Читать книгу Oscar Pistorius - John Carlin - Страница 6

4

Оглавление

Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich Erfolg nach sich zieht.

SIGMUND FREUD

Für Sheila Pistorius stand von Anfang an fest, dass sie ihren Sohn nicht auf eine Sonderschule für behinderte Kinder schicken würde. Oscar besuchte zunächst eine ganz normale Grundschule, und als die Zeit kam, sich für eine weiterführende Schule zu entscheiden, schlug Sheila die Pretoria Boys High School vor, an der nur die besten und stärksten Schüler eines Jahrgangs aufgenommen wurden.

Die Absolventen der Pretoria Boys High waren durchweg Gewinnertypen, absolute Überflieger. Viele Ehemalige machten später Karriere als Sportler, Politiker, Wirtschaftsbosse oder Juristen. Die in ganz Südafrika hoch angesehene Institution war im Jahr 1901 gegründet worden. Sie orientierte sich am Vorbild der strengen und ehrwürdigen britischen Privatschulen, der sogenannten Public Schools. In den Jahren des Apartheidregimes durften die Pretoria Boys High ausschließlich weiße Schüler besuchen. Doch schon um die Zeit von Nelson Mandelas Haftentlassung nahm man dort erste schwarze Schüler auf, weshalb die Schule rasch als aufgeklärte Institution galt. Dieser Ruf hatte sich im Mai 1994 zur Amtseinführung Nelson Mandelas als südafrikanischer Staatspräsident so sehr gefestigt, dass die Schüler der Pretoria Boys High offiziell eingeladen wurden, an diesem wichtigen Ereignis, zu dem bedeutende Gäste aus der ganzen Welt erwartet wurden, teilzunehmen.

Im Jahr 2000, ein Jahr bevor der damals 13-jährige Oscar Pistorius auf die High School ging, hatten er und Sheila ein Gespräch mit Bill Schroder, dem Rektor der Pretoria Boys High. Schroder war ein Hüne von einem Mann, streng, aber gerecht und warmherzig. Er sorgte sich wie ein Vater um seine Schüler, wobei an seiner Highschool die andernorts längst als unzeitgemäß abgeschaffte Prügelstrafe noch immer als Ultimo Ratio betrachtet wurde. Das Schulmotto Virtute et Labore, mit Tugend und Mühe, nahm er sehr ernst und beherzigte diese Werte.

Im Verlauf des Gesprächs, das in Schroders Arbeitszimmer stattfand, fühlte sich dieser zunehmend unwohl in seiner Haut – ein ungewohntes Gefühl für den gestandenen Mann. Die damals 42-jährige Sheila Pistorius war eine attraktive Frau mit einem freundlichen Lächeln und einem temperamentvollen Wesen. Schroder, der eher gewohnt war, andere zu beeindrucken, als selbst beeindruckt zu werden, erinnerte sich noch Jahre später lebhaft an das Gespräch mit ihr. Viele Eltern, die er während seiner Berufsjahre kennengelernt hatte, hat er längst vergessen, diese Dame aber, so sagte er, »war die beeindruckendste Frau, die mir je begegnet ist – ziemlich außergewöhnlich, sie hatte etwas ganz Besonderes an sich.«

Ein solch imposantes Gebäude wie die Schule mit ihrem riesigen Grundstück hatte Pistorius noch nie gesehen, der gesamte Komplex war sehr beeindruckend. Ein düsterer Steintorbogen markierte den Eingang. Das Hauptgebäude sah aus wie ein viktorianischer Palast aus rotem Backstein. Die Wände zierten lateinische Inschriften. Mit auf Holztafeln geschriebenen Namen wurde der Ehemaligen gedacht, die in den beiden Weltkriegen ihr Leben gelassen hatten. Um das Gebäude herum verteilten sich auf einer Fläche von etwa 40 Hektar mehrere Rugby- und Cricketfelder, auf denen eine ganze Reihe der berühmtesten Sportler Südafrikas trainiert hatten. Aus der Sicht eines Kindes war allein das schon ein respekteinflößender Anblick. Der Autorität ausstrahlende Mann, der ihm schräg gegenüber hinter seinem Schreibtisch saß, verstärkte diesen Eindruck noch. Äußerlich merkte man Pistorius davon jedoch nichts an. Der Junge schien in sich zu ruhen, während er schweigend zuhörte, wie Schroder und seine Mutter sich Gedanken über seine Zukunft machten, über seine Stärken und Schwächen sprachen und über die Sportarten, die er ausüben konnte.

