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THE DEATH – QUARANTÄNE
Tag 184

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3. April 2021

Decatur, Illinois

Devin wurde schlagartig wach, als ihm Essensduft in die Nase stieg. Er blinzelte mehrmals, um den Schlaf aus den Augen zu bekommen und einen klaren Blick zu fassen. Hätte er sie nicht aufgeschlagen und gesehen, wo er sich befand, wäre er wegen des schmackhaften Geruchs jede Wette darauf eingegangen, es sei ein Albtraum gewesen. Voller Neugierde auf das, was Tess wohl zubereitete, sprang er unbeschwert auf, zog sich an und verließ das Zimmer.»Was kochen Sie?«, fragte er, als er die Küche betrat.

«Ich brate gehacktes Corned Beef an.«

«Riecht toll.«

«Ich weiß nicht, wie es schmecken wird, weil es ja aus der Dose kommt.«

«Machen Sie Witze? Ich habe seit Ewigkeiten nichts Warmes mehr gegessen.«

«Ich auch nicht, aber als ich den Gasherd sah, dachte ich mir, ich könnte Ihnen was Gutes tun, weil Sie mich hier aufgenommen haben«, erklärte Tess. Heute wirkte sie weniger aggressiv als am Vortag.

Devin schmunzelte in Erwartung der warmen Mahlzeit.

Tess lud ihm einen Teller voll Hack auf und stellte es vor ihm ab.»Scharfe Soße oder Ketchup?«

«Äh, scharfe Soße wäre perfekt«, antwortete er und beugte sich über den Teller. Der Dampf, der davon aufstieg, wärmte sein Gesicht, und es roch wunderbar und sah auch appetitlich aus.

Brando kam in die Küche und setzte sich, in der Hoffnung, auch eine Schale Fleisch zu bekommen.

Als Tess ihn bemerkte, kam sie seinem Wunsch nach.»So, bitteschön, mein Großer«, raunte sie und tätschelte Brandos Kopf, bevor sie die Schüssel vor ihm abstellte. Dann drehte sie sich zu Devin um, der gerade ordentlich reinhaute, und sagte:»Ich war immer dagegen, Hunden zu geben, was Menschen essen, denke mir aber mittlerweile: Wen juckt’s? Wissen Sie noch, wie es war, als wir uns ungeheuer viele Gedanken darüber machten, was wir essen sollten? Ich bin mir sicher, alle immunen Menschen, die so viel Aufwand betrieben haben, um auf Biomärkten und Bauernhöfen einzukaufen, fallen jetzt über jegliches Dosenfutter her, das sie in die Finger kriegen.«

Devin schaute mit vollem Mund von seinem Teller auf und nuschelte:»Ich kann Ihnen sagen, dass das stimmt. Das weiß ich, weil ich einer der Bio-Typen war, die sich glutenfrei ernähren wollten und nur bei Bauern einkauften.«

«Sie kennen ja das Sprichwort: In der Not frisst der Teufel Fliegen. Und ich würde sagen, geht die Welt unter, wird jeder Veganer zum Fleischfresser.«

«Ha, der ist nicht schlecht«, lachte Devin.

Tess ließ sich mit einem Teller auf der anderen Seite des Tisches nieder und goss etwas scharfe Soße über ihr Fleisch.»Wo haben Sie gewohnt?«

«In New York City.«

«Und wie sind Sie nach Decatur geraten?«

«Lange Geschichte«, antwortete er, hielt sich aber zurück, weil er nicht alles erzählen wollte, denn das hätte bedeutet, dass er wieder auf Cassidy zu sprechen gekommen wäre, und darauf war er noch nicht gefasst.

«Wir alle haben eine lange Geschichte, aber nach meinem zickigen Benehmen gestern, habe ich es verdient, sie über mich ergehen zu lassen«, räumte Tess ein.

Devin schaute zuerst auf seinen Teller und dann zu ihr herüber.»Nach heute Morgen sei Ihnen in meinen Augen verziehen.«

«Ich habe nichts weiter getan, als ein paar Dosen Corned Beef zu öffnen und sie aufzuwärmen. Hätten Ihre Verwandten einen Elektroherd gekauft, wäre dieses Festmahl kalt auf den Tisch gekommen. Ein Hoch auf Propangas.«

«Wo kommen Sie her?«

«Bismarck in Norddakota.«

«Ha, ich habe noch nie jemanden von dort kennengelernt, beziehungsweise keiner hat zugegeben, aus Norddakota zu stammen.«

«Vorsicht, Freundchen.«

«War nur ein Witz.«

«Ich weiß aber schon, was Sie meinen. Ich wurde dort geboren, wohne … besser gesagt wohnte aber dann in North Carolina.«

«Darf ich fragen, was Sie in Decatur zu suchen haben? Ist ja nicht gerade um die Ecke, weder von Norddakota noch North Carolina aus.«

Tess legte ihre Gabel hin und trank etwas Wasser, ehe sie sagte:»Bin nur auf der Durchreise.«

«Wollen Sie zurück nach North Carolina?«, hakte er nach, bevor ihm der Ring an ihrer linken Hand auffiel. Dieser war mit einem kleinen, rundgeschliffenen Viertelkaratdiamanten auf drei goldenen Zargen besetzt. Sie wollte wohl jemanden in North Carolina wiedersehen.

«Ja, ich kehre zurück.«

«Wartet dort wer auf Sie?«

Tess begann, in ihrem Essen zu stochern. Die Frage traf sie recht hart, doch sie antwortete ehrlich:»Nein, niemand. Er ist nicht mehr da.«

«Tut mir leid.«

«Oh, so meinte ich das nicht; er ist woanders – in Sicherheit, ganz bestimmt.«

«Es gibt einen sicheren Ort?«

«Ich glaube, ich habe Ihnen schon zu viel erzählt.«

«Moment, Moment, Sie behaupten, dort sei es sicher? Das müssen Sie mir genauer erklären.«

Sie stocherte weiter auf ihrem Teller herum.

«Bitte sagen Sie es mir. Falls es Hoffnung gibt, würde ich gern davon erfahren«, drängte Devin.

«Ich weiß nicht genau, ob mein Verlobter in Sicherheit ist oder überhaupt noch lebt, doch als ich zuletzt mit ihm sprach, stach seine Einheit in See. Er erzählte mir von einer Sicherheitszone, und sie befanden sich auf dem Weg dorthin, um sie schützen.«

«Wohin?«

«Keine Ahnung. Er hinterließ mir eine Nachricht in unserer Wohnung auf Topsail Island.«

«Wie konnte er davon wissen – von seiner Arbeit her?«

«Ja, er ist Marinesoldat.«

Devin meinte, sein Kopf müsse vor Fragen und Gedanken platzen.

«Machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen. Angesichts der Art, wie sich das Virus ausbreitet, ist es sehr unwahrscheinlich, dass Travis noch lebt, geschweige denn ein Ort existiert, der keimfrei ist.«

«Aber Sie müssen es darauf ankommen lassen, und tun genau das.«

«Was gibt es denn in diesen Tagen auch sonst? Außerdem ist es doch aberwitzig, dass ich in anderer Menschen Küche kochen kann, nachdem ich sie unter die Erde gebracht habe.«

Brando stand auf und ging zur Vordertür. Er hatte die Ohren gespitzt und neigte seinen Kopf zur Seite.

«Da ist jemand!«, merkte Tess erschrocken auf.

Devin konnte nicht fassen, dass er an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Besuch bekam.

«Sollen wir uns verstecken?«, fragte er, ohne sich von seinem Platz zu bewegen.

Tess sprang jedoch auf und stürzte ans Erkerfenster. Da Brando an der Haustür hin und her ging, wusste sie ohne jeden Zweifel, dass jemand draußen war. Als sie den Vorhang ein wenig zur Seite schob und verstohlen hinausschaute, erblickte sie zwei bärbeißig wirkende, bewaffnete Männer, die sich dem Haus näherten.

«Wo ist die Flinte?«, fragte sie.

Devin war nun ebenfalls aufgestanden.

«Ich weiß es nicht, wo haben Sie sie hingestellt?«, erwiderte er.

«In die Ecke neben der Treppe, holen Sie sie!«

Er gehorchte ohne weitere Fragen, ging zügig die Waffe holen. Tess kam unterdessen aus dem Zimmer gerannt und stürmte die Treppe hinauf, indem sie jeweils mehrere Stufen auf einmal nahm.

Devin schaute nervös auf die Flinte. Er fühlte sich unangenehm an gestern erinnert. Falls er ihr irgendwie behilflich sein wollte, musste er lernen, damit umzugehen.

Tess kehrte nach unten zurück, jetzt allerdings bewaffnet und kampfbereit angezogen: Sie trug die Schutzweste mit Schulterpolstern und ihr Gewehr – bereit, sich jedermann in den Weg zu stellen, egal wer kam.

«Woher wissen Sie, dass diese Kerle uns etwas anhaben wollen? Die könnten genauso gut bloß was zu essen suchen.«

«Tun sie nicht, verlassen Sie sich drauf«, entgegnete sie aufgeregt.»Würden Sie mir jetzt helfen, das hier wegzuschieben und die Tür freizuräumen?«Sie machte sich an den Möbeln zu schaffen, die den Hintereingang versperrten.

«Das verstehe ich nicht, warum sollten wir?«

«Tun Sie es einfach.«

«Aber …«

Sie stemmte sich gegen ein Metallregal und grunzte. Frustriert von Devins Tatenlosigkeit hörte sie auf und herrschte ihn an:»Ich will, dass die zwei hereinkommen. Wenn wir sie erschießen, knallt es draußen nicht so laut.«

«Sie erschießen?«, wiederholte Devin ungläubig.

«Ich habe keine Zeit, das zu erklären, aber es sind Plünderer, schlicht und ergreifend.«

«Woher wissen Sie das?«

«Weil einer der beiden derjenige ist, von dem ich angeschossen wurde!«

Diese Antwort bewog Devin, schnell zu handeln: Er schob das Regal aus dem Weg, während Tess den Draht entfernte. Sobald sie damit fertig war, warf sie das Geschirr ins Spülbecken und rief:»Nach oben, schnell! Brando, komm mit!«

Der Hund hörte auf, unruhig herumzulaufen, und folgte den beiden die Treppe hinauf. Der Flur oben führte vom Absatz an geradeaus bis zum Elternschlafzimmer am anderen Ende. Als Devin sah, dass sie dorthin lief, fragte er:»Sie wollen da rein?«

«Ja, von dort aus kann man ungehindert schießen. Ich locke sie her; sie werden nirgendwohin ausweichen können.«

«Ich möchte das Zimmer wirklich nicht betreten«, druckste Devin.

«Was ist los mit Ihnen?«

Unten klapperten die Blechdosen, also waren die beiden Männer auf der Veranda.

