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THE DEATH – QUARANTÄNE
Tag 187

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6. April 2021

Drei Meilen nördlich von Reed, Illinois

Die Blätter der Bäume rauschten im leichten, warmen Wind, der von Südwesten her wehte. Es war früher Nachmittag, die Sonne stand hoch am Himmel und schien hell vor tiefblauem Hintergrund. Brianna strahlte, während sie das langsame Spiel der Äste im Wind beobachtete. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie Notiz von der rauen Schönheit der Natur genommen. Es war etwas, das ihr die Seuche wiedergegeben hatte – eine Verbindung zur Wirklichkeit und Natur. Außerdem war sie seit dem Tod ihrer Eltern dazu gekommen, darüber nachzudenken, welche Bedeutung alledem innewohnen mochte. Zunächst hatte sie wie so viele andere auch das Warum ergründen wollen, ehe sie zum Wie – Wie überleben? – übergegangen war, denn der Tod – also das Virus – hatte nur den Beginn des Elends markiert. Bald war den Überlebenden klar geworden, dass alles folgende Übel von Mitmenschen losgetreten werden sollte. Brianna hatte sich schnell angepasst und festgestellt, dass sie eine innere Stärke besaß, die ihr bis dahin nicht bewusst gewesen war. Tess’ unruhiger Schlaf holte das Mädchen ins Hier und Jetzt zurück. Es warf einen Blick auf die Ältere und machte eine dünne Schweißschicht aus, die auf ihrer Stirn glänzte. Da Brianna sich um ihren Zustand sorgte, ging sie zu Devin und weckte ihn.

«He, psst. Devin, wach auf.«

Er öffnete die Augen und fuhr ruckartig hoch.»Ist alles in Ordnung?«

«Ja und nein.«

«Worum geht es?«, fragte er, rieb sich den Schlaf aus den Augen und stand schnell auf.

«Es ist wegen Tess; sie sieht nicht gut aus. Ich mache mir Sorgen um sie.«

Als Devin zu Tess hinüberschaute, bemerkte er die nasse Stirn und ihre bebende Unterlippe ebenfalls. Auch Brando wusste wohl, dass etwas nicht stimmte, denn er lag neben ihr und stieß ab und zu mit seiner Schnauze gegen ihr Bein.

Devin ging zu Tess, kniete sich hin und legte eine Hand auf ihre Stirn.»Oh mein Gott, sie kocht ja regelrecht.«

«Glaubst du, es ist der Tod?«Brianna fürchtete um Tess und sich selbst.

«Unmöglich, sie ist immun wie wir beide.«

«Vielleicht ist das Virus mutiert«, meinte das Mädchen.

Devin wollte ihr widersprechen, aber so abwegig war der Gedanke nicht. Warum sollte sich der Erreger nicht verändern können?

«In ihrem Rucksack ist ein Handtuch; holst du es mir bitte?«

Brianna tat es, während er eine Flasche Wasser aufschraubte. Nachdem er das Handtuch befeuchtet hatte, rieb er Tess die Arme, den Hals und das Gesicht damit ab.

Sie schlug die Augen auf und murmelte etwas, doch es war nicht zu verstehen.

«Tess, was fehlt dir? Kannst du es uns sagen?«, bat Devin.

Sie langte mit zittriger Hand nach unten und zog ihr nasses T-Shirt hoch, um ihnen die mittlerweile schmutzige, blutgetränkte Bandage zu zeigen.

«Sie ist verletzt«, bemerkte Brianna entsetzt.

«Ja, sie wurde vor knapp einer Woche angeschossen.«

«Angeschossen?«

«Genau, aber die Wunde wurde seitdem mindestens zweimal versorgt. Offensichtlich hat sie sich entzündet.«

Er zog das Klebeband ab und klappte den Verband auf. Dann griff er zum Wasserstoffperoxid und goss etwas auf den Mull, um ihn gegen die Wunde zu drücken, woraufhin gelbbrauner Eiter herausquoll.

«Tatsächlich entzündet. Äh, Tess, du hast nicht zufällig Antibiotika in der Tasche?«

Sie brachte ein schwaches» Nein «hervor.

«Scheiße«, fluchte er.

«Ein paar Meilen von hier gibt es noch eine Stadt«, gab Brianna an.

«Und mir ist keine Viertelmeile von hier ein Bauernhaus aufgefallen. Das wäre wohl ein guter erster Versuch, um Medikamente zu finden.«

«Was sollen wir tun?«

Tess packte Devins Arm und drückte ihn leicht.

Er blickte in ihre blutunterlaufenen, sehnsüchtigen Augen. Sie brauchte nicht auszusprechen, was sie wollte, denn er wusste es auch so: Er musste Entschlossenheit zeigen, wie Tess es tun würde.

«Wir gehen zu diesem Haus. Dort ist sehr wahrscheinlich niemand. In der Stadt könnten sich andere Gefahren auftun. Hilf mir, sie aufzurichten.«

Gemeinsam zogen sie Tess auf die Beine und machten sich auf den Weg zu dem Bauernhaus.

Internationaler Flughafen von Denver

Lori sah sich in der lauten, vollen Cafeteria um. Dies wurde zu einem morgendlichen Ritual, das sie zusehends frustrierte, weil es schwierig war, einen Platz zu finden. Langsam drängelte sie sich durch die Menge schnatternder Menschen, doch ein freier Stuhl ließ sich nicht finden.»Hier wäre noch Platz«, meinte eine Stimme von einem Tisch hinter ihr.

Sie drehte sich um und sah einen Mann in Militäruniform, der ihren Blick erwiderte.

Er winkte und wiederholte seine Bemerkung, ehe er sich an seinen Nachbarn wandte.»Rutsch rüber«, verlangte er,»und lass die Lady Platz nehmen.«

Sie antwortete mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch.»Äh, das sieht eng aus. Danke, ich finde schon was.«

«Nein, ich bestehe darauf«, erwiderte der Mann, während der andere wegrückte, woraufhin eine Lücke zwischen den beiden entstand.

Lori schaute sich nach einem anderen Platz um, an dem sie nicht unter jungen Militärs sitzen würde, doch offensichtlich blieb die angebotene Bank ihre einzige Option.

«Besten Dank«, sagte sie, stellte ihr Tablett ab und setzte sich. Als sie ihr Haar nervös hinter die Ohren schob, sah sie den attraktiven Offizier an, der ihr das Angebot gemacht hatte.

«Hi, ich bin Captain Travis Priddy, US Marinekorps«, stellte er sich grinsend vor.