Nicht zuletzt das Thema Sport war es, was Schroder sich zunehmend unwohler fühlen ließ. Die Frage, die ihm durch den Kopf ging, seit Mutter und Sohn sein Arbeitszimmer betreten hatten, konnte nicht länger unausgesprochen bleiben. An der Pretoria Boys High hatte man noch nie einen behinderten Schüler ohne Beine gehabt – zumindest nicht, seit er dort Rektor war. Noch heikler wurde das Ganze dadurch, dass sich Pistorius zunächst nur als Tagesschüler einschrieb, jedoch später als Vollzeitschüler das Internat besuchen wollte (an der Pretoria Boys High bot man beide Möglichkeiten an). Die Schule – und damit in letzter Instanz Schroder als Rektor – übernahm eine große Verantwortung, wenn sie diesen Schüler aufnahm. Schließlich schaffte es Schroder doch noch, seine Bedenken behutsam anzusprechen: »Ja, aber ... wird er zurechtkommen?«

Sheila Pistorius sah ihn verblüfft an. Sie tauschte einen Blick mit ihrem Sohn, der nur die Achseln zuckte. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen«, antwortete sie. »Was meinen Sie?« Schroder murmelte etwas von der besonderen Situation des Jungen, seinen, ähm ... Beinprothesen. »Ah«, sagte Sheila Pistorius lächelnd, »ich verstehe. Aber machen Sie sich darum bitte keine Gedanken. Das ist überhaupt kein Problem. Er ist völlig normal!« Sie erklärte, dass sie sich des Rufs der Pretoria Boys High als stark auf den Sport ausgerichteter Schule durchaus bewusst sei, und dass gerade das einer der Gründe sei, warum ihr Sohn dort hingehen wolle. Anschließend zählte sie einige der Sportarten auf, die Pistorius seit seiner frühesten Kindheit ausgeübt hatte: Cricket, Rugby, Fußball, Mountainbikefahren und Ringen, worin er so gut war, dass er sogar mehrere Wettkampfmedaillen gewonnen hatte. Auch im Hinblick auf seine Alltagsmobilität, wenn er nachts zur Toilette müsse oder Ähnliches, gebe es nichts zu befürchten. Seine Prothesen zöge er vor dem Zubettgehen aus, erklärte Sheila, doch kurze Wege könne er auch auf seinen Stümpfen zurücklegen. Der Junge bekräftigte ihre Ausführungen mit einem eifrigen Nicken. Schroder sah erst ihn an, dann seine Mutter. Hätte er nur einen Hauch von Unbehagen in ihrer Stimme oder irgendwelche Anzeichen von Zweifel in seiner Mimik entdeckt, hätte er womöglich gezögert, den Jungen an der Schule aufzunehmen. Doch derlei Anzeichen gab es nicht im Geringsten. Erleichtert und zufrieden verabschiedete er sich von Mutter und Sohn. Der Junge würde sich gut einfügen. Er freue sich schon darauf, sagte er Sheila, ihren Sohn zu Beginn des nächsten Schuljahrs, im Januar 2001, als Schüler willkommen zu heißen.