«Uns fehlt die Zeit, um darüber zu diskutieren; legen Sie die Kissen hierhin und gehen Sie dann dahinter in Deckung«, erklärte sie, während sie es vormachte.»Dann heißt es: Feuer frei. Ich werde sie anlocken, indem ich sie wissen lasse, dass ich hier bin.«

«Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?«

«Haben Sie eine bessere?«

Devin erwiderte lediglich ihren Blick. Er hatte keinen besseren Plan, ja eigentlich überhaupt keinen Plan, um genau zu sein.

Jetzt ging die Hintertür auf. Die Eindringlinge unterhielten sich, ohne dass man verstand, was sie sagten.

Durch eines der Fenster im Obergeschoss warf Tess einen Blick in die Einfahrt und auf die Straße, um sicherzugehen, dass die beiden Männer allein hier waren. Nach ihrer ersten Begegnung mit ihnen wusste sie, dass sie nur Kundschafter waren, also konnte der Rest der Bande nicht weit weg sein.

Eine undeutliche Stimme, die aus einem Funkgerät kam, hallte durchs Treppenhaus herauf und machte Tess Angst:»Marlin, bist du das?«

«Jepp.«

«Wo steckt ihr?«

«Ungefähr eine halbe Meile weit auf der Kraft Road. Wir haben gerade …«

«Helfen Sie mir!«, rief Tess.

Der Mann mit dem Funkgerät hörte auf zu sprechen und schaute seinen Komplizen an. Ein teuflisches Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus.

Der andere Kerl stapfte zügig zum Fuß der Treppe und grölte hinauf:»Wer braucht Hilfe?«

«Ich … ich bin ganz allein, bitte kommen Sie«, flehte Tess, ehe sie zu Devin hinüberschaute, der hinter den Kissen kauerte.

«Ich glaube, heute wird ein Rohr verlegt«, bemerkte Marlin, dessen fieses Grinsen stark fleckige Zähne offenbarte. Er hatte sein fettiges, braunes Haar, das bis auf die Schultern fiel, hinter die Ohren geklemmt.

«Marlin, du warst gerade weg«, knatterte es aus dem Funkgerät.

Er ignorierte den Sprecher und ging ebenfalls zur Treppe.»Jetzt wird gevögelt. Aus dem Weg, Frank.«

«Woher willst du wissen, ob nicht doch jemand bei ihr ist?«, fragte der andere.

«He, Darling, komm du doch runter«, rief Marlin.

«Ich kann nicht. Gestern hat mich irgendein Fremder überfallen und gefesselt. Bitte helfen Sie mir.«

Marlin grinste nun über beide Ohren, während er sich ausmalte, was er mit der unbekannten Frau tun würde. Er hastete die Stufen hinauf und blieb stehen.

Frank, der skeptisch blieb und überlegte, was sie wohl finden mochten, kam langsam hinterher.

Als Marlin durch den Flur schaute, sah er Tess’ Beine sowie einen Haufen Kissen auf einer blutbesudelten Matratze.

«Ich komme, Herzchen«, flötete er und ging auf sie zu.

Frank blieb mehrere Stufen unterm Absatz stehen, konnte aber in den Flur schauen. Dabei fiel sein Blick genau unters Bett; er riss die Augen weit auf, da er Devins Knie und Füße sah.

«Marlin, stopp, das ist eine Falle!«, rief er.

«Feuer!«, schrie Tess.

Devin drückte ab, doch wie am Vortag tat sich nichts. Er hatte nicht daran gedacht, Tess zu fragen, wie die Flinte funktionierte, und diese Nachlässigkeit gefährdete nun ihr Leben.

Sie sah, dass er Probleme hatte, und sprang vom Bett auf in die offene Tür. Vor ihr stand der Mann, von dem sie zwei Tage zuvor verwundet worden war.»Hi, Marlin, weißt du noch, wer ich bin?«, fragte sie, richtete ihre Pistole – eine Glock 17 – auf ihn und drückte ab.

Der Mann bekam keine Gelegenheit, zu reagieren, und sein Dauergrinsen verging ihm, als die 9mm-Patrone sein Gesicht traf. Als sie am Hinterkopf austrat, riss sie seinen Schädel zurück, und er fiel der Länge nach auf den Boden.

Frank duckte sich auf der Treppe, statt sie anzugreifen. Sein Herz flatterte; er wusste nicht, wie viele Personen oben waren, und hielt eine Flucht für die beste Wahl.

Devin war schockiert. Er hatte noch nie miterlebt, wie jemand so erbarmungslos handelte wie Tess gerade eben.

Sie stürmte mit vorgehaltener Pistole auf die Stufen zu. Frank war klar, dass es brenzlig wurde, und nahm die Beine in die Hand. Er sprang und landete mit einem lauten Knall am Fuß der Treppe, stieß durch die Wucht beim Aufkommen gegen die Wand, fand sein Gleichgewicht aber flugs wieder und eilte zur Tür. Tess nahm die Verfolgung auf, wobei ihr Brando dicht auf den Fersen blieb.

Nachdem Frank durch den Hintereingang gerannt war, schwang er sich übers Geländer des Vorbaus und hetzte zur Straße.

Tess versuchte, mit ihm Schrittzuhalten, doch er war zu schnell für sie. Er hielt das Funkgerät wieder in der Hand, wie sie sah. Was das bedeutete, war ihr klar: Bald würden sie sich vor Plünderern nicht mehr retten können. Mit dieser Gewissheit und weil sie Frank nicht aufhalten konnte, kehrte sie ins Haus zurück.

Am Fuß der Treppe wartete Devin.

«Sie müssen dringend lernen, wie man dieses Ding benutzt«, knurrte sie, während sie ihren Rucksack aufhob und anzog.

«Sie gehen?«

«Genauso wie Sie, falls Sie klug sind. Der wird zurückkommen, aber nicht allein, sondern mit einer kleinen Armee.«

Devin drohte, den Kopf zu verlieren, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Er war überzeugt davon, dass sie recht hatte, aber mental nicht darauf vorbereitet, sich allein durchzuschlagen.»Darf ich mitkommen?«

«Sicher, aber packen Sie sich was ein, und zwar schnell!«

Devin erinnerte sich daran, dass in der Scheune ein Rucksack lag, und ging ihn holen. Kurze Zeit später kehrte er zurück und fing an, ihn mit Lebensmitteln sowie ein paar Flaschen Wasser zu füllen.

«Wir müssen jetzt los!«, drängte Tess. In diesem Augenblick hörten sie brummende Motoren auf der Straße unmittelbar vor der Einfahrt.

«Jetzt machen Sie schon«, schrie sie Devin an. Mit ihrer Tasche auf dem Rücken und dem Gewehr im Anschlag trat sie die Fliegengittertür auf. Brando rannte hinaus, sie folgte ihm.

Devin stürzte hinter Tess her.

Sie hüpfte über den gespannten Draht auf den Stufen und lief dann auf die Maisfelder hinter der Scheune zu.

Devin hörte Männer rufen, die nun ihre Motorräder und Autos vor dem Haus abstellten. Er wusste, wie knapp es war und was geschehen würde, falls man Tess und ihn schnappte. Mit hämmerndem Herzen sprintete er Tess hinterher, die gerade zwischen den toten Pflanzen verschwand. Er nahm sich vor, ihre Spur nicht zu verlieren.

Gerade als er den Rand des Feldes erreichte, hörte er Glas klirren, gefolgt von einer kleinen Explosion im Gebäude. Er blieb nicht stehen, um nach dem Haus oder der Scheune zu sehen, die ihm während jener sechs langen Monate Schutz geboten hatte. Jetzt rannte er um sein Leben; auf der Flucht vor einem Feind, von dem er 20 Minuten zuvor nicht einmal wusste, dass es ihn überhaupt gab.

Internationaler Flughafen von Denver

Lori konnte nur anhand des Weckers auf ihrem Nachttisch und ihrer Armbanduhr ausmachen, dass es Morgen war; ansonsten deutete nichts auf die Tageszeit hin. Ihr Quartier und der Zeichenraum, den sie in der vorangegangenen Nacht besichtigt hatte, befanden sich zwei Ebenen unterhalb der Erde. Da sie in der Nähe von Denver gewohnt hatte, war sie zahllose Male am Flughafen gewesen, doch das Gelände, auf dem sie gestern Abend angekommen war, ähnelte dem, das sie von früher her kannte, nicht im Geringsten. Das erste Wort, welches sich ihr vergangene Nacht aufgedrängt hatte, war» Festung«. Die Umzäunung des Flughafens erinnerte eher an ein Gefängnis: mehrere Reihen 20 Fuß hoher Maschendraht und im Abstand von mehreren Hundert Fuß jeweils ein bemannter Turm. Die Zufahrt war befestigt und wurde ebenfalls streng bewacht. Kettenpanzer und andere militärische Fahrzeuge standen mit ausgerichteten Waffen in Position, um jeden Unbefugten aufzuhalten.

Das zu sehen, stieß Lori zunächst vor den Kopf, doch nach genauerer Überlegung ergab es Sinn, die wesentlichen Interessen der Regierung hier zu schützen, welche es auch immer sein mochten.

Die Landebahnen innerhalb des Areals waren jetzt mit unzähligen Militärflugzeugen und unterstützender Ausrüstung besetzt. Personal lief emsig beschäftigt hin und her, lud ein und aus, betankte und wartete die Fluggeräte. Allem Anschein nach diente der Flughafen nun als wichtiger Knotenpunkt für Neubeginn und Wiederaufbau des Landes.

Als Lori hier ankam, führte man sie durchs Hauptterminal, das ihr so betriebsam wie zu früheren Zeiten erschien. Dann hatte sie einen Fahrstuhl betreten, mit dem sie zwei Ebenen tiefer gefahren war – zu ihrem vorübergehenden Wohn- und Arbeitsplatz.

Sie hatte noch keine Gelegenheit erhalten, ihre neuen Kollegen kennenzulernen, konnte es aber kaum erwarten, endlich anzufangen. Nach einem letzten Blick in den Spiegel schnappte sie sich ihre Handtasche und verließ das Quartier. Auf dem Weg durch die breiten Betonflure kam es ihr vor, als müsse sie etwas in den Händen halten. Wäre dies ein Termin mit einem neuen Kunden gewesen, hätte sie ihre Arbeitstasche, ihr iPad und das in Leder gebundene Notizbuch mit dem gelben Papier mitgenommen. Sie hatte jedoch all ihre beruflichen Accessoires in ihrem Haus zurückgelassen, als sie mit David und Eric ins Lager 13 umgesiedelt war.

Nicht lange, und sie erreichte die Stahlflügeltür, hinter der ihr neuer Arbeitsplatz lag.»Das ist er also, Raum C-23«, sagte sie zu sich selbst und streckte die Hand nach dem Griff aus. Als die Tür plötzlich nach innen aufschwang, erschrak sie.

«Oh, hallo, Sie müssen Lori Roberts sein«, begrüßte sie ein Mann und streckte seine Hand aus.

Lori schaute ihn an und dann auf die angebotene Hand. Seit» dem Tod «hatte man sich angewöhnt, niemandem die Hand zu schütteln oder überhaupt in Kontakt mit anderen zu treten.