Lori erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln.»Hallo, Captain, mein Name ist Lori. «Er war ihr durchaus sympathisch, was auch ein Grund dafür gewesen sein mochte, dass sie sich zunächst nicht hatte setzen wollen. Seit je verhielt sie sich unsagbar schüchtern, wenn sie jemanden anziehend fand, dem sie begegnete. Obwohl sie wieder eine glückliche Ehe mit David führte, konnte sie nicht anders reagieren, wenn sie auf einen Mann traf, der ihrem Typ entsprach – so wie Captain Priddy. Er war groß – knapp zwei Meter – und schlank, glatt rasiert mit hellbraunem, geschorenem Haar und leuchtenden Augen. Sie schätzte ihn auf Ende 20, womit er gut zehn Jahre jünger wäre als sie selbst.

«Einen Platz zum Frühstücken zu finden, ist die Hölle, nicht wahr?«

«Ja, ist definitiv nicht leicht. Die sollten in Erwägung ziehen, eine zweite Cafeteria zu eröffnen.«

«Das wird bald nicht mehr nötig sein. Viele von uns rücken ab.«

«Oh, wohin denn?«, fragte sie interessiert.

Er bemerkte, dass er sich verplappert hatte. Immerhin kannte er sie nicht, also wich er aus:»Zurück ins Feld zu dieser und jener Mission drüben im Westen.«

«Welche genau?«

Er stellte fest, dass er sich eine dicke Suppe eingebrockt hatte.»Tut mir leid, aber wenn ich Ihnen das erzähle, muss ich Sie töten.«

Sie kicherte und entgegnete:»Hier ist alles eine einzige Geheimniskrämerei.«

«Kann man so sagen.«

«Na gut, worin besteht denn Ihre Aufgabe, abgesehen von Feldeinsätzen und verdeckten Missionen, falls Sie mir das sagen dürfen?«

«Ich bin Kompanieführer der Infanterie – oder für Nichtfachleute: Ich kommandiere einen Haufen Fußtruppen herum.«

«Nun, die Tatsache, dass Sie Befehlshaber sind, lässt darauf schließen, dass Sie etwas im Kopf haben. Auf welchem College waren Sie?«

«Auf keinem, von dem Sie je gehört haben. Was ist mit Ihnen? Was treiben Sie auf dem DIA?«

«Wie war das noch gleich vorhin, von wegen erzählen und töten müssen?«, witzelte sie.

«Der Punkt geht an Sie.«

«Ich kann Ihnen nicht erzählen, an welchem Projekt ich arbeite, aber ich bin Architektin.«

«Bingo!«

«Hm?«

«Ich weiß, was Sie hier tun.«

«Ach ja?«

«Sie entwerfen Pläne für Arcadia. Das passt genau, denn ich hörte, dass man ein neues Team zusammengestellt hat … also nach der Sache mit dem letzten.«

Lori blickte verwundert drein und legte ihre Gabel nieder.»Was für eine Sache meinen Sie?«

«Darüber wurden Sie nicht informiert?«

«Tun Sie’s.«

«Das sind wirklich abenteuerliche Zustände hier. Die da oben lassen den Rest immerzu im Dunkeln tappen, egal worum es geht. Kein Wunder, dass so viele Gerüchte im Umlauf sind.«

«Moment mal, warten Sie: Was ist mit dem ersten Team passiert? Sie meinen, bevor ich hier ankam, waren schon andere Personen mit der Planung von Arcadia beschäftigt gewesen?«

«Richtig, Sie sind nicht die Erste.«

Zweifel begannen wieder an Lori zu nagen. Sie wollte unbedingt wissen, was mit jener Belegschaft geschehen war und wieso man ihr das verschwiegen hatte.»Sagen Sie schon, was war da los?«

«Sie kamen vor nicht ganz zwei Wochen während einer Untersuchung im Tal ums Leben. Übrigens habe ich mitbekommen, dass neulich auch Ihr Team dort angegriffen wurde.«

«Ja, das stimmt.«

Travis neigte sich zur Seite und flüsterte:»Sagen Sie es niemandem weiter, aber aus dem Grund rücken wir in etwa drei Wochen von hier ab. Wir werden eine andere Marinekompanie dort draußen ablösen. Unser Auftrag ist eigentlich nicht streng geheim; wir sollen die Einheiten unterstützen, die permanent dort stationiert sind, und die Scraps auskundschaften, um sie dann zu zerschlagen.«

Lori schüttelte ungläubig den Kopf.»Entschuldigen Sie bitte, ich muss los. Mir ist auf einmal der Appetit vergangen«, sagte sie und stand schnell auf.

«Sorry, ich wollte Sie nicht vertreiben.«

Lori erkannte, dass sie ein wenig unhöflich war.»Danke für den Platz und die Informationen. Leider sieht es so aus, als seien mir Letztere wichtiger als Ersterer.«

«Kein Problem.«

Sie drehte sich um und ging einen Schritt, da rief er:»Lori, eine Sache noch.«

Sie kehrte sich ihm wieder zu.

Er winkte sie näher.»Wenn Sie mich fragen, ist hier etwas nicht ganz koscher. Achten Sie einfach auf sich, und seien Sie auf der Hut, okay?«

«Danke, Captain, genau das werde ich tun. «Lori nickte, wandte sich wieder ab und ging zu einem Telefon für interne Anrufe an der hinteren Wand der Cafeteria. Sie hob den Hörer ab, nahm den Zettel heraus, den ihr der Kanzler gegeben hatte, und wählte die obere Nummer. Es läutete dreimal, dann meldete er sich unvermittelt:»Horton hier?«

«Kanzler, ich bin es, Lori Roberts. Verzeihen Sie die Störung, doch Sie meinten, ich dürfte Sie jederzeit kontaktieren, falls ich weitere Fragen habe, und na ja … die habe ich.«

«Treffen wir uns oben in meinem Büro?«

«Danke, ich bin sofort da.«

«Dann bis gleich.«

Lori legte auf und verließ zügig den Saal. Erneut schwirrten Fragezeichen durch ihren Kopf, doch die sollten jetzt endgültig aus der Welt geschafft werden.

Drei Meilen nördlich von Reed, Illinois

Das Bauernhaus wirkte verlassen, doch das traf in diesen Zeiten auf jedes Haus zu. Devin war nervös. Ihm fiel auf, dass er sich ganz selbstverständlich auf Tess als Führungsperson verlassen hatte, seit sie gemeinsam unterwegs waren, musste aber jetzt selbst derjenige sein, der Entscheidungen traf.»Brianna, du bleibst hier bei Brando und Tess«, wies er sie an, während er die Verwundete behutsam auf den Boden legte.»Ich sehe mich mal um.«

Das Mädchen nickte.