Für Pistorius hätte es noch eine Alternative zur Pretoria Boys High gegeben, eine zweite renommierte Highschool in Pretoria, die Afrikaanse Hoër Seunskool. Der Konkurrenzkampf zwischen den beiden Lehranstalten war groß, insbesondere beim Rugby. Pistorius’ Vater Henke war auf die Afrikaanse Hoër Seunskool gegangen. Oscar, der auch Afrikaans sprach, entschied sich jedoch für die Schule, in der die Unterrichtssprache Englisch war, was überdies auch die Sprache war, in der er sich mit seiner Mutter unterhielt.

Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als Pistorius sechs war. Henke war ins rund 1000 Kilometer entfernte Port Elizabeth gezogen – was, wie der Zufall es wollte, genau die Stadt an der südafrikanischen Südostküste war, in der Reeva Steenkamp aufwuchs. Der Familie zufolge hielt Henke sich nicht standhaft an den Schwur, den er am Tag der Geburt seines Sohnes so enthusiastisch abgelegt hatte. Er machte sich nicht gänzlich aus dem Staub, zumindest anfangs nicht. Er sah seine drei Kinder alle zwei Wochen, und sie genossen die Zeit mit ihm. Aber bezüglich der finanziellen Unterstützung haperte es. Bis zur Scheidung war Henke der Einzige in der Familie gewesen, der Geld verdiente, und danach kam er seinen finanziellen Verpflichtungen nicht immer nach. Meist war er einfach nicht in der Lage dazu. Sein Haupteinkommen erzielte Henke mit dem Handel von Kalkdünger, aber er war einfach kein Geschäftsmann, dazu fehlte ihm das entsprechende Talent. Manchmal liefen seine Geschäfte gut, dann wieder überhaupt nicht. Er gründete Unternehmen so schnell wie er sie wieder abwickelte, sodass der Rest der Familie nur die Köpfe schüttelte, insbesondere Henkes Brüder, die allesamt erfolgreiche Unternehmer waren.

Sheila und die Kinder mussten in ein kleineres Haus umziehen, und die Mutter war zum ersten Mal im Leben gezwungen, sich eine Arbeit zu suchen. Sie fand eine Stelle als Schulsekretärin, wodurch das bis dahin sehr geregelte Familienleben bei den Pistorius ziemlich durcheinandergewirbelt wurde. Vor allem hatte Sheila nicht mehr so viel Zeit, sich um das Kind zu kümmern, das ihre Zuwendung am meisten brauchte. Auch bei der medizinischen Versorgung ihres Sohnes musste sie fortan Abstriche machen. Einen privaten Orthopädietechniker konnte sie sich einfach nicht mehr leisten, und so ließ sie stattdessen die Prothesen für ihren schnell wachsenden Sohn nun in einem öffentlichen Krankenhaus anpassen. Die Pistorius waren einst eine wohlhabende weiße Familie gewesen in einem Land, in dem sich Weiße in der Regel keine Sorgen um ihr materielles Auskommen machen mussten. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, musste Sheila Pistorius jedoch jeden Pfennig zweimal umdrehen.

Ihr Glück – und zwanzig Jahre später auch das ihres Sohnes – war, dass der Rest des Pistorius-Clans ziemlich vermögend war und dass dieser eher entfernt verwandte Teil der Familie – anders als das schwarze Schaf Henke – durchaus bereit war, sie zu unterstützen. Und so finanzierte nicht etwa Henke das Haus, in das Sheila mit den Kindern umzog, sondern sein wohlhabender Bruder Arnold. Auch die Großmutter väterlicherseits unterstützte die Familie finanziell. Sie hatten zu kämpfen, aber sie mussten nicht hungern. Sheila hatte so wenig Vertrauen in ihren Ex-Mann, dass sie Arnold und dessen Frau – mit fast schon erschreckendem Weitblick – eines Tages bat, für ihre Kinder zu sorgen, falls ihr irgendwann einmal etwas zustoßen sollte. Dazu waren die beiden gerne bereit. Als Pistorius schließlich auf die Pretoria Boys High wechselte, war es ebenfalls Arnold und nicht Henke, der für das Schulgeld aufkam.