Der Mann bemerkte ihr Zögern und lachte.»Ich kann Ihnen versichern, ich bin gesund, und wir alle wissen, dass auch Sie immun sind.«

«Natürlich«, kicherte Lori nervös, packte zu und schüttelte.»Hi, Lori Roberts, und Sie sind …?«

«Mein Name ist Chance Montgomery, ich bin Ihr Projektleiter und Aufseher«, antwortete er. Chance war Anfang 40, schlank und durchschnittlich groß. Durch sein dunkelbraunes Haar zogen sich überall silbrige Strähnen.

«Freut mich, Sie kennenzulernen.«

«Kommen Sie rein. Suchen Sie sich einen Platz für Ihre Sachen aus, dann sehen wir uns im Besprechungszimmer. Dort warten schon Ihre beiden Kollegen. Ich bin gleich zurück.«

Lori trat ein und ging direkt zum besagten Zimmer. Dort warteten ihre zwei Mitarbeiter, ein junger Mann und eine ältere Frau.

«Hallo, ich bin Lori Roberts«, stellte sie sich vor.

«Guten Morgen, Lori, ich bin Maggie«, erwiderte die Frau. Sie war Anfang 50, hatte makellos glatte Haut und kurz geschnittenes, blondes Haar.

«Lori, ich bin Brad«, sagte der Mann, stand auf und streckte seine Hand aus. Er war anscheinend Mitte 30, klein und untersetzt.

Nachdem sie einander begrüßt hatten, setzte sich Lori.

«Also, das alles ist sehr spannend«, begann Brad.

«Ja, stimmt«, pflichtete sie bei.

«Ich stamme aus Kalifornien, und Sie?«, fragte Maggie.

«Kalifornien? Wow, Sie haben einen weiten Weg auf sich genommen«, entgegnete Lori verwundert.

«Mich haben sie aus Texas hergebracht«, warf Brad ein.

«Dann hatte ich es wohl einfacher, denn ich komme von hier«, entgegnete Lori.

«Aus Denver?«, hakte Maggie nach.

«Aus der näheren Umgebung, einer Kleinstadt …«

Die Tür des Besprechungszimmers ging auf, und Chance kam herein.»Schön, meine Freunde, sieht so aus, als hätten Sie sich schon beschnuppert. Nun … lassen Sie uns eine Stadt planen!«

Decatur, Illinois

Devin wusste nicht, wie lange er schon lief; die Felder schienen kein Ende zu nehmen, oder die Zeit verstrich langsamer, doch in jedem Fall rannte und rannte er. Das Einzige, was ihn letztlich aufhielt, war der Anblick einer weiten, freien Fläche, die sich vor ihm auftat. Vom Rande des Feldes blickte er auf den verlassenen Highway. Monate zuvor war dies eine stark befahrene Fernstraße gewesen, jetzt herrschte keinerlei Verkehr. Risse im Asphalt, aus denen kurze Grashalme sprossen, deuteten darauf hin, dass sie schon länger nicht mehr in Gebrauch war. Mutter Natur hatte sich nicht lange bitten lassen, sich wieder einzuverleiben, was ihr gehörte.

Nachdem er sich wieder etwas ins Maisfeld zurückgezogen hatte, um nicht gesehen zu werden, sann er über seinen nächsten Schritt nach. Tess und Brando waren schon zu Beginn ihrer gemeinsamen Flucht verschwunden. Jetzt stand er vor der Wahl, weiterzulaufen oder zu warten, doch falls er Ersteres tat: Wohin sollte er sich wenden? Er hasste es, zu Entscheidungen gezwungen zu werden. Er wollte Tess unbedingt wiederfinden; sie war tatkräftig und klug, zumindest hatte er diesen Eindruck von ihr. Allein zu sein, ohne zu wissen, wo er für die Nacht unterkommen konnte, setzte ihn unter Druck, machte ihn unsicher – und Unsicherheit hasste er auch.

Er schaute auf seine Armbanduhr und brummte:»Du wartest eine halbe Stunde, dann überquerst du den Highway und gehst weiter.«

Dann gewannen seine Zweifel erneut die Oberhand. Weitergehen, wohin? »Tess, wo steckst du?«, fragte er sich leise. Während die 30 Minuten seiner selbst auferlegten Frist vergingen, machte er sich darauf gefasst, über die Fahrbahn zu laufen und sich ins nächste endlose Feld aus abgestorbenen Maispflanzen zu schlagen.

Schließlich stand er auf und stellte sich dicht an den Rand.

«Psst, he! Komm zurück!«, wisperte Tess von hinten.

Devin drehte sich um, entdeckte sie jedoch nicht.

«Komm von der Straße weg und duck dich, sofort!«, drängte sie.

Er kam der Aufforderung nach, und zwar gerade rechtzeitig, denn kurze Zeit später rollte ein kleiner Konvoi heran. Während die Autos und LKW vorbeifuhren, schaute er genau hin und erkannte ein Gesicht wieder: das des Mannes, der entkommen war. Als Devin ihn sah, drehte sich sein Magen um. Tess hatte ihn wieder einmal gerettet.

Nachdem der Wagenzug verschwunden war, kroch sie aus ihrem Versteck hervor.»Hast du sie wirklich nicht gehört?«

«Nein, hab ich nicht, ich schwöre.«

«Die knatternden Auspuffe der Laster sind mir schon aufgefallen, als ich noch eine Meile bis hierher laufen musste«, behauptete Tess.

«Schätze, ich muss Ihnen – dir – wieder dafür danken, dass du mir den Hals gerettet hast.«

«Ja, sieht so aus, als seist du mir noch etwas schuldig. Übrigens führe ich Buch darüber«, scherzte sie.

«Wo ist Brando?«, fragte Devin.

Tess stieß zwei Pfiffe aus.

Der Hund sprang neben ihnen aus dem Feld.

«Saß der einfach nur dort?«

«Ja, wie ich schon sagte, er ist wie ein Mensch, aber einer, der auf mich hört. Das macht ihn einem Menschen überlegen. «Sie begrüßte das Tier, indem sie sein Fell kraulte.

«Deine Seite, du blutest«, bemerkte Devin und zeigte auf den nassen, roten Fleck am unteren Rand ihres Shirts.

«Ja, ich weiß, die verflixte Wunde ist wieder aufgegangen«, entgegnete sie.»Das schnelle Laufen war nicht unbedingt ideal.«

«Verbinden wir sie wieder.«

«Keine Zeit, lass uns den Highway überqueren und in Bewegung bleiben. Wir müssen so weit wie möglich von diesen Typen wegkommen.«

«Wohin sollen wir gehen?«

«Zuerst mal über die Fahrbahn, und dann nach Südosten, weil ich ja letztlich nach North Carolina möchte.«

Devin überlegte kurz. Dorthin mitzugehen, kam ihm vermessen vor, doch er besaß kein Zuhause mehr, und diese Frau war der einzige vernünftige Mensch, den er seit Monaten getroffen hatte.

Tess trat mit Brando an den Fahrbahnrand und blieb stehen, um zu horchen. Dann holte sie mehrmals tief Luft und setzte zum Sprint über den vierspurigen Highway an.

Devin beobachtete, wie das Tier hinterher über die offene Fläche hetzte, und wusste, dass alle seine Überlebenschancen in dieser neuen Welt bei ihr und diesem Hund Brando lagen. Nun, da er diese Tatsache als unweigerlich gegeben anerkannt hatte, stürzte auch er los, um zu den beiden aufzuschließen.

Internationaler Flughafen von Denver

Um Chance Montgomery zu beschreiben, passte ein Wort besonders gut: langweilig. Er salbaderte fast eine Stunde lang von der großen Verantwortung, die man dem Team gegeben hatte.»Fein, fein. Hat nun noch jemand von Ihnen Fragen?«, fragte Chance am Ende seiner Predigt.

Lori schüttelte den Kopf und richtete sich in ihrem Sessel auf. Als sie einen Blick auf die anderen warf, stellte sie fest, dass diese mit dem Schlaf kämpften.

«Lori, Sie vielleicht?«, fragte Chance.

«Äh, ja, tatsächlich. Das alles klang eher wie die Planung eines neuen urbanen Raumes. Dabei war gar nicht die Rede von einer Ausweitung von Camp Sierra.«

«Wer hat es Camp Sierra genannt? Wir arbeiten an Arcadia.«

Die Drei am Tisch schauten einander verdutzt an.

«Was ist Arcadia?«, wollte Brad wissen.

«Machen wir uns darüber jetzt keinen Kopf, es geht ans Eingemachte. Vor uns liegt eine Menge Arbeit, falls die Bauarbeiten innerhalb des nächsten Monats beginnen sollen, und wir brauchen einen Plan, der genehmigt werden kann. Darauf müssen wir uns jetzt konzentrieren. «Chance klang aufmunternd, während er das betonte.

Als er die Dauer erwähnte, wurde Lori traurig. Sie wollte nicht so lange von ihrer Familie getrennt bleiben, obwohl sie bereit war, dieses Opfer zu bringen, falls es ihnen die Chance bot, Lager 13 verlassen zu können.

«Ich werde Sie ausgehend von Ihren jeweiligen Fachgebieten selbstständig walten lassen, doch wir müssen uns ständig kurzschließen, um zu gewährleisten, dass sich alles ineinanderfügt. Maggie, Sie übernehmen die räumliche Gestaltung und sorgen dafür, dass wir alle zeitgemäßen Entwicklungen zur Nachhaltigkeit miteinbeziehen. Fokussieren Sie sich auf Straßen und Beförderungsmittel; unsere neue Stadt wird autofrei sein, denken Sie daran. Richten Sie Ihr Augenmerk auf Fußwege, Wanderpfade, Flusspromenaden und Magnetbahnhöfe. Brad, Sie sind mein Tiefbauingenieur, Ihre Hauptaufgabe besteht darin, eine Infrastruktur zur Abwasser- und Abfallentsorgung zu erstellen. Lori, Sie werden alle neuen Regierungsgebäude sowie das Wohn- und Einkaufszentrum in der Innenstadt entwerfen. Achten Sie darauf, dass sich Schönheit und Funktionalität in allen Gebäuden vereinen, die Sie planen. Ich selbst zeichne mich für die generelle Anlage unseres von Grund auf neu konzeptionierten Bauprojekts verantwortlich. So werden wir die Geburt unserer neuen Heimat in die Wege leiten: Arcadia.«

Alle zeigten sich verblüfft von dieser Idee, und insbesondere Lori fühlte sich überwältigt.