«Versteckt euch hier«, fuhr er fort,»und lasst euch nicht blicken, bis ich rufe.«

Er ließ sie in einem Dickicht aus alten Eichen und Sträuchern zurück, das dreißig Fuß abseits der Einfahrt zum Bauernhof lag.

Während er dem Weg zum Haus folgte, ließ er seinen Blick unruhig umherschweifen, um jedwede mögliche Bedrohung aufzuspüren. Als er den Vorbau ungehindert erreicht hatte, sah er sich noch einmal gründlich um. Nichts gab Anlass zur Besorgnis, also stieg er die paar Stufen zur Veranda hinauf. Bis zur Haustür waren es nur fünf Fuß, und er hielt es für eine gute Idee, erst einmal anzuklopfen. Als er gerade seine Hand hob, hörte er ein Geräusch, von dem er sofort ein flaues Gefühl im Magen und Gänsehaut bekam: das Klicken eines Repetiergewehrs, das durchgeladen wurde.

«Ich heiße Devin und brauche Hilfe«, sagte er.»Meine Freundin ist verletzt. Sie benötigt Antibiotika, bitte helfen Sie mir. Ich führe nichts Unlauteres im Schilde. «Er hielt die Hände hoch, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.

«Verschwinden Sie, wir wollen Sie hier nicht haben«, gab eine grantige Männerstimme zurück.

«Bitte, wir brauchen ein Antibiotikum. Sie können es mir zuwerfen, falls Sie etwas da haben, ja?«

Der Mann wurde laut.»Hauen Sie verflucht noch mal ab, wir sind nicht die Wohlfahrt!«

«Bitte.«

«Weg von hier, oder ich knall Sie ab.«

Devin gab nach.»Nicht schießen, ich gehe.«

Er hatte den Mann noch nicht gesehen, wusste aber, dass er irgendwo in der rechten Ecke des Vorbaus stand. Eine starke Verzweiflung überwältigte ihn, sodass er sich zu der Seite drehte, von der die Stimme kam.»Sir, bitte, falls Sie etwas abgeben könnten, wäre das sehr nett von Ihnen. Ich bin nicht hier, um Ärger zu machen. «Sein Blick fiel auf den Mann und den Lauf des Gewehrs. Gleich hinter ihm machte er einen kleinen Jungen aus, der kaum älter als sechs sein mochte. Der Mann war stämmig und trug einen braunroten Vollbart. Sein Haar hing unter einer alten Mütze herunter, wie sie Lkw-Fahrer trugen.

«Sir, ich bin mit einer Frau und einem Mädchen unterwegs. Die Frau, Tess, wurde angeschossen, und die Wunde hat sich entzündet. Ich brauche nichts weiter als Antibiotika«, legte Devin noch einmal dar.

«Ach, Daryl, das reicht jetzt, der Bursche scheint ehrlich zu sein. Gib ihm einfach eine Packung Zithromax oder so«, warf die Stimme einer Frau hinter einem Fenster aus dem Haus her ein.

«Mary, halt du dich raus«, rief Daryl.

«Um Himmels willen, er macht nicht den Eindruck, als könne er jemandem ein Haar krümmen«, hielt Mary dagegen.

«Daryl, mein Name lautet Devin Chase. Ich bin immun und nicht hier, um Ihnen oder Ihrer Familie etwas zu tun.«

«Wie kann ich mir da sicher sein, hä? Woher weiß ich, dass Ihre Räuberbande nicht hinter der Ecke lauert?«

«Wenn das so wäre, würde ich nicht hier stehen. Wir hätten Ihr Haus angegriffen, ohne zu fragen. Wir hätten einfach das Feuer eröffnet, und glauben Sie mir, solche Typen sind mir schon über den Weg gelaufen, aber ich bin keiner von ihnen.«

«Schaffen Sie die Frau her, ich will sie selbst sehen«, räumte Daryl ein und klang weniger grob als zuvor.

«Vielen Dank, warten Sie, bitte«, entgegnete Devin und gab seine Erleichterung mit einem Lächeln preis. Ohne weiter zu warten, drehte er sich um, sprang von der Veranda und lief die Einfahrt hinunter auf das Versteck seiner beiden Begleiterinnen zu. Als er sie erreichte, war Tess zwar immer noch apathisch, aber immerhin so weit zu Kräften gekommen, dass sie aufrecht sitzen konnte.

«Ich habe jemanden gefunden, der uns hilft, doch ich soll dich zuerst vorzeigen, um zu beweisen, dass ich nicht lüge.«

Tess erwiderte nichts, sondern hob nur einen Arm zum Zeichen dafür, dass sie zustimmte.

Er half ihr, aufzustehen. Sie drückte seinen Arm und flüsterte:»Lass Bri und Brando mitkommen. Gib ihr meine Pistole.«

«Ich sagte dem Mann …«

«Du kannst nicht wissen, worauf wir uns einlassen.«

Devin drehte sich um und gab Brianna entsprechende Anweisungen. Gemeinsam begaben sie sich auf den Weg.»Bald bist du wieder gesund«, beteuerte er.

Am Treppenabsatz erkannte Devin eine Frau, die wohl Mary sein musste.»Bringen Sie sie herauf«, sagte Mary und trat zurück, um das Fliegengitter vor der Tür aufzuziehen.

Devin schaute sich nach Daryl um, doch der war unauffindbar. Sie betraten das Haus.

Mary folgte ihnen und erklärte:»Gehen Sie rechtsherum und dann ins erste Zimmer auf der rechten Seite. Dort können Sie sie aufs Bett legen.«

Devin hielt sich daran.

Mary trat neben das Bett und fragte:»Wo wurden Sie verletzt?«

Tess hob langsam ihr Shirt hoch.

«Tatsächlich, das ist eine Entzündung. Warten Sie hier, ich bin gleich wieder da«, sagte Mary und verließ den Raum.

Kurze Zeit später kehrte die Hausherrin mit einem Arzneimittelkasten, einer kleinen Schüssel Wasser und einem vollen Trinkglas zurück. Dann begann sie, sich um Tess’ Wunde zu kümmern.

Daryl erschien in der Tür und sagte zu Devin gewandt:»Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«

«Selbstverständlich.«

Die beiden Männer gingen nach draußen, und Daryl wies Devin darauf hin, wie es unter seinem Dach ablaufen sollte. Am Ende warnte er ihn davor, irgendwelche Tricks zu versuchen. Devin stimmte allen seinen Forderungen zu.

«Woher kommen Sie?«, fragte Daryl dann.

