen und grüßte.

Das Lächeln schwand nicht mehr von Soames Gesicht; er nahm seinen Hut ebenfalls ab.

Bosinney kam heran, er sah erschöpft aus, wie nach einer starken physischen Anstrengung. Der Schweiß stand in Tropfen auf seiner Stirn, und Soames Lächeln schien zu sagen: »Du hattest eine harte Zeit; mein Freund! ... Was machen Sie im Park?« fragte er. »Wir glaubten, Sie verachten solche Frivolität!«

Bosinney schien ihn nicht zu hören; er antwortete Irene: »Ich war eben bei Ihnen; ich hoffte Sie zu Haus zu treffen.«

Jemand tippte Soames auf die Schulter und sprach zu ihm; und im Austausch der flachen Redensarten über die Schulter hinweg, überhörte er ihre Antwort und faßte einen Entschluß.

»Wir gehen gleich nach Haus,« sagte er zu Bosinney, »Sie sollten mit zurück kommen und mit uns essen.« Durch seine Einladung klang eine sonderbare Prahlerei und ein noch sonderbareres Pathos: »Du kannst mich nicht täuschen,« doch sein Blick und seine Stimme schienen zu sagen, »aber sieh – ich traue dir – ich fürchte dich nicht!«

Sie brachen zusammen auf und gingen zum Montpellier Square zurück, Irene zwischen ihnen. In den belebten Straßen ging Soames voran. Er hörte nicht auf ihr Gespräch, der seltsame Entschluß zu vertrauen, den er gefaßt, schien selbst sein heimliches Verhalten zu beeinflussen. Wie ein Spieler sagte er sich: »Es ist eine Karte, die ich nicht fortwerfen darf – ich muß sie ausspielen, was auch ihr Wert sein mag. Ich habe nicht zu viele Chancen.«

Langsam kleidete er sich um, hörte sie ihr Zimmer verlassen und hinunter gehen und machte sich fünf Minuten länger in seinem Ankleidezimmer zu schaffen. Dann ging er hinunter und schloß die Tür absichtlich laut, um anzuzeigen, daß er komme. Er fand sie am Kamin stehend, wo sie sich unterhielten oder auch nicht; er konnte es nicht erkennen.

Er spielte seine Rolle in dieser Farce den ganzen Abend hindurch, war in seinem Wesen freundlicher denn je zu seinem Gast, und als Bosinney endlich ging, sagte er: »Sie müssen bald wiederkommen; Irene spricht gern über das Haus mit Ihnen!« Wieder klang aus seiner Stimme die seltsame Prahlerei und das noch seltsamere Pathos, aber seine Hand war kalt wie Eis.

Seinem Entschluß treu, wandte er sich ab, als sie sich verabschiedeten, wandte sich von seiner Frau ab, als sie unter der Hängelampe stand um Gutenacht zu sagen – wandte sich ab vom Anblick ihres golden schimmernden Hauptes unter dem Licht, von dem wehmütigen Lächeln auf ihren Lippen und sah auch Bosinney nicht in die Augen, als er sie anblickte, wie ein Hund seinen Herrn anblickt.

Und er ging mit der Gewißheit zu Bett, daß Bosinney seine Frau liebte.

Die Sommernacht war heiß, so heiß und still, daß durch jedes offene Fenster nur heißere Luft hereinkam. Lange Stunden lag er da und lauschte auf ihren Atem.

Sie konnte schlafen und er mußte wach daliegen. Und das Wachen stählte ihn für die Rolle des heitern, vertrauensvollen Ehemanns.

Zu früher Stunde schlüpfte er aus dem Bett, ging in sein Ankleidezimmer und lehnte aus dem geöffneten Fenster. Er vermochte kaum zu atmen.

Eine Nacht vor vier Jahren kam ihm in Erinnerung – die vorletzte Nacht vor seiner Hochzeit, heiß und stickig wie diese.

Er dachte daran wie er in einen langen Rohrsessel an der Glastür seines Wohnzimmers in der Viktoria-Street gelegen hatte. Unten in einer Nebenstraße hatte ein Mann an eine Tür geschlagen und eine Frau hatte aufgeschrieen. Er erinnerte sich, als wäre es eben erst gewesen, des Tones bei dem Gezänk, des Zuschlagens der Tür und der Totenstille, die darauf folgte. Und wie sich dann ein früher Sprengwagen, der die dunstigen Straßen reinigte, durch das seltsam wirkende, jetzt überflüssige Laternenlicht genähert hatte; er meinte wieder das Rasseln zu hören, das näher und näher kam, bis er vorüber war und langsam verhallte.

Er lehnte sich weit aus dem Fenster des Ankleidezimmers über dem kleinen Hof unten, und sah das erste Licht sich verbreiten. Die Umrisse dunkler Mauern und Dächer waren für einen Augenblick verwischt, dann traten sie schärfer hervor als sonst.

Er erinnerte sich, wie er in jener Nacht das Verblassen der Laternen die ganze Straße hinunter beobachtet; wie er sich eilig angekleidet hatte und auf die Straße hinunter gegangen war, an Häusern und Plätzen vorüber nach der Straße wo sie wohnte, und wie er dort gestanden und die Front des kleinen Hauses angeschaut, das so grau und still gewesen, wie das Antlitz eines Toten.

Und plötzlich schoß es ihm durch den Kopf, wie dem Kranken ein Einfall: Was tut er jetzt – dieser Mensch der mich beunruhigt, der diesen Abend hier war, der mein Weib liebt – streift er vielleicht da draußen umher und schaut nach ihr aus, wie er es an diesem Nachmittag getan; beobachtet er wohl gar eben jetzt mein Haus!

Er schlich über den Flur an die Straßenseite des Hauses, zog verstohlen einen Vorhang fort und öffnete ein Fenster. Das graue Licht hing an den Bäumen des Squares, als hätte die Nacht, wie eine große flaumige Motte, sie mit ihren Flügeln gestreift. Die Laternen brannten noch, ganz blaß, aber keine Seele regte sich – nichts Lebendes war zu erblicken!

Doch plötzlich, ganz schwach, weit ab in der Totenstille vernahm er einen kreißenden Schrei, wie die Stimme einer irrenden Seele, die vom Himmel ausgeschlossen, nach ihrem Glücke schreit. Da war es wieder – wieder! Soames schloß schaudernd das Fenster.

Dann dachte er: »Ach, es sind nur die Pfauen überm Wasser drüben.«

Die Forsyte-Saga (Buch 1-3)

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