«Wie viele Gebäude, welcher Art? Ich brauche genauere Richtlinien. Wo soll ich anfangen?«

«Gut, dass Sie fragen. Sie fangen mit dem neuen Kapitol an«, erwiderte Chance und stand auf. Er ging zu einem Beistelltisch, auf dem ein Papprohr lag, und zog eine zusammengerollte Karte heraus. Diese breitete er auf dem Tisch vor ihnen aus.»Das ist meine erste Skizze der Stadt. Das Kapitol wird genau in der Mitte stehen, und alles Weitere soll von dort ausgehen. Um Ihre Frage zu beantworten, Lori: Machen Sie es zu Ihrer obersten Priorität. Es soll Pracht ausstrahlen und beeindrucken – ein Jahrhundertbauwerk.«

«Gut, ich mache mich an die Arbeit. Schwebt Ihnen eine bestimmte Größe vor?«

«Sind Sie je in Washington, D.C. gewesen?«

«Ja, vor langer Zeit.«

«Entwerfen Sie es halb so groß wie das Staatshaus dort.«

«Verstanden«, bestätigte Lori, während sie sich Notizen machte.

«Haben wir topografische Karten, damit ich das Landschaftsbild sehen kann?«, fragte Brad.

Chance hielt kurz inne, um darüber nachzudenken, und antwortete dann:»Haben wir, doch ich schlage Ihnen etwas Besseres vor: Wie wäre es, wenn wir einen Abstecher dorthin machen?«Er schob seinen Sessel zurück und erhob sich wieder.

Erneut schauten die drei einander überrascht an.

«Packen Sie Ihre Sachen zusammen, wir treffen uns oben – sagen wir … in 15 Minuten. Ein Helikopter wird uns hinfliegen.«

«Wie aufregend«, versetzte Maggie.

«Bis gleich«, entgegnete Chance und verließ das Zimmer.

Lori wusste nicht, was sie von alledem halten sollte. Was man ihr als Ausweitung des sagenumwobenen Camp Sierra verkauft hatte, war in Wirklichkeit die Planung einer völlig neuen Stadt. Von einer großen Aufgabe wäre in diesem Zusammenhang normalerweise keine Rede gewesen, nicht einmal von einer riesigen – dies war ungeheuerlich. Diese Möglichkeit sorgte für Nervenkitzel, machte sie aber auch wehmütig. Sie wusste, es würde länger als einen Monat dauern; konnte sich über Jahre hinziehen. So viel Zeit verstreichen lassen, ohne ihre beiden Männer zu sehen, das wollte sie nicht, aber dies war nicht der richtige Moment, um sich zu beklagen; es galt, die Ärmel hochzukrempeln und sich um einen Platz für ihre Familie in dieser neuen Stadt verdient zu machen. Sie schaute auf die Karte und neigte sich nach vorn, um sie genauer zu betrachten. In einer Ecke unten stand der Name» Arcadia«. Fragen drängten sich auf. Warum eine komplett neue Stadt hochziehen? Warum die ganze Mühe?

Dann fiel ihr wieder ein, was sie am Vortag auf jenem Monitor gesehen hatte. Ihre Befürchtungen hatten sich als unbegründet herausgestellt. Hier saß sie nun und verdingte sich für die Regierung, welche sich dazu aufschwang, etwas Neues aus der Taufe zu heben. Zu keinem Zeitpunkt auf ihrer Reise gestern war sie jemandem begegnet, der einen zwielichtigen Eindruck hinterlassen hätte, und alle am DIA waren freundlich und hilfsbereit. Sie hakte ihre jüngsten Gedanken als Hirngespinste ab. Als sie in sich hineinlachte, vermutete sie, ein Lagerkoller habe sich bei ihr angebahnt. Mit dem Gefühl, einem Zweck zu dienen, und hoffnungsfroh wie seit Monaten nicht mehr, verließ sie den Raum und machte sich auf den Weg nach oben. Heute begann ein neues Leben für sie, der Startschuss zu etwas Großartigem.

Lovington, Illinois

Devins Kleider waren schweißnass, und sein Gesicht, seine Arme und Hände bluteten, nachdem er sich zahllose winzige Schnitte und Schürfwunden an den ausgedörrten, toten Maispflanzen zugezogen hatte. Ihm war wieder eingefallen, dass man den Mittleren Westen als Maisgürtel des Landes bezeichnet hatte; jetzt kannte er den Grund dafür. Jede Straße, an die sie gelangten, bot ihnen eine dringend benötigte Gelegenheit, zu Atem zu kommen. Sie befanden sich nun am Rande einer Kleinstadt und brauchten einen konkreteren Plan als ihren bisherigen, der nur darauf hinauslief, Highways oder Nebenstraßen zu überqueren. Nachdem er sich auf den nassen Boden gesetzt hatte, ließ Devin seinen Kopf hängen und den Schweiß von seinem Gesicht auf die Erde tropfen. Er war erstaunt darüber, es so weit geschafft zu haben. Vermutlich, so glaubte er, war ihm der Adrenalinschub dabei zugutegekommen, die Entfernung zurückzulegen, denn schließlich hatte er monatelang keinen Sport getrieben.

Tess war noch müder als er. Sie legte sich hin.

«Nicht einschlafen«, bemerkte Devin.

«Mein Verlobter sagte immer: Warum stehen, wenn man sitzen kann, warum sitzen, wenn man liegen kann, und warum nicht schlafen, wenn man schon liegt?«Sie nahm sich Zeit, die Glieder zu strecken, während ihr Kopf auf ihrem Rucksack ruhte.

«Dem kann ich voll und ganz zustimmen.«

Brando kam zu Devin, leckte ihm durchs Gesicht und ging wieder, um sich zu seinen Füßen zusammenzukauern.

«He, Junge, bist du noch fit?«, fragte er, überrascht angesichts der Zuneigung des Tieres.

«Ha, er wird langsam warm mit dir«, bemerkte Tess.

«Ich war zwar nie der Hundefreund, aber er wächst mir auch allmählich ans Herz«, gestand Devin.

Tess setzte sich hin, zog ihre Panzerweste aus und hob das blutbefleckte Shirt an.»Verdammt.«

«Was ist?«

«Na, das eben. Es hört einfach nicht auf, zu bluten. Ich glaube, ich brauche deine Hilfe, um es wieder zu nähen. «Sie betrachtete die Wunde.

«Du hast mir nie erzählt, wie es dazu kam.«

«Diese Schweine wollten mich abknallen. Das war aber nur ein Streifschuss.«

Devin zog seinen Rucksack aus und kroch zu ihr hinüber.

Sie nahm ein Ersthilfeset zur Hand und öffnete es für ihn. Nachdem sie einen breiten Verband gefunden hatte, goss sie Wasserstoffperoxid darüber und fing an, die nun freiliegende Wunde damit zu säubern. Jeder noch so zarte Tupfer zwang sie, ihr Gesicht zu verziehen.

Devin wusste nicht, was er tun sollte. Sie bat ihn zwar um Hilfe, doch er kam sich überflüssig vor.

Als sie fertig war, trennte sie die alte Naht auf und zog die Fäden heraus.

Er konnte nicht fassen, was er sah: Sie war unheimlich hart im Nehmen.

«Du hast es selbst genäht?«

«Nein, Brando hat es getan«, scherzte sie.

«Wer hat dir das beigebracht?«

«In dem Beutel sind Nadel und Faden; kipp etwas Peroxid darauf und gib sie mir«, wies sie ihn an.

Devin sträubte sich, als sie die Nadel zum ersten Mal durch ihre Haut stach, schaute aber gleich darauf fasziniert zu, weil sie so behutsam und präzise vorging.

«Du hast das voll drauf«, staunte er.

Sie ging nicht darauf ein, sondern konzentrierte sich auf ihre Sache, bis sie fertig war. Dann legte sie frischen Mull auf die Wunde und verband sie.»So, ich hoffe, das hält jetzt.«

«Ich auch, um deinetwillen.«

Nun kramte sie in ihrem Rucksack nach einer Wasserflasche und setzte sie auf.

«Das war ein strammer Marsch. Lass uns etwas rasten und überlegen, wohin wir weitergehen«, schlug sie vor.

«Gut, ich bin auch platt.«

«Hast du ein Schild mit dem Namen dieser Stadt gesehen?«, fragte Tess.

«Darauf habe ich eigentlich nicht geachtet.«

Sie langte erneut in ihren Rucksack und zog einen Feldstecher heraus.»Hier.«

Er kroch damit an den Rand des Feldes und suchte die scheinbar verlassene Stadt ab. Kein Mensch oder Tier machte sich bemerkbar, und kein Schild auf der Straße, das er sah, gab den Namen preis. Während er den Blick jedoch zum zweiten Mal durch den Ort schweifen ließ, stieß er an der Fassade eines Restaurants auf ein» Lovington«.

«Ich sehe zwar kein amtliches Schild, aber eine Werbetafel mit dem Namen Lovington.«

Sie zog ihre Karte heraus.»Lovington wäre möglich. Meine Güte, sind wir weit gelaufen.«

«Oh ja.«

«Kein Wunder, dass wir fertig sind; das waren ungefähr zehn Meilen.«

«Meine Beine sind jetzt schon weich. Den ganzen Weg bis nach North Carolina zu laufen, halte ich für ausgeschlossen. Wir müssen uns ein Auto oder so suchen.«

«Auf Straßen zu reisen, kann eine heikle Sache werden.«

«Heikler als das hier?«

«Glaub mir, ich bin schon eine ganze Weile unterwegs; Autos können sich als tödliche Fallen herausstellen.«

«Na ja, und wenn ich weiter so rennen muss, sterbe ich an einem beschissenen Herzinfarkt«, bemerkte er.

«Vielleicht hast du recht; nirgendwo ist es sicher.«

«Erzähl mir mehr über die Typen, die dich angeschossen haben«, bat er, während er weiter in die Stadt schaute.

Alles, was er sehen konnte, waren Häusergruppen und eine Wohnsiedlung, aber keinerlei Geschäfte, welcher Art auch immer. Er wusste, ihr Proviant würde nur noch ein paar Tage ausreichen, also sollten sie einige dieser Gebäude nach etwas Essbarem durchforsten – nachdem sie sich ausgeruht hatten, natürlich.

«Ich bin einige Meilen nördlich von Decatur an sie geraten. Sie sind nichts weiter als eine Gaunerbande, alle immun und nur darauf aus, Chaos zu stiften.«

«Ich begreife nicht, warum Menschen so etwas tun wollen. Wir sollten aufeinander zugehen, statt uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen«, erwiderte Devin, als er zurückkroch und sich wieder zu ihr setzte.