«New York City.«

«Sie haben den weiten Weg von dort bis hierher zurückgelegt?«

«Nein, nicht ganz. Ich wohnte in New York und landete vor sechs Monaten in Decatur. Dort versteckte ich mich auf einer Farm wie dieser. Seit ein paar Tagen bin ich nun mit Tess und dem Mädchen unterwegs – Brianna, die wir in Lovington vor Gesindel gerettet haben.«

«Sie waren in Lovington?«

«Ja, vor drei Tagen.«

«Sind Sie zufällig Turners Raiders begegnet?«

«Ich weiß nicht, wer das ist, aber wir flohen vor einer kleinen Armee von Männern mit Militärausrüstung.«

«Das waren sie. Die Dreckskerle ziehen durchs Land, um Frauen zu vergewaltigen und Häuser zu plündern.«

«Ich habe keine Ahnung, wer sie sind und was sie im Schilde führen, würde Ihnen aber beipflichten, was die Einschätzung Dreckskerle angeht.«

«Erzählen Sie mir mehr: Wann haben Sie sie gesehen? Waren sie da gerade erst angekommen? Wohin, glauben Sie, fahren sie als Nächstes? Wie viele sind es?«, drängte Daryl.

«Wie gesagt, das war vor drei Tagen, und sie hatten die Stadt gerade erst erreicht, stürzten sich aber schon auf die Überlebenden dort. Wohin sie unterwegs sind, weiß ich nicht, doch gezählt habe ich zwei Dutzend Fahrzeuge – Panzer – und ungefähr 200 bewaffnete Männer.«

Devin erkannte an Daryls bärtigen Zügen, dass er es mit der Angst zu tun bekam.

«Ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Dafür, dass wir Ihre Freundin pflegen, müssen Sie mit mir kommen.«

«Wohin?«

«In unsere Stadt. Wir werden den Bürgermeister warnen; man muss Vorkehrungen treffen.«

Internationaler Flughafen von Denver

Kanzler Horton schickte seinen Stab fort und verschob Termine, um sich Zeit für Lori zu nehmen. Während er darauf wartete, dass sie im Büro eintraf, wusch er sich, putzte seine Zähne und kämmte sein dichtes Haar. Es klopfte.»Ist offen«, rief er.»Kommen Sie herein.«

Die schwere Metalltür ging auf, und Lori betrat den Raum. Als er sie anschaute, bemerkte er, dass sie wieder ziemlich aufgewühlt war. Er fand sie äußerst interessant, nicht zuletzt deshalb, weil die meisten Menschen die Umstände, unter denen sie jetzt hier leben durfte, als ideal empfunden und nichts hinterfragt hätten.

Sie stellte sich vor seinen Schreibtisch und wartete darauf, dass er sie bat, Platz zu nehmen.

Während er einen kleinen Kühlschrank in der Ecke des Büros öffnete, fragte er:»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ich habe Limonade, Saft, Bier, Wasser, was Sie wollen.«

«Ich will Antworten, nicht mehr und nicht weniger«, erwiderte sie gereizt.

«Mrs. Roberts – oder darf ich Sie Lori nennen?«

«Stimmt es, dass ein erstes Team, das mit diesem Projekt betraut wurde, bei einem Anschlag ums Leben kam?«

Er nahm ein Bier heraus, zog den Kronkorken ab und begann, die bernsteinfarbene Flüssigkeit in ein Pintglas zu füllen.

«Hören Sie mir zu?«

Das tat er – aufmerksam und gut unterhalten von ihrer Angriffslustigkeit, obwohl er wusste, dass er die Kontrolle über diese Auseinandersetzung übernehmen musste, und zwar schnell. Wenn er eines im Leben gelernt hatte, dann war es, in jeder Situation die Oberhand zu behalten.

«Mrs. Roberts, bitte setzen und beruhigen Sie sich«, entgegnete er leise und zeigte auf den Ledersessel vor seinem Tisch.

«Ich beruhige mich nicht, solange Sie mir keinen reinen Wein einschenken.«

Nun sollte sie erfahren, dass auch er ein Machtwort sprechen konnte und sich nicht herumschubsen lassen wollte.»Mrs. Roberts, setzen Sie sich dorthin und halten Sie den Mund. Andernfalls können Sie zusammenpacken und in das schmutzige, kleine Lager zurückkehren, aus dem Sie gekommen sind, und werden nie wieder eine Chance erhalten, es zu verlassen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Lori riss ihre Augen auf, da seine rigorose Art sie verwirrte.

«Habe ich mich klar ausgedrückt? Die Antwort ist einfach, ja oder nein. Falls Sie mir keine geben können, verschwinden Sie. Ich werde Sie dann mit dem ersten Transporter zurück ins Lager bringen lassen.«

«Ja«, sagte sie endlich und ließ sich nieder.

«Gut, das freut mich zu hören. Mrs. Roberts, wir haben Sie dazu erwählt, einen wesentlichen Teil zum Gelingen dieses Projekts beizutragen, aber glauben Sie nicht, hier gehe es zu wie in Ihrem alten Unternehmen. Ihnen gehört hier nichts, Sie bestimmen nichts – gar nichts tun Sie, es sei denn, wir halten Sie dazu an. Etwas zu verlangen, steht Ihnen auch nicht zu. Dies ist unser Projekt, und Ihr Fachwissen wurde hinlänglich dokumentiert, doch täuschen Sie sich nicht: Wir werden jemand anderen finden, falls es mit Ihnen nicht klappt, und ich darf bemerken, offiziell zur Kenntnis genommen zu haben, dass ebendieser Eindruck gerade besteht.«

Langsam bereute Lori ihr Verhalten und bekam Angst, sich dadurch in Bedrängnis gebracht zu haben. Sie war es gewohnt, der Boss zu sein und Befehle zu erteilen, statt sie entgegenzunehmen.

«Kanzler Horton, ich bitte um Verzeihung. Wirklich, ich würde gern hierbleiben und an diesem Projekt arbeiten. Um ehrlich zu sein, bin ich nur … beunruhigt. Ich mag Ungewissheit nicht und hasse es, nicht über alles Bescheid zu wissen.«

«Mrs. Roberts, gewöhnen Sie sich daran. Dort draußen gibt es Tausende Menschen in Lagern von Kanada bis Mexiko, die Ihre Aufgabe sofort und ohne Fragen übernehmen würden. Darunter befinden sich auch Architekten wie Sie, gleichwohl weniger bewandert, aber auch mit diesen Personen ließe sich arbeiten. Mit Talent kommt man nur bis zu einem bestimmten Punkt; Sie müssen in der Lage sein, mit anderen an einem Strang zu ziehen. Können Sie das nicht, lösen Sie keine Probleme, sondern werden selbst zu einem. Wir haben schon genug um die Ohren, was uns Kummer bereitet, und brauchen bestimmt kein pflegeaufwendiges Personal, das ständig irgendetwas verlangt oder hinterfragt.«

Lori war nun wirklich in Sorge, sie könnte sich den Weg verbaut haben, um ihren Mann und ihren Sohn ins Camp Sierra zu holen.»Kanzler Horton, bitte, es tut mir aufrichtig leid …«

Er liebte dieses Kriecherische, Flehentliche. Sein Plan war aufgegangen: Er saß am längeren Hebel und übte jetzt Druck aus, um zu bekommen, was auch immer er wollte – sogar sie selbst, sollte ihm danach sein.

«Mrs. Roberts, ich bin froh, dass Sie das anscheinend begreifen. Nun gut, da Sie sich nun gefasst haben: Womit kann ich Ihnen dienen?«Er setzte sich ihr gegenüber und trank von seinem Bier.

Lori überlegte. Er behielt recht; sie befand sich in keinerlei Position, um Ansprüche geltend zu machen, auch und gerade, weil man sie hier nicht weniger als gut behandelte.

«Vergessen Sie’s, ich weiß, Sie sind beschäftigt, und um die Wahrheit zu sagen, möchte ich Sie nicht wieder verärgern.«

«Das ist jetzt vergessen, und ich glaube, Sie verstehen, dass ein lauter Ton und Forderungen bei mir ins Leere laufen. Mit mir lässt sich besser reden, wenn es geruhsam und respektvoll zugeht.«

«Gab es bereits ein Team vor uns, das an dem Projekt gearbeitet hat?«

«Ja, es wurde bei einem Angriff der Scraps ermordet, wie Sie ihn kürzlich in ähnlicher Weise erlebten. Aus dem Grund nahm Chance diesmal einen bewaffneten Osprey und entschied sich, Maggie zurückzulassen, statt die gesamte Besatzung in Gefahr zu bringen.«

«Seine Entscheidung ergibt nun Sinn, da ich den Zusammenhang kenne.«

«Sonst noch etwas?«

«Nein, das war alles.«

«Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nichts zu trinken anbieten darf, irgendetwas? Vielleicht entspannen Sie sich ja bei einem Bier.«

«Nein, Sir, danke. Entschuldigen Sie die Störung und meinen unreifen Ausfall. Das war nicht richtig und hatte nichts mit Professionalität zu tun. Ich hoffe, Sie sehen es mir nach.«

«Alles verziehen, machen Sie sich darüber keine Gedanken.«

Nachdem sie aufgestanden war, ging sie zur Tür, doch er hielt sie zurück.»Mrs. Roberts?«

Sie drehte sich noch einmal um.»Ja?«

«Werden Sie mit mir zu Abend essen, vielleicht morgen? Womöglich ergeben sich weitere Fragen, und ich verspreche, sie alle zu beantworten.«

Lori wusste nicht, wie sie das nun aufnehmen sollte, glaubte jedoch, nachdem er sie gerade bedroht hatte, keine andere Wahl zu haben.»Das werde ich gern. Wann genau?«

«Sagen wir 19:30 Uhr, in meinem Quartier.«

Alles in ihr sträubte sich, jedoch vermochte sie es nicht auszuschlagen.»Das ist wunderbar, danke sehr. Bis morgen.«

«Angenehmen Tag noch, Mrs. Roberts.«

Lori verabschiedete sich noch einmal und ging. Sie konnte sich seiner Gegenwart nicht schnell genug entziehen. Allmählich nahm sie einen merkwürdigen Druck wahr, der von ihrem Brustkorb ausging, und atmete zusehends flacher. Eine Panikattacke. Sie setzte sich auf den erstbesten Stuhl, den sie finden konnte. Minuten vergingen, bis der Schmerz nachließ.

Als sie sich etwas besser fühlte, verspürte sie das starke Bedürfnis, sich zu verkriechen. Sie stürzte aus den Büroräumen, um zu ihrem Quartier zurückzukehren.

Reed, Illinois

Reed erschien wie eine durchschnittliche Kleinstadt im Mittleren Westen und versprühte auch das entsprechende Flair. Darüber hinaus handelte es sich um den Amtssitz des County, also wurde von hier aus auch Lokalpolitik betrieben. Devin war bereit, mit jedem darüber zu sprechen, was er wusste, besonders wenn er dadurch Tess und andere retten konnte.

Daryl hatte ihn in einen Ford F-150 Pick-up ohne Umwege zum zentralen Regierungsgebäude gebracht, dem Sitz von Bürgermeister Thomas Rivers.

Viele Städte waren nach dem Todesvirus zu Tummelplätzen von Chaos und Ausschreitungen geworden. Reed hatte dieses Schicksal nicht erlitten. Bürgermeister Rivers war rasch bewusst geworden, dass er, um die verbliebene Bevölkerung davon abzuhalten, sich gegenseitig umzubringen, wie ein Diktator regieren musste. Seine Handlungsweise hatte zunächst Kontroversen ausgelöst, doch viele waren mit ihm übereingekommen. Daryl hielt sich schon seit Monaten von der Stadt fern, und zwar aus zwei Gründen: Er wollte rein gar nichts mit Rivers’ tyrannischem Machtspiel zu tun haben, und außerdem mochte man ihn hier nicht gerade gern.

Nachdem er mit einer Gruppe von Einwohnern diskutiert hatte, die den Bürgermeister jetzt beschützten, gelang es Daryl, zu ihm gebracht zu werden. Als sie in sein Büro kamen, trat er ohne zu zögern zum Schreibtisch vor und sagte:»Mr. Rivers, wir haben ein Problem!«

«Daryl Jenks, wie komme ich zu der Ehre dieses Besuchs?«, fragte der Bürgermeister hinter dem breiten Mahagonimöbel. Er war ein kleiner Mann, keine eins-siebzig groß, doch hörte man seine dröhnende Stimme, hätte man glatt noch einen halben Meter hinzugerechnet. Was diese hutzelige Statur noch auffälliger machte, war die Tatsache, dass er beinahe all seine Haare verloren und den Rest abrasiert hatte.

«Bürgermeister, dieser Mann war vor drei Tagen in Lovington. Er und seine beiden Mitreisenden flohen von dort, weil Turners Raiders aufkreuzten und begannen, die Stadt zu terrorisieren.«

«Ist das wahr?«, fragte Rivers Devin.

«Absolut.«

«Was sollen wir tun?«, fragte Daryl.

«Wissen wir denn, ob sie hierher kommen?«, wollte der Bürgermeister wissen.