«Die Ironie des Todes besteht darin, dass er vor niemandem haltgemacht hat, weder den Guten noch den Schlechten oder Gleichgültigen. Jetzt haben wir ein Problem, nämlich dass die Bösewichter nicht mehr Gefahr laufen, von jemandem aufgehalten zu werden. Mir kommt es so vor, als habe die Krankheit das wahre Wesen hervorgelockt, das in den Seelen der Menschen lauerte.«

«Wie meinst du das: Sie soll die Menschen böse gemacht haben?«

«Nein, sie waren von jeher böse. Der Tod hat sie nicht so gemacht, sondern ihnen lediglich eine Welt beschert, in der sie sich entfalten können.«

«Und was wollten diese Kerle?«

«Muss ich dir das wirklich sagen.«

«Schätze nicht.«

«Sie sind schlichtweg eine Horde von Schlächtern, und wir müssen uns von ihnen fernhalten.«

«Das stelle ich nicht in Abrede, aber nach dem, was du gerade gesagt hast, werden wir unterwegs wohl irgendwann auf andere wie sie stoßen.«

«Mag sein.«

«Was hast du demnach vor?«

«Wir verhalten uns ruhig hier und schlafen ein wenig, bis es Abend wird; dann ziehen wir im Schutz der Dunkelheit weiter. Das ist sicherer.«

«Prima, Schlaf kann ich gut gebrauchen.«

«Noch nicht, wir wechseln uns ab, und da ich die Dame bin, schiebe ich das jetzt mal vor, um zuerst ein Nickerchen zu machen.«

Devin schmunzelte.»Abgemacht«, entgegnete er.»Ich bin dir ja was schuldig.«

«Genau. Wecke mich in drei Stunden oder falls wir abhauen müssen.«

«Schlaf gut.«

Daraufhin legte Tess ihren Kopf wieder auf den Rucksack, drehte sich auf ihre unverletzte Seite und nickte beinahe sofort ein.

Da Devin sich nicht allein auf seine Ohren verlassen wollte, bezog er erneut am Rand des Feldes Stellung, nahm das Fernglas hervor und begann, die Gegend nach etwaigen Bewegungen abzusuchen. Um nicht einzuschlafen, gestaltete er seine Wache spielerisch: Er zählte die Häuser und dann die Autos, ehe er letztere nach Farben, Fabrikat und Modell ordnete. So erfasste er jedes Detail und verinnerlichte alles. Er hielt es für sinnvoll, genau zu wissen, was vor ihnen lag, denn gegen Abend würden sie in diese Richtung weitergehen.

Arcadia

Chance versprach, der Flug nach Arcadia dauerte vom Flughafen Denver nicht lange, ungefähr eine Stunde. Alle im Team waren gespannt. Lori war noch nie in einem Helikopter geflogen, und wie ein solcher sah der Osprey aus, den sie bestiegen hatten, jedenfalls, bis er aufgestiegen war. Dann verwandelte der Pilot ihn in ein Flugzeug, indem er die Rotoren horizontal abkippte und einrasten ließ. Es war das seltsamste Fluggerät, das sie und die anderen je gesehen hatten.

Während der ersten Minuten überflogen sie Denver und die Ausläufer der Berge; nach 20 Minuten befanden sie sich über den Rocky Mountains.

Lori konnte ihre Augen nicht vom Boden in der Tiefe lassen. Sie beobachtete, wie sich die Landschaft veränderte, angefangen bei der flachen Ebene rings um den Flughafen über die sanften Hügel bis zu den Felsklüften der Rockys. Ihr Pilot orientierte sich dicht an den Gebirgsspitzen und flog durch eine Reihe langer Täler, bis sie einen letzten Berg hinter sich brachten. Dann lag unberührtes Tiefland vor ihnen, mit einem Fluss, der sich mitten hindurchschlängelte.

Chance meldete sich per Kopfhörermikrofon:»Das ist es, dort unten liegt unsere leere Leinwand.«

Lori lächelte; jetzt fühlte sie sich sehr wichtig und fand es bestechend, einem solchen Zweck dienen zu dürfen.

Während der Osprey dahinglitt, machte sie ein Camp aus, das Lager 13 ähnelte, aber wohl zehnmal so groß sein musste. Da sie wissen wollte, was es damit auf sich hatte, fragte sie:»Ist das dort drüben im Norden ein Lager des Katastrophenschutzes?«

«Richtig, das ist Camp Sierra«, antwortete Chance.

«Also existiert es wirklich.«

«Selbstverständlich tut es das«, betonte er.

«So wie Sie vorhin gesprochen haben, hörte es sich nicht danach an«, warf Maggie über ihr Headset ein.

«Camp Sierra ist eine von vielen Beta-Siedlungen überall auf der Welt. Zu Beginn der Bauarbeiten werden dort Tausende Arbeiter und Experten wie Sie unterkommen.«

Das zu hören, freute Lori sehr; die Entbehrungen, die sie auf sich nahm, würden später bewirken, dass ihre Familie endlich zu ihr kam.»Chance, wenn wir ins Camp ziehen, werden unsere Angehörigen nachkommen?«

«Verlassen Sie sich darauf, Lori. Sobald unsere Arbeit auf dem Flughafen getan ist, werden wir Ihre Familien dorthin umsiedeln.«

Genau das hatte sie hören wollen.

Der Osprey drehte über Camp Sierra bei und flog auf die Mitte des Tals zu. Während er an Höhe verlor, fuhr der Pilot die Rotoren wieder aus, um senkrecht landen zu können.

Dann sagte einer der Marines in ihren Kopfhörern:»Drei Minuten bis zum Bodenkontakt in der Landezone. Das bedeutet: Jetzt wird nicht mehr gegafft, bitte nehmen Sie alle Ihre Plätze ein.«

Die Insassen leisteten seinem Befehl Folge, setzten sich und legten ihre Sicherheitsgurte an. Der Pilot brachte den Osprey so sanft herunter, dass Lori hätte schwören können, es sei auf einem großen Kissen geschehen.

Als die Rotoren stillstanden, öffnete man die Rampe, und der Marine rief:»Alles klar, Sie dürfen aussteigen.«

Sie nahmen ihre Gurte und Headsets ab, standen auf und gingen nach hinten.

Lori zitterte fast vor Aufregung. Sie dachte daran, wie viel sich innerhalb eines Tages verändern konnte. Noch gestern hatte sie sich ihrer Niedergeschlagenheit wegen nur schwerlich aus dem Bett wälzen können, und heute gehörte sie einem Team an, das wohl die erste von vielen neuen Städten zur Erhaltung der menschlichen Rasse begründen sollte.

Sie trat von der Metallrampe ins hohe, grüne Gras, das den Boden des Tals dicht überwucherte. Dann bückte sie sich, strich über die Halme, pflückte ein paar und hob sie hoch. Um sich diesen Augenblick einzuprägen, hielt sie sich das Büschel unter die Nase und schnupperte. Mit geschlossenen Augen ließ sie ihren hoffnungsvollen Erwartungen freien Lauf; dann schlug sie die Lider auf und betrachtete die Umgebung. Das Tal reichte weiter, als sie sehen konnte, und war von wunderschönen Bergen umgeben, auf deren Spitzen noch der Schnee des Winters lag. Die Temperatur war perfekt, milde 19 Grad, und der Himmel kräftig blau, ohne eine einzige Wolke.

«Hier drüben!«, rief Chance.

Lori schaute hinüber zu einer leichten Anhöhe in etwa 50 Fuß Entfernung, auf der er neben einer Stange mit roter Flagge stand. Sie eilte mit den anderen zu der Stelle.

«Genau hier, wo diese Fahne steht, befindet sich das Zentrum von Arcadia. Dies wird der exakte Mittelpunkt des neuen Kapitols sein, das Sie, Lori, erschaffen werden.«

Sie kam nicht umhin zu strahlen, als er ihren Namen nannte.

«Sehen Sie sich um, Herrschaften. Sie gehören zu den Mitbegründern unserer neuen Heimat«, schwelgte Chance mit erhobenen Armen.

Die Ausdrücke» neue Heimat «und» Mitbegründer «klangen in Loris Ohren befremdlich, doch sie wollte sie nicht mit etwas Negativem in Verbindung bringen. So viel hatte sich gewandelt, dass sie nicht mehr wusste, was richtig und was falsch war. Sie wollte sich nur auf ihr Bauchgefühl verlassen, und dies sagte im Moment, dass sie hier richtig war.

Ihr nächstes Treffen wurde einmal mehr von Chance bestimmt, der wieder fast ununterbrochen eine Stunde lang redete. Er hatte einige vorläufige Skizzen und Pläne mitgebracht und strahlte vor Begeisterung, während er ihnen die geografischen Marksteine zeigte. So führte er das Team durch die zukünftigen Straßen von Arcadia. Er forderte sie auf, sich die Gebäude aus Marmor und Granit vorzustellen, welche die Straßen flankieren würden, sowie die florierenden Geschäfte und Märkte, auf denen die Bevölkerung ihre Einkäufe tätigen sollte. Dabei geriet er so sehr in Fahrt, dass Lori meinte, er werde gleich vor Atemnot in Ohnmacht fallen.

Niemand stellte Fragen, während er alle Punkte mit ihnen abklapperte. Als sie an den am weitesten im Westen liegenden Rand des Tals gelangten, fiel Lori eine Gruppe Personen auf, die in ihre Richtung kamen.

«Wer ist das?«, fragte Brad, der sie ebenfalls sah.

«Wen meinen Sie?«, erwiderte Chance überrascht. Er warf einen Blick über die Schulter zu den Fremden.

«Sind es Landvermesser?«, argwöhnte Maggie.

Chance nahm ein kleines Fernglas aus seiner Brusttasche und hielt es sich ans rechte Auge. Vor Verblüffung entglitten ihm die Züge und er sprach mit ernster Stimme:»Lassen Sie uns zum Osprey zurückkehren, auf geht’s. Das ist besser, gehen wir. Beeilung!«

Lori schaute noch einmal hin, doch die Entfernung war einfach zu groß.

«Verschwinden wir«, drängte Chance.

Alle gehorchten ohne Zögern, nur Lori nicht, die wie angewurzelt stehen blieb und Ausschau nach der Gruppe hielt, die sie auf etwa ein Dutzend Personen schätzte.

«Lori, kommen Sie!«, herrschte Chance sie an.

Sie drehte sie zu ihm um, da knallte es laut wie eine Peitsche dicht neben ihrem rechten Ohr, gefolgt vom Echo eines Schusses in der Ferne.

«Lori, schnell jetzt, die feuern auf Sie!«, rief Chance.

Da ihr so etwas noch nie passiert war, hatte sie das typische Geräusch einer Kugel, die den Kopf knapp verfehlte, nicht erkannt. Sie fand es sonderbar und beängstigend, duckte sich reflexartig und lief in Richtung Hubschrauber, der mindestens eine halbe Meile entfernt stand. Ihre Furcht nahm noch zu, da ihr bewusst wurde, wie angreifbar sie und die anderen in dem offenen Tal waren. Sie führten keine Waffen bei sich und waren der Gefahr ausgeliefert: Einer Gruppe von Menschen, die offensichtlich auf sie feuerten, um sie zu töten.

Weitere Schüsse fielen.

«Wer sind die?«, schrie Lori.

«Scraps. Schnell weiter, sputen Sie sich!«, entgegnete Chance genauso schrill.

Die Marines im Osprey hörten die Schüsse und machten ihr Kaliber.50 MG bereit. Allerdings befanden sich Chance und das Team in der Schusslinie.