«Ich weiß nicht, wohin sie wollen. Wie gesagt, ich war in Lovington; sie fielen mit einer kleinen Armee in der Stadt ein und fingen an, sich auszutoben. Meine Begleiterinnen und ich verschwanden wenige Stunden nach ihrer Ankunft.«

«Tom, eben weil wir es nicht genau wissen, müssen Sie die Stadt zur Verteidigung wappnen«, betonte Daryl.

Rivers lehnte sich zurück und drehte seinen Sessel, während er sich in Gedanken vertiefte.

«Ich habe vor, mein Anwesen zu schützen, hielt es aber für meine Pflicht, Sie vorzuwarnen«, fuhr Jenks fort.

«Daryl, Sie bringen mich zum Lachen«, erwiderte der Bürgermeister, ehe er sich Devin zukehrte.»Sehen Sie sich den Kerl an; er ist der Vorbereiter-Schrägstrich-Überlebenskünstler schlechthin in dieser Gegend. Nach dem Ausbruch des Virus hier wendeten sich einige Bürger aus der Stadt hilfesuchend an ihn – aber was tat er? Er empfing sie mit seiner Flinte statt mit offenen Armen.«

«Die hab ich auch schon kennengelernt«, bemerkte Devin salopp.

«Was hätte ich tun sollen? Wieso stand ich in der Verantwortung, mich um diejenigen zu kümmern, die sich nicht vorbereitet und mich im Vorfeld sogar verspottet hatten? Ich wusste schon immer, dass etwas passieren würde, also traf ich Vorkehrungen. Ich habe mein eigenes, sauer verdientes Geld dafür verwendet, mich auf meinem Grundstück selbst versorgen und Vorräte anhäufen zu können. Falls Sie alte Wunden aufreißen wollen, drauf geschissen – und auf Sie auch.«

«Da, so kenne ich ihn, den griesgrämigen, alten Jenks. Sie tun es schon wieder – kommen in die Stadt und wollen uns weismachen, dass wir nach Ihren Vorschlägen handeln müssen. Hören Sie, wir waren noch nie wehrhafter als jetzt, denn ich habe mittlerweile meine eigene kleine Armee. Falls sich Turner und seine Raiders im Umkreis blicken lassen, werde ich es erfahren, und dann überlegen wir, wie wir vorgehen. Zwischen uns und Lovington liegt eine Menge Land …«

«Selbstgefällig wie eh und je«, höhnte Daryl.

«Was Sie selbstgefällig nennen, ist für mich das Wissen, woher der Hase läuft.«

«Für mich sind Sie nur ein Idiot.«

Devin verfolgte fasziniert das Streitgespräch.

«Wenn Sie fertig mit Ihren Schmähungen sind, können Sie Ihren rüpelhaften Kadaver aus meinem Büro schieben. Gehen Sie Ihren kleinen Bunker verteidigen, und hoffen Sie darauf, dass Turners Männer nur ja nicht anklopfen, denn die Stadt Reed wird Ihnen keine Schützenhilfe leisten.«

«Ich dachte …«

«Sie dachten was?«

«Ich dachte, wir könnten uns endlich einig werden, um einander unter die Arme zu greifen!«, bemerkte Daryl.

«Das ist es nicht, Jenks, Sie haben endlich eingesehen, dass der einsame Wolf nicht überlebensfähig ist, und sind hergekommen, damit ich Ihnen unter die Arme greife. Tja, das kommt nicht infrage, und jetzt geleiten Sie sich selbst hinaus. «Rivers zeigte auf die breite Holztür.

Daryl grunzte und stürmte hinaus, Devin folgte ihm. So verließen beide das Büro des Bürgermeisters mit sprichwörtlich leeren Händen.

«Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«, fragte Devin.

«Sicher. «Sie saßen wieder im Führerhaus des Pick-ups vor dem Rathaus.

«Die Sache hat offensichtlich eine Vorgeschichte, also was geschah zwischen Ihnen und den Städtern, nachdem der Tod hier grassierte?«

«Die Frage lautet: Was ist nicht geschehen? Mein Gott, Menschen sind ein ungeheuer interessanter Haufen, die ständig irgendeinem Unsinn aufsitzen und sich selbst belügen, um ihren Alltag zu bestehen. Zumindest war es früher so. Bevor das alles passierte, gab man mir in der Stadt den Spitznamen Endzeitjünger, weil ich mich aufs Schlimmste vorbereitete und den Behörden nahelegte, das Gleiche zu tun. Ich besuchte Gemeindeversammlungen und bekniete Bürgermeister, Stadt- und Landrat, gemeinsame Sache zu machen, um den Ort für etwas Unvorhersehbares zu wappnen. Ich bat sie, Vorräte von Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten anzulegen. Müßig zu erwähnen, dass ich ausgelacht wurde; die Einwohner fanden es wichtiger, für jede Saison und Ferienzeit hübsche Spruchbänder zu kaufen, um die Stadt aufzuhübschen, nicht zu vergessen Grünpflanzen und Blumenkästen für die Straßenränder. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen das Herausputzen, aber es geht darum, Prioritäten zu setzen. Das haben sie nicht getan, weil sie glaubten, nichts würde je passieren, und falls doch, so gingen sie davon aus, die Regierung würde schon zur Rettung eilen. Wissen Sie, ein paar Idioten sind sogar in eines dieser Katastrophenschutzlager gezogen. Wir haben nie wieder von ihnen gehört.«

Devin blieb still sitzen und hörte Daryl zu. Er erkannte, dass diese kurze Rede bestens einstudiert war. Aus zweierlei Gründen verkniff er sich jeglichen Kommentar: Erstens zählte er selbst zu den Tölpeln, die sich nicht vorbereitet hatten, und zweitens wäre seine Meinung nicht von Belang gewesen. Ihn beschlich das Gefühl, der Mann wünschte sich einfach nur jemanden, der ihm zuhörte, und war eigentlich gar nicht auf eine richtige Lösung oder einen Kompromiss aus.

Daryl hielt das Lenkrad fest mit beiden Händen umschlossen, während er in Gedanken die früheren Ereignisse Revue passieren ließ, welche zu seiner Entfremdung von der Stadt geführt hatten.

«Also, was war nun los? Der Bürgermeister stellte es so dar, als sei etwas vorgefallen«, drängte Devin schließlich.

«Ach, einige Überlebende, die bemerkten, dass niemand aus meiner Familie starb, kamen und schnüffelten herum, weil sie dachten, ich hätte irgendein Heilmittel. Natürlich war das Quatsch; gegen dieses Elend ist einfach kein Kraut gewachsen. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten daran erkranken und sterben konnte, glaube ich nicht, dass es einen Weg gibt, um zu verhindern, dass man sich diesen Dreck einfängt. «Jenks stockte, als er sich an jenen Moment erinnerte.»Sie beharrten aber darauf, dass ich ihnen das Heilmittel herausrückte. Nun, sagen wir mal so: Die Situation geriet aus den Fugen und artete in Gewalt aus. Einer von ihnen brach bei uns ein. Ich schoss auf ihn und brachte ihn um. Ich hatte keine andere Wahl, verstehen Sie? Ich wollte niemandem etwas tun, doch sie bedrohten meine Familie. Was hätten Sie getan?«

Devin brauchte nicht über seine Antwort nachzudenken. Hätte ihn jemand sieben Monate zuvor gefragt, hätte er sich lang und ausführlich darüber ergangen, aber jetzt nicht mehr.»Ich hätte genauso gehandelt – sie abgeknallt, fertig.«

Daryl schaute ihn an und lächelte.

Nun hatte Devin erfahren, was er wissen wollte: Jenks war vorbereitet gewesen, und diejenigen, auf die das nicht zutraf, wollten Hilfe von ihm, die er ihnen nicht gewähren konnte, und zack – Streit. Typisch menschliches Verhalten. Es gab aber noch etwas, das Devin interessierte.»Wer sind diese Raiders?«

Daryl rutschte herum, starrte ihn an und entgegnete:»Sehr, sehr böse Menschen.«

«Das kann ich mir denken, aber wer genau? Wer ist Turner?«

«Matt Turner ist der Anführer der Raiders, steht aber auch hinter der Republik Ozark. Die Raiders sind seine Armee. Sie ziehen von Stadt zu Stadt und nehmen sich, was sie wollen. Turner gibt vor, Überlebende zu retten, und hat es sogar auf Katastrophenschutzlager abgesehen. In den Ohren einiger klang das, was er trieb, zunächst gut, da er etwas Handfestes in diese unsicheren Zeiten brachte, doch das hat sich geändert.«

«Verzeihung … aber die Republik Ozark, was ist das nun wieder?«, hakte Devin nach.

«Matt Turners Land.«

«Land?«Devin klang spöttisch.

«He, ich lege nur Fakten dar, so wie ich sie kenne. Irgendein Kerl namens Matt Turner steigt aus der Asche dieses Chaos empor, verhilft sich zu einem Gefolge, das zur Armee wird, und behauptet, das Gebiet, das er sich unter den Nagel gerissen hat, sei sein Land.«

«Und wo verlaufen die Grenzen dieser Republik Ozark?«

«Das weiß ich ehrlich gesagt nicht, aber dem Hörensagen nach zählen Missouri sowie Teile von Kansas, Arkansas und Illinois dazu. Seltsamerweise behaupten manche Menschen sogar, Turner sei tot, und seine rechte Hand habe seinen Namen angenommen, daher die veränderte Stoßrichtung.«

«Meine Güte, das ist verrückt. Ich hatte keine Ahnung, was in der Welt vor sich geht.«

«Hier in der Gegend wechseln die Theorien ständig, teilweise auch völlig übergeschnappter Verschwörungskram.«

«Lassen Sie mich raten: Dabei geht es um die Herkunft des Virus?«, meinte Devin.

«Genau. Jeder hat da so seine eigenen Vorstellungen. Ich für meinen Teil mache mir keine Gedanken darüber. Es ist mir egal. Ich wusste von Anfang an, dass alles vor die Hunde gehen würde, und jetzt ist es passiert. Kaum etwas lebt mehr auf der Welt, während wir hier sitzen – zwei einander wildfremde Personen, die über Irre wie Matt Turner sprechen und sich Sorgen machen, eine verbrecherische Rotte falle in der Stadt ein. Stellen Sie sich die Blicke der Menschen vor, wenn ich ihnen gesagt hätte, das würde geschehen.«

Devin kicherte angesichts der Ironie, doch es stimmte: Hätte sich jemand mit ihm zusammengesetzt und ihm die Ereignisse genau so dargelegt, wie sie passiert waren, hätte er ihn für verrückt erklärt.

«Haben Sie von anderen solchen Zusammenschlüssen gehört?«

«Jawohl, Gerüchten zufolge, hat sich der Nordwesten abgespalten, und gewisse Gruppen drüben im Osten stiften Ärger. Doch was dabei auffällt, ist die Teilnahmslosigkeit der Bundesregierung bei alledem.«

«Ich wollte gerade fragen … Wo sind die Army und die Marines, abgesehen von den Lagern der Katastrophenschutzbehörde?«

«Einige sagen, auch dort seien alle gestorben, sodass sich einfach alles aufgelöst hat, doch ein anderes Gerücht besagt, dass sie oben in Colorado sind, in den Bergen, um die Elite zu schützen.«

Erschöpft von all diesen Theorien lehnte sich Devin im Sitz zurück. In gewisser Hinsicht spielte es keine Rolle, wo sie alle im Augenblick waren, denn wenn sie bis jetzt nicht geholfen hatten, würden sie es auch in Zukunft nicht tun, obwohl es wegen Turners Raiders dringend vonnöten gewesen wäre.

«Was haben Sie nun vor?«, fragte Jenks.

«Nun, wenn meine Freundin wieder zusammengeflickt ist, ziehen wir weiter und lassen Sie in Ruhe.«

«Ich hoffe, Sie begreifen, dass ich es nicht persönlich meinte, als ich Sie mit der Waffe bedrohte. Ich mag es eben nicht, wenn Fremde an meine Tür kommen.«

«Sie müssen sich nicht entschuldigen, ich verstehe das. Schließlich tat ich das Gleiche, als Tess bei mir aufkreuzte.«

«Wirklich? Jetzt habe ich kein schlechtes Gewissen mehr. Lassen Sie uns zurückfahren und nachsehen, wie es ihr geht.«

«Sehr gern.«

Daryl startete den Pick-up, und sie verließen die Stadt.

Als sie vor einem Geschäft vorbeifuhren, erblickte Devin mehrere Bürger. Deren Blicke sagten ihm alles; für Daryl hatte man hier wenig übrig. Devin verfügte über die angeborene Gabe, sich in beide Seiten eines Konflikts hineinversetzen zu können. Bislang hatte sich das für ihn ausgezahlt, doch dies waren nun andere Zeiten. Dass Daryl sich vorbereitet hatte, die anderen jedoch nicht, fiel ins Auge, und sich in dieser Welt auf die Seite derjenigen zu schlagen, die über notwendige Mittel verfügten, lag auf der Hand, zumindest wenn man darauf aus war zu überleben.