Lori fing an, Haken im hohen Gras zu schlagen, und hoffte, dadurch nicht so leicht getroffen werden zu können. Die Scraps gaben nicht auf, trafen aber zum Glück niemanden. Als sie sich dem Helikopter weiter näherten, begann Lori zu glauben, sie alle würden es schaffen. Die Rotoren der Maschine setzten sich langsam in Bewegung, während die Besatzung den Start in die Wege leitete.

«Wir sind gleich da, durchhalten, durchhalten«, brüllte Chance.

Lori war derart fest entschlossen, das Fluggerät zu erreichen, dass ihr nicht aufgefallen war, wie sie Maggie überholt hatte. Als sie die Rampe erreichte, schaute sie zurück und sah, dass die Frau nicht schnell genug lief.

Brad gelangte zum Aufstieg und stürzte sich in den Rumpf, keuchend und hustend. Chance folgte gleich hinterdrein.

Einer der Marines schrie so laut ins Mikrofon seines Headsets, dass Lori es auch so hörte:»Alle bis auf eine an Bord.«

Plötzlich knatterte das MG los. Lori beobachtete entsetzt, wie die Leuchtspurgeschosse nur knapp an Maggie vorbeiflogen. Das Donnern des Geschützes veranlasste sie zum Kreischen. Sie war völlig panisch, hatte Herzrasen und Schwindelgefühle. Sie war langsamer geworden und schleppte sich dahin, wobei sie immer wieder stehen bleiben und Luft schnappen musste.

Dann sah Lori, wie sie fiel; sie verschwand im hohen Gras. Die Scraps waren weniger als 100 Fuß entfernt und kamen näher, während sie feuerten.

Die Rotorblätter des Osprey drehten sich jetzt auf Hochtouren.

Der Marine schrie Chance an:»Sir, sollen wir sie holen?«

«Wo ist sie?«

«Weiß nicht genau, Sir, sie brach etwa 40 Fuß vor der Maschine zusammen.«

Das.50 Kaliber bellte immer noch, aber die Scraps waren ausgeschwärmt und zielten nun auf den Hubschrauber. Ein Zischen und Klingeln ertönte, als die ersten Kugeln das Chassis trafen.

«Bringen Sie uns von hier fort«, befahl Chance, als er hörte, wie die Kugeln in die Bordwand einschlugen.

Da schaute Lori ihn entsetzt an und rief:»Sie dürfen sie nicht zurücklassen, sie ist eine von uns!«

«Nicht mehr, jetzt ist sie ein Scrap«, widersprach er barsch und wandte sich wieder dem Marine zu.»Fliegen Sie los!«

Lori stand noch auf der Rampe, als sie eingefahren wurde.»Nein, wir können sie nicht im Stich lassen!«

Der Marine stapfte zu ihr hinüber, packte ihren Arm und zerrte sie zu einem Sitz.

«Nein, nein, wir dürfen sie nicht zurücklassen!«, wiederholte sie.

Brad saß ihr gegenüber. Er zitterte vor Angst und schien unter Schock zu stehen. Lori warf Chance einen hasserfüllten Blick zu. Er schaute weg und schnallte sich an.

Der Osprey stieg schnell auf und drehte vor den Scraps ab. Der Soldat, der das MG bediente, feuerte weiter, während sie abhoben.

Sobald sie hoch genug waren, entsicherte sich Chance wieder und trat vor ein Fenster, um hinunterzuschauen. Dann bedeutete er Lori, sie möge zu ihm kommen.

Sie ließ sich nicht zweimal auffordern. Rasch entledigte sie sich ihres Gurtes und marschierte erbost zu ihm hinüber.

«Ich weiß, Sie sind nicht damit einverstanden, dass wir Maggie dort gelassen haben, doch wir können jetzt nichts mehr für sie tun. Schauen Sie, da unten; sehen Sie sie?«

Lori machte etwa zwölf Männer aus, die Maggie umzingelten. Sie kniete mit erhobenen Händen in der Mitte.

«Wie konnten Sie sie einfach verlassen?«, fragte Lori.»Sie wird sterben.«

«Die werden sie nicht töten«, versicherte Chance und verwies in die Ferne.

Sie folgte seinem Fingerzeig und sah Hunderte Menschen, die zwischen den Baumreihen hervorströmten und in Richtung Camp Sierra liefen.

«Was geht da vor sich? Wer sind diese Scraps?«

«Eine skrupellose Vereinigung, die alles versucht, um uns aufzuhalten. Diese Menschen wollen nicht, dass wir Fortschritte machen.«

«Das verstehe ich nicht.«

Als der Helikopter hart links ausscherte, fiel Loris Blick auf Dutzende von Panzerfahrzeugen, die Camp Sierra verließen.

«Was geschieht jetzt?«, bohrte sie weiter.

«Die Marines, die unser Camp bewachen, werden sie niedermachen; gegen deren Feuerkraft richten die Scraps nichts aus.«

«Ich kann das nicht begreifen, wer sind diese Menschen? Wieso kämpfen sie gegen uns?«Ihre Fragen sprudelten nur so heraus.

«Lori, bitte nehmen Sie wieder Platz und ruhen Sie sich aus. Ich werde es Ihnen später erklären.«

Sie schaute zu ihm auf, nickte und kehrte zu ihrem Sitz zurück. Chance folgte, tat es ihr gleich und schnallte sich für den Rückflug zum DIA an.

Die Bestürzung infolge dieses Erlebnisses schlug sich nach und nach auf Loris Emotionen nieder. Sie schloss die Augen und versuchte an David und Eric zu denken. Sie betete darum, dass die beiden unversehrt waren, und ließ zu, dass sich Erinnerungen an glücklichere Zeiten Bahn brachen – vor alledem, vor Pandora und vor dem Tod.

Lovington, Illinois

Die Müdigkeit machte Devins Lider schwer. Er schaute auf seine Uhr; nur noch zehn Minuten musste er wachsam bleiben, doch diese kurze Zeit würde ihm vorkommen wie eine ganze Stunde. Da er wusste, dass es ihm nicht gerade leichter fallen würde, wenn er auf dem Bauch liegen blieb, stand er auf und fing an, Kniebeugen zu machen, damit die Bewegung seinen Blutfluss anregte und den Schlaf fernhielt.»Was zum Geier tust du da?«, fragte Tess kichernd.

Ihre Stimme jagte Devin einen Schrecken ein, sodass er zusammenzuckte und sich mit vor Scham rotem Gesicht umdrehte.»Ach, äh … Kniebeugen, du weißt schon, damit der Kreislauf nicht schlappmacht und der Körper wach bleibt.«

«Waren das Kniebeugen oder Ziegenficker?«

«Ziegenficker?«

«Vergiss es, ist so eine Übung bei den Marines.«

«Glaubst du, dein Verlobter lebt noch?«, fragte Devin.

«Was soll ich dir darauf antworten, bitteschön? Ich meine, wer stellt denn solche Fragen? Moment, bin gleich wieder da. «Sie ging tiefer ins Maisfeld.

«Wo willst du hin?«

«Ich muss mal, dauert nicht lange.«

Während sie ihr Geschäft verrichtete, bereitete er sein Lager, um sich schlafen zu legen. Er war fürchterlich müde, und der Gedanke an Ruhe kam ihm paradiesisch vor.

Als Tess zurückkehrte, begann sie in ihrem Rucksack zu stöbern, riss dann aber unvermittelt ihren Kopf hoch. Gleichzeitig sprang Brando auf und reckte seinen Hals.»Hast du das gehört, Junge?«, fragte sie ihn.

«Ich muss mir wirklich mal die Ohren untersuchen lassen«, bemerkte Devin.

«Psst.«

Mehrere Sekunden vergingen, dann hörten sie es alle, das Brummen von Motoren auf dem Highway 32, der nordöstlich von ihnen lag.

«Das darf doch nicht wahr sein, sind die das?«, fragte Devin.

«Weiß nicht. Ich würde durchaus Wetten darauf eingehen, dass Dutzende Gruppen wie jene im Land herumfahren«, antwortete Tess.

Sie schlichen sich zum Rand des Feldes, als der Wagenzug von Westen her in Sicht kam und sich auf Lovington zubewegte.

«Das sind nicht unsere Pappenheimer; sieht nach Militärs aus«, rief Devin und machte Anstalten, seine Deckung zu verlassen.

Tess hielt ihn zurück.»Halblang, Chef. Wir wissen nicht, wer das ist. Am besten bleiben wir versteckt und halten Augen und Ohren offen.«

Devin dachte darüber nach und sah ein, dass sie recht hatte, tat sich aber schwer mit der Vorstellung, US-Soldaten seien nicht vertrauenswürdig.»Denkst du, die würden uns was tun?«

«Keine Ahnung, das ist es eben; ich habe Gerüchte gehört, teilweise üble Sachen.«

«Zum Beispiel?«

«Die gleichen Verschwörungstheoretiker, die glauben, die Regierung verschulde die Pandemie, gehen auch davon aus, man sammle die Überlebenden ein und stecke sie in Lager des Katastrophenschutzes …«

«Was ist daran übel? Der Katastrophenschutz hilft den Menschen in solchen Lagern, wenn ein landesweites Unglück geschieht. Das liegt doch nahe.«

«Aber angeblich kehrt nie jemand zurück«, hielt Tess dagegen.

«Natürlich nicht. In diesen Camps ist es sicher, hier draußen nicht.«

«Also, ich sage ja nicht, dass ich das glaube, aber mir ist nicht danach, noch irgendjemandem zu trauen.«

«Du traust immerhin mir«, entgegnete Devin.

Tess verzog ihr Gesicht.»Vielleicht sollte ich das nicht tun, oder?«

«Ich stimme dir zu, wenn du meinst, wir sollten uns nicht allzu sicher fühlen. Aber jetzt haue ich mich ein paar Stunden aufs Ohr. Ich bin wirklich hundemüde.«

«Träum was Schönes«, sagte Tess, ohne sich von dem Konvoi abzuwenden, der gerade in die Stadt fuhr. Sie zählte die Fahrzeuge.

«Gib Bescheid, wenn etwas geschieht«, sagte Devin, der nun den Kopf auf seinen Rucksack gelegt hatte.

Plötzlich hörten sie beide ganz deutlich das Knattern eines Hubschraubers. Devin fuhr hoch, weil er sofort befürchtete, man könnte sie aus der Luft entdecken.

Tess schaute auf, doch die Maschine war nicht zu entdecken.

«Meinst du, die sehen uns?«, fragte Devin.

«Nein, nein, bestimmt nicht. Ich glaube, wir sind hier sicher. Es klingt, als würden sie nördlich von hier vorbeifliegen.«

Devins Adrenalinpegel war wieder gestiegen, sodass er jetzt unmöglich mehr schlafen konnte. Er kroch zu Tess hinüber und kniete sich neben sie.

«Das sind sie, drei Maschinen.«

«Oh, ich sehe sie auch«, erwiderte Devin aufgeregt.

«Du solltest wirklich ein wenig schlafen; kannst du gut gebrauchen.«

«Geht nicht, ich bin wieder hellwach.«

«Bitte, ich will nicht, dass du später, wenn wir die Stadt auskundschaften, wie benebelt herumrennst.«

«Soll das heißen, wir gehen da rein? Du meintest doch, wir können denen nicht trauen, richtig?«

«Ja, aber ich bin neugierig. Wir müssen herausfinden, was vor sich geht.«

Devin graute davor, sich dem Ort auch nur zu nähern, besonders nachdem ihm Tess erzählt hatte, dass die Army möglicherweise nicht zu den Guten gehörte. Andererseits hatte sie natürlich recht; sie mussten in Erfahrung bringen, was es mit den Soldaten auf sich hatte.

Internationaler Flughafen von Denver

Lori war immer noch entsetzt von dem, was sich zugetragen hatte, doch Brad ging es schlimmer. Er hatte sich in seinem Quartier eingeschlossen und ging auf keinen ihrer zahlreichen Versuche ein, sich mit ihm zu unterhalten. Lori brauchte jemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte, und mehr noch: Sie wollte Chance all jene Fragen stellen, die sie seit ihrem ersten Tag in Lager 13 beschäftigten. Darum hatte sie einen Termin mit ihm vereinbart. Als sie auf ihre Uhr schaute, biss sie die Zähne zusammen, weil er schon über zehn Minuten säumig blieb. Endlich ging die Tür des Besprechungszimmers auf, und Chance trat ein, allerdings nicht allein. Ein Mann Ende 40 folgte ihm.

«Lori, tut mir leid, dass es länger gedauert hat, doch ich habe mich mit Kanzler Horton über die heutigen Geschehnisse ausgetauscht.«

Chance nahm am Kopfende des Tischs Platz, während sich Horton gegenüber Lori niederließ, wo keine zwölf Stunden zuvor Maggie gesessen hatte.

«Mrs. Roberts, mir ist klar, dass Ihnen viele Fragen auf den Lippen brennen müssen, und ich für meinen Teil würde sie Ihnen gern beantworten«, begann der Kanzler mit leiser Stimme und gefalteten Händen. Er war ein ansehnlicher Mann mit dunklem, fast schwarzem und stoppelig kurzem Haar, dessen Kleidung – Tarnhose und weißes Polohemd – einen sauberen, unauffälligen Eindruck machte.

«Mr. Horton, ich weiß nicht genau, wer Sie sind, möchte aber unbedingt einiges erfahren. Mir sind an zwei aufeinanderfolgenden Tagen seltsame Dinge passiert, und ich mache mir gelinde gesprochen Sorgen. Sicher, dieses Projekt ist bedeutungsvoll, doch ich finde keine Ruhe, solange ich nicht weiß, ob meine Familie sicher ist und es auch bleiben wird …«

«Lori, das ist Kanzler Horton, wie gesagt …«, warf Chance ein.

«Das geht schon in Ordnung, Mr. Montgomery«, versicherte der Mann.

«Wessen Kanzler?«, fragte Lori, der dieser politische Titel eigenartig vorkam.

«Ich beaufsichtige die ganze Operation«, erklärte Horton.

«Gut, dann spreche ich ja mit dem Richtigen«, erwiderte Lori.

«Mrs. Roberts, dass ich hier sitze, um mich Ihren Fragen zu stellen, geschieht deshalb, weil man mir sagte, Sie seien ein wertvolles Mitglied dieses Teams, und …«

«Bin ich das? Nach dem, was Maggie zugestoßen ist, tue ich mich schwer mit der Annahme, irgendjemand von uns sei etwas wert.«

«… und vor dem Hintergrund, was heute geschehen ist«, fuhr der Kanzler fort,»wollte ich Ihnen beteuern, dass wir das Potenzial Ihres Beitrags zu unserer neuen Stadt tatsächlich als äußerst bedeutungsvoll erachten. Diese Krankheit hat unsere Bevölkerung stark dezimiert, und nur wenige Menschen mit Ihren Fertigkeiten sind noch am Leben, verstehen Sie? Was mit Maggie passiert ist, war bedauerlich, doch wir durften nicht riskieren, das gesamte Team zu verlieren. Es war schwierig genug, es zusammenzustellen. Glücklicherweise haben wir schon Ersatz für Maggie gefunden, obwohl die junge Frau nicht über den gleichen Erfahrungsschatz verfügt, doch wir hoffen, dass sie sich gut eingliedert. Ferner dürfen wir froh sein, dass es in dieser frühen Phase des Projektes zu dem Zwischenfall kam, denn das bedeutet, dass wir keine wesentlichen Informationen verloren haben. Wir mussten lange darauf warten, mit dem Bau von Arcadia beginnen zu können, und werden nicht noch mehr Zeit verlieren. Nicht genehmigte Ausflüge zum Gelände mögen zwar aufschlussreich sein, dürfen aber nicht wieder vorkommen, außer wir lassen Sie von Sicherheitstrupps begleiten.«

«Mir will einfach nicht in den Kopf gehen, warum wir sie zurückgelassen haben.«

«Lori, ich wollte diesen Entschluss nicht fassen, sah uns jedoch alle in Gefahr«, fügte Chance an.»Wir sind davon überzeugt, dass die Bedürfnisse von Einzelpersonen gegenüber der Gemeinschaft zweitrangig sind. Maggie musste geopfert werden, um unser aller Überleben zu gewährleisten.«

«Die Bedürfnisse von Einzelpersonen und der Gemeinschaft?«

«Mr. Montgomery, ich glaube diese Sache besser erklären zu können, also bleiben Sie bitte still«, meinte Horton sichtlich aufgebracht, ehe er weiter auf Lori einging.»Mrs. Roberts, bitte fragen Sie mich, was auch immer Sie wissen wollen. Hoffentlich stellen meine Antworten Sie zufrieden.«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen und überhäufte ihn in geradezu mit Fragen.»Kanzler Horton, seit meine Familie und ich in Lager 13 untergebracht wurden, haben wir keinerlei Informationen von außerhalb erhalten. Wir wissen überhaupt nichts. Was steht momentan an, abgesehen vom Bau Arcadias? Ich meine, wo ist die Bundesregierung, wenn man von den Lagern des Katastrophenschutzes und Ihnen hier absieht? Was macht der Präsident?«

«Diese Fragen sind allesamt berechtigt. Lassen Sie mich sie mehr oder weniger der Reihe nach beantworten, damit es Sinn für Sie ergibt. Der Tod, wie wir es nennen, hat viele Politiker umgebracht. Sie wissen doch bestimmt, dass der Präsident, sein Vize und viele Mitglieder des Kabinetts gestorben sind. Große Teile des Kongresses fielen ihm ebenfalls zum Opfer. Das Militär hat sich bis dato an Anweisungen und Protokolle gehalten, die im Rahmen des Ermächtigungsaktes zur Nationalen Sicherheit und weiterer festgesetzter Standards zur Vorgehensweise im Falle einer landesweiten Epidemie gelten. Was Informationen betrifft, so gibt es weder etwas Neues noch Erbauliches von außerhalb zu berichten. Der Tod hat mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung dahingerafft, auch nahezu alle Wild- wie Haustiere. Wenn wichtige Instanzen ausfallen, drohen Chaos und Totalzusammenbruch. Wir dürfen von Glück reden, auf das Wenige zurückgreifen zu können, was uns geblieben ist, und auch, dass es im gegebenen Rahmen so gut funktioniert.«

«Aber wer ist der neue Präsident? Es gibt doch einen, oder?«

«Um die Wahrheit zu sagen, nein.«

«Warum nicht? Sie haben doch gerade angedeutet, einige Kongressabgeordnete seien noch am Leben. Ist unter ihnen niemand bereit, das Amt zu übernehmen?«

Horton sah Chance an und dann wieder zu Lori.»Mrs. Roberts, wir arbeiten händeringend daran, wieder eine Regierung zu etablieren. Die Spuren der Vergangenheit sind verwischt, und wir haben das Gefühl, es sei an der Zeit, etwas Neues zu beginnen.«

«Aus diesem Grund bauen Sie ein neues Kapitol, statt auf Washington zurückzugreifen?«

«Korrekt. Um die Hauptstadt wieder instand zu setzen und von dort aus zu regieren, müssten wir zu viele Ressourcen aufwenden, also suchten wir uns diesen Landstrich, obwohl zugegebenermaßen verschiedene Parteien gegen unsere Pläne waren. Doch wir glauben, es ist das Beste, ganz von Neuem zu beginnen.«

Lori stutzte, wenngleich sie einräumen musste, dass seine Worte teilweise Sinn ergaben.»Wer sind diese Parteien, und wieso haben sie etwas gegen die gegenwärtige Entwicklung beziehungsweise Ihre Vorhaben?«

Horton lachte leise auf.»Wann stand jemals etwas zur Debatte, bei dem sich hundert Prozent des Volkes einig waren? Die Antwort lautet: noch nie. Diese Menschen – die Scraps, Raiders und andere Banden – machen jetzt Ernst mit ihren eigenen Absichten.«

«Welche Absichten?«

«Entsteht ein Machtvakuum, tauchen eben machthungrige Zeitgenossen auf. In dieser Situation verhält es sich nicht anders. In allen Regionen hat der Ausfall jeglicher Regierungsinstanzen Opportunisten auf den Plan gerufen. Sie machen großartige Versprechungen, bieten aber nichts weiter als ihre eigene Art von Tod und Tyrannei. Wir gehen schon lange gegen sie vor, doch es ist ein mühseliger Kampf.«

«Wir sind noch niemandem von ihnen begegnet; ich kannte sie nicht, jedenfalls bis heute.«

«Und was haben sie getan? Sie angegriffen.«

Lori dachte darüber nach. Sie sah ein, dass Krisen vom Umfang dieser Seuche die Schattenseiten mancher Menschen hervortreten ließen und diesen oder jenen dazu bewegten, sie zu seinem Vorteil auszunutzen.

«Was unternehmen Sie, um uns zu beschützen? Ich denke gerade an meine Familie in Lager 13.«

«Alles, was wir können. Ich darf Sie beruhigen, wir setzen unser gesamtes Militäraufgebot ein, um die Überlebenden zu verteidigen, die in Camps allerorts auf dem nordamerikanischen Kontinent wohnen.«

«Mir wäre viel wohler, wenn mein Mann und mein Sohn hierher zu mir kommen könnten«, betonte Lori.