Devin brauchte etwas Zeit allein und zog sich deshalb auf die Terrasse hinter Jenks’ Haus zurück. Während die Sonne unterging und ein kühler Wind wehte, versuchte er, seine Gedanken zu ordnen, um seinen nächsten Schritt ins Auge zu fassen. Er betrachtete das Gelände ringsum. Es einen Hof zu nennen, wäre übertrieben gewesen; eher handelte es sich um einen Garten mit kleinen Schuppen und einem Gewächshaus am hinteren Ende. Neben diesem stand ein Hühnerstall, der recht gut bestückt sein musste, wie die Geräusche aus seinem Inneren bezeugten. Devin fiel etwas auf; ein Friedhof, ähnlich jenem, den er mit Tess für die Familie seines Cousins in Decatur angelegt hatte. Dieser Anblick versetzte ihn zurück in die Zeit, die er dort mit Cassidy verbracht hatte. Von wegen, die Zeit heilt alle Wunden, dachte er, da er noch immer unter ihrem Tod und der Tatsache litt, sie nicht noch einmal gesehen zu haben. Wieder versetzten ihm die Bilder einen Stich, die über alle Mattscheiben geflimmert waren. Als die Fliegengittertür knarrend aufging, verflüchtigten sich Devins triste Gedanken. Er blickte auf und sah Daryl, der mit einer Flasche und zwei Gläsern herausgekommen war.

«Trinken Sie Alkohol?«

«Ist der Papst katholisch?«

Daryl kam mit müden Schritten näher und ließ sich in dem zweiten Schaukelstuhl nieder. Nachdem er den Stopfen von der Whiskeyflasche gezogen hatte, füllte er die beiden Gläser.

«Hier«, sagte er schließlich, indem er Devin eins reichte.

«Danke, was ist das?«

«Templeton Rye Whiskey, was Besseres gibt es nicht«, antwortete Daryl und hielt sein Glas hoch.

«Prost«, sagte Devin und stieß mit ihm an.

Dann lehnte sich Daryl zurück, nahm einen kräftigen Schluck und raunte wohlgefällig ins Glas.

Devin tat es ihm gleich und nippte an seinem Whiskey. Der Alkohol wärmte seine Lippen und dann die Zunge, eher er seine Kehle hinunterrann. Er hatte nie viel für dieses Getränk übrig gehabt, wollte jetzt aber ganz bestimmt nicht wählerisch sein.

«Sie haben bestimmt kistenweise von diesem Zeug, richtig?«

«Um – wie Sie gerade – mit einer Gegenfrage zu antworten: Scheißt ein Bär in den Wald?«

«Nun, es schmeckt gut, lassen Sie sich das gesagt sein.«

«Aber sicher, das ist guter Stoff.«

Die beiden Männer machten es sich auf ihren Schaukelstühlen bequem und genossen den Whiskey, ohne weitere Worte zu wechseln.

Devin fand Daryls Verhalten sonderbar, wenn er darauf zurückblickte, welchen Empfang er ihm bereitet hatte. Vielleicht gefiel dem Mann seine Gesellschaft, weil ihn in der Stadt niemand leiden konnte.

«Wie lange wohnen Sie schon hier?«, fragte Devin.

«Ungefähr 40 Jahre. Ich bin in der Gegend geboren und aufgewachsen.«

«All die Jahre in diesem Haus?«

«Nein, meine Jugend verbrachte ich etwa drei Meilen von hier entfernt.«

«Leben Ihre Eltern noch?«

«Sie liegen dort drüben, gemeinsam mit meiner Ältesten. Haben es nicht geschafft. «Jenks zeigte auf die Gräber.

Devin bedauerte es, gefragt zu haben.

«Ihrer Freundin geht es schon viel besser«, bemerkte Daryl.»Meine Frau und sie schwatzen miteinander, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen.«

«Tess ist wach?«

«Ja, seit einer Stunde. Sie kam zu sich, kurz, nachdem Sie nach draußen gingen.«

«Ich sollte nach ihr schauen«, erwiderte Devin und beugte sich im Sitz nach vorn.

«Bleiben Sie noch ein bisschen, die beiden unterhalten sich bestens. Es ist lange her, dass Mary mit einer anderen Frau reden konnte. Die Arme sitzt eben auch seit sechs Monaten hier fest.«

«Ich kann Ihnen nicht genug dafür danken, dass Sie uns geholfen haben. Das war sicherlich schwierig für Sie, wenn man bedenkt, wie kaputt die Welt dort draußen ist.«

«War mir ein Vergnügen. Verzeihung noch einmal dafür, dass ich mich wie ein Arschloch benommen habe, aber ich kann nicht einfach jeden hier aufnehmen.«

«Zugegeben, nach allem, was ich heute über die Städter erfahren habe, wundert es mich, dass Sie über Ihren Schatten gesprungen sind.«

«Eigentlich sollten Sie Mary dafür danken; hätte sie sich nicht für Sie eingesetzt, säßen Sie jetzt nicht hier.«

Daryl ließ sich wieder gegen die Rückenlehne sacken und entgegnete:»Dann Hut ab vor Mary.«

«Ihr Hund ist wirklich klug. Wie heißt er?«

«Brando, und ja, er ist klug – wie ein Mensch oder sogar klüger.«

«Und kinderlieb; mein Sohn hat einen Narren an ihm gefressen.«

«Entschuldigen Sie, aber ich habe den Namen des Jungen vergessen.«

«Hudson.«

«Ach ja, richtig.«

«Er ist ein braves Kerlchen, hängt aber noch zu sehr am Rockzipfel seiner Mutter. Seit er seine große Schwester verloren hat, ist er nicht mehr derselbe.«

«Tut mir leid, dass sie gestorben ist.«

«Muss es nicht, Sie hatten nichts damit zu tun. Diese beschissene Krankheit ist schuld, wo auch immer sie herkam. Ich weiß nicht, ob wir das Wie und Woher je herausbekommen werden, aber daran sind mein Mädchen und meine Eltern verreckt, genauso wie 90 Prozent der Weltbevölkerung, sagt man.«

«Daryl, nur damit Sie es wissen, sobald sich Tess wieder rühren kann, verschwinden wir von hier.«

Jenks nippte noch einmal an seinem Glas und erwiderte:»Machen Sie sich darüber jetzt keinen Kopf. Sie dürfen bleiben, solange Sie möchten.«

«Kommt nicht infrage, wir müssen sobald wie möglich aufbrechen.«

«Wohin denn?«

«Nach North Carolina.«

«Was verschlägt Sie denn ausgerechnet dorthin?«

Devin schaute noch einmal tief ins Glas, ehe er es abstellte.»Hoffentlich finden wir dort eine Antwort auf die Frage, warum das alles passiert ist.«

THE DEATH – Die Trilogie (Bundle)

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