«Ihnen geht es gut, Mrs. Roberts. Wir möchten, dass Sie sich auf Ihre Arbeit konzentrieren – keine weiteren Ablenkungen. Außerdem fehlen uns schlicht der Platz und die Ressourcen, um jedermann hier unterzubringen.«

«Mir geht es nicht um jedermann, sondern um meine Familie.«

«Verstehen Sie nicht? Würden wir Ihre Familie hierher bringen, was wäre dann mit Brads Angehörigen, der Frau sowie den Kindern des Bauherrn und so weiter? Sie sollen sich aufs Wesentliche beschränken, um dieses Projekt zum Erfolg zu führen. Danach holen wir Ihre Lieben nach Camp Sierra.«

«Apropos, wie sicher ist es dort?«

«Ich sehe schon, was ich sagen werde, überzeugt Sie nicht, aber es ist sicher: Der gestrige Angriff im Tal wurde abgewehrt, und keiner der Scraps lebt mehr. Wir haben dort reichlich Army- und Marineeinheiten stationiert. Um jedoch weiteren Anschlägen vorzubeugen, verstärken wir dieses Aufgebot noch, um Patrouillen im gesamten Grenzgebiet zu ermöglichen.«

Lori blieb jetzt ruhig sitzen, da ihre Fragen ohne Zögern beantwortet worden waren. In ihren Augen fügte sich alles stimmig zusammen. Wie sie schon gedacht hatte, spielte die Welt nunmehr verrückt.

«Kanzler Horton, vielen Dank. Ich weiß zu schätzen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, um mit mir zu sprechen. Chance muss mich als völlig irre Person beschrieben haben, doch genau das war auch alles während der letzten beiden Tage – irre.«

«Kein Problem, wie ich schon sagte: Sie sind ein wertvolles Teammitglied. Wir brauchen Sie. «Horton grinste breit.

«Lori, war das alles?«, fragte Chance.

«Ja, und entschuldigen Sie, Chance, dass ich Ihnen gegenüber ausgerastet bin.«

Er antwortete mit einem Lächeln.»Schon okay.«

«Gut, dann lasse ich Sie beide jetzt allein«, sagte Horton und stand auf.

Lori und Chance erhoben sich ebenfalls.

Sie bot dem Kanzler die Hand an, und er schüttelte sie.»Danke noch mal, Mr. Horton.«

«Jederzeit wieder. Genauer gesagt, falls Sie noch weitere Fragen haben sollten, dürfen Sie mich gern anrufen, denn ich halte große Stücke auf die Politik der offenen Tür. «Damit beugte er sich über den Tisch, nahm ein Blatt Papier und schrieb zwei verschiedene Telefonnummern darauf.»Das ist die Durchwahl zu meinem Büro, darunter die zu meinem Quartier. Zögern Sie bitte nicht, sich an mich zu wenden.«

Chance warf ihm einen überraschten Blick zu, nahm sich aber schnell wieder zusammen.

Lori machte sich nichts daraus, sondern freute sich vielmehr darüber, den Mann jederzeit erreichen zu können, der sozusagen am Drücker saß. Sie nahm den Zettel entgegen und steckte ihn ein.

«Bis bald, Sie beide, und Mr. Montgomery, ich möchte bis Ende nächster Woche ein paar Vorabentwürfe sehen.«

«Werden Sie, Sir, verlassen Sie sich darauf.«

«Gut zu hören. «Der Kanzler verabschiedete sich und verließ den Besprechungsraum.

«Danke noch mal«, sagte Lori nun auch zu Chance.

«Keine Ursache, jetzt gehen Sie und ruhen sich ein wenig aus. Wir treffen uns gleich morgen früh wieder, gegen acht Uhr.«

Lori trat auf den Flur. Dort herrschte immer noch der übliche Betrieb, ein stetes Kommen und Gehen von Personal. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Züge; sie war einigermaßen zufrieden mit dem Ergebnis dieses Gesprächs. Um David und Eric herholen zu können, durfte sie nicht aufgeben. Sie würde alles dafür tun.

Lovington, Illinois

«Raus aus den Federn – aufstehen, Schlafmütze«, sagte Tess und tippte Devin auf die Schulter. Er wälzte sich auf den Rücken, gähnte und streckte sich. Seine Muskeln taten weh und waren steif geworfen. Er rieb seine Augen und blickte sich um. Der helle Tag war einer schummrigen Dämmerung gewichen.

«Welche Federn? Ich bin so müde, als sei ich eben erst eingeschlafen.«

Er bemerkte, dass sie ihre Schutzweste angezogen sowie ihr Gewehr geschultert hatte.

«Äh, wohin jetzt?«, fragte er, setzte sich und reckte seine Glieder erneut.

«Ein bisschen herumschnüffeln.«

«Sicher, dass das klug ist?«

«Nein, aber ich will wissen, was geschieht. Allzu nah brauchen wir aber nicht heranzugehen.«

«Lass mich noch schnell für kleine Mädchen, dann bin ich gleich soweit«, feixte er, stand auf, und schlug sich ins Feld.

Als er zurückkehrte und anfing, sein Gepäck zusammenzusuchen, sagte sie:»Ich gehe allein.«

«Das kannst du nicht.«

«Bis jetzt konnte ich tun, was ich wollte, und außerdem bist du sowohl erschöpft als auch – ich sage es nicht gern – unerfahren.«

«Du bist keine Spezialagentin oder so etwas, sondern nur eine …«

«… nur eine junge Frau, die mit einem Marineoffizier liiert ist und die meisten Wochenenden mit ihm verbracht hat, während er sich mit Dingen wie diesen hier beschäftigte. Devin, ich bin besser auf diese Situation vorbereitet als du. Ich werde mich nur ein wenig umsehen, damit wir eine Vorstellung von den neuen Gästen in der Stadt haben. Es wird nicht lange dauern.«

Er gestand sich ein, dass sie recht hatte, und da er keinen Streit wollte, den er sowieso verlieren würde, ließ er ihr ihren Willen.

«Was sagt deine Uhr genau?«, fragte sie.

Er schaute nach und gab ihr die Zeit.

«Ich bin in einer Stunde zurück. Bleib aber wach, solange ich fort bin.«

«Werde ich, pass auf dich auf.«

Sie verließ das Maisfeld mit Brando an ihrer Seite und ging über die Wiese auf die Stadt zu.

Als es richtig dunkel war, konnte Devin unmöglich alles ins Auge fassen. In der Ferne erkannte er ein paar flackernde Lichter in der Nähe des Ortskerns. Gelegentlich echote das Johlen, Heulen und Pfeifen von Soldaten über die Felder.

Als er den Lichtknopf an seiner Sportuhr drückte und sah, wie spät es war, machte er sich allmählich Sorgen um Tess und Brando.

«Wo steckst du, Mädchen?«, fragte er laut.

Da sie schon 20 Minuten zu spät war, begann er, sich einen alternativen Plan zu überlegen. Gern hätte er sich sofort auf die Suche nach ihr begeben, doch was würde passieren, wenn sie nur länger brauchte, sodass sie einander verpassten? Nach mehreren Minuten Grübelei beschloss er, noch zu warten, ehe er mit der Suche begann.

Nach etwa zehn Minuten machte er sich auf den Weg in die gleiche Richtung wie Tess zuvor. Wegen der Finsternis und seiner offensichtlichen Hörschwäche ging er jeweils mehrere Schritte und blieb dann stehen, um zu lauschen. Beim dritten Mal hörte er etwas, das seine Alarmglocken läuten ließ. Er ging in die Hocke und lauschte. Zunächst konnte er es nicht einordnen, doch dann kam es näher, was auch immer es war. Schließlich machte er ein Keuchen und Schnaufen aus, gefolgt von einer bekannten Stimme: Tess.

«Psst, psst!«, zischte Devin.

«Was treibst du hier draußen? Ich sagte doch, du sollst dich auf die Lauer legen«, flüsterte Tess, während sie auf ihn zukam.

«Ich, äh … Du bist spät dran«, erwiderte er. Dann fiel ihm auf, dass sie nicht allein war.»Wer ist da bei dir?«

«Gehen wir zurück ins Feld.«

Devin folgte ihr und dem Unbekannten in die Maispflanzen.

«Du hast über eine halbe Stunde länger gebraucht, also wollte ich nach Brando und dir suchen. Übrigens, wo ist er?«

Wie auf Kommando sprang der Hund in ihr Versteck und rieb seine Schnauze an Devin.

Dieser erwiderte Brandos liebevolle Geste, indem er seinen Kopf kraulte.

«Äh, wer ist unser Gast?«, versuchte er wieder.

«Devin, darf ich vorstellen? Brianna. Brianna, das ist Devin«, sagte Tess.

«Hi«, grüßte das Mädchen verhalten.

«Hi, Brianna, freut mich, dich kennenzulernen«, entgegnete Devin, bevor er sich Tess zukehrte und fragte:»Was ist passiert?«

«Das ist schnell erklärt: Diese Soldaten … Sagen wir einfach, sie gehören nicht zu den guten Jungs. Es handelt sich um eine Miliz, die wohl zufällig zu einer Menge Kampfmittel gekommen ist. Wie es aussieht, ziehen sie von Stadt zu Stadt, um zu vergewaltigen und zu stehlen.«

«Ach, wenn’s weiter nichts ist«, winkte Devin ab.

«Brianna hier versteckte sich hinter ihrem Haus. Brando fand sie zuerst. Sie hat die Seuche überlebt, und nun wäre sie beinahe Gefahr gelaufen, von diesen Schweinen missbraucht und umgebracht zu werden.«

«Mir ist nichts passiert. Ich reagierte schnell, als ich erkannte, dass sie nicht freundlich sind«, sagte Brianna.

«Wie alt bist du?«Devin war neugierig.

«17. «

«Und jetzt?«, fragte er Tess.

«Wir verschwinden von hier.«

«Gut.«

«Der Rand des Maisfeldes verläuft ungefähr von Nord nach Süd. Wir folgen ihm und versuchen, möglichst weit zu kommen, solange es dunkel ist, und schlafen morgen am Tag.«

«Das klingt nach einem schlüssigen Plan«, fand Devin und zog seinen Rucksack an.

«Danke, dass ihr mir helft«, sagte Brianna.

«Warst du allein?«, wollte Devin wissen.

«Ja, meine Eltern sind vor sechs Monaten gestorben. Seitdem schlage ich mich auf eigene Faust durch. Wir waren eine kleine Gruppe Überlebender.«

«Sprechen wir unterwegs weiter. Ich möchte so weit wie möglich von der Stadt und diesen Typen wegkommen«, warf Tess ein. Sie nahm Leuchtstäbe aus ihrem Rucksack, knickte sie um und schüttelte. Dann drückte sie einen in Devins Hand und befestigte den nächsten an Brandos Halsband. Als sie zu Brianna ging, um ihr den letzten zu geben, sah sie deren Gesicht endlich genau.

Das Mädchen hatte sein naturblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Der Blick ihrer tiefblauen Augen zeugte von Dankbarkeit; sie streckte eine Hand aus und berührte Tess’ Arm.

«Dankeschön, du hast mir das Leben gerettet.«

«Nicht der Rede wert. Ich bin froh, da gewesen zu sein.«

«Sag, ist es dort, wo wir hingehen, sicher?«

«Liebes, ich glaube nicht, dass es noch sichere Orte gibt.«

THE DEATH – Die Trilogie (Bundle)

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