Sheila dankte ihrem Schwager für seine Unterstützung, aber vor allem dankte sie Gott. Sie war eine gläubige und engagierte Christin, sie sang im Kirchenchor, reiste zu den Heiligen Stätten nach Jerusalem und erzog ihre Kinder im christlichen Glauben. Das Leben konnte zuweilen hart und grausam sein, wie Jesus am eigenen Leib erfahren hatte, aber der liebe Gott war gütig, er hatte einen Plan. »Nichts passiert ohne Grund«, erklärte Sheila ihrem Sohn. Hinter dem scheinbar willkürlichen Leid, das man erdulden müsse, stecke eine göttliche Vorsehung, eine tiefere Wahrheit. Der liebe Gott war Sheilas Fels in der Brandung, und sie war ein Fels für ihren Sohn. Er nahm an, was sie ihn lehrte, besuchte regelmäßig den Gottesdienst und betete täglich – nicht nur als Kind, auch später als Erwachsener. Sheila war das Zentrum seines kindlichen Universums, die Frau, die dafür gesorgt hat, dass in ihm die Überzeugung reifte, dass er vielleicht anders war als andere, aber trotzdem tun könne, was immer er wolle, wenn er sich voll und ganz mit Körper und Seele dafür einsetze. Auf sie, nicht auf seinen Vater führte er später seinen leidenschaftlichen Ehrgeiz zurück.

Mit den Jahren sah Pistorius seinen Vater immer seltener. Es war seine Mutter, die ihm beibrachte, sich nicht in Selbstmitleid zu ergehen, keine Schwäche zu zeigen, wenn andere ihn wegen seiner Prothesen hänselten, wie es in der Grundschule hin und wieder vorgekommen war. Und sie lehrte ihn, dass man neugierige Fragen von Fremden am besten mit Witzen im Keime erstickt. Er solle sagen, dass seine Füße von einem großen weißen Hai abgebissen worden seien, oder von den großen Vorzügen seiner Prothesen schwärmen. Zum Beispiel konnte er in sie bedenkenlos einen Nagel hineinschlagen, was er manchmal tatsächlich tat, um arglosen neuen Bekannten einen Schrecken einzujagen.

Sheila hielt Wort und machte im Umgang mit ihren Kindern tatsächlich keinen Unterschied zwischen dem behinderten Sohn und seinen beiden Geschwistern. Als er schon berühmt geworden war, ließ es sich Pistorius nicht nehmen, allen möglichen Journalisten bestimmt an die hundert Mal dieselbe Geschichte zu erzählen, nämlich wie seine Mutter ihm jeden Morgen, wenn er sich für die Schule fertigmachte, in demselben Tonfall auftrug, sich die Prothesen anzuziehen, in dem sie seinen Geschwistern sagte, sie sollen sich die Schuhe anziehen. Dass er gerade diese Anekdote für das beste Beispiel hielt, um seine Erziehung zu veranschaulichen, die ihn darin bestärkt hatte, sich über die körperlichen Einschränkungen hinwegzusetzen, verdeutlicht, wie wichtig seine Mutter für ihn war und wie beharrlich sie versuchte, ihn dafür zu entschädigen, dass sie ihn mit diesem unvollkommenen Körper in die Welt gesetzt hatte. Dennoch stieß Pistorius unweigerlich an Grenzen. Es waren Phasen, die sich gelegentlich über mehrere Monate hinziehen konnten. Die Blasen und Schürfwunden an seinen Stümpfen waren zum Teil so schmerzhaft, dass er nicht zur Schule gehen konnte. In dieser Zeit pflegte ihn seine Mutter, sie verarztete seine Wunden und tröstete ihn, strich mit der Hand über sein Haar, während sein Kopf auf ihrem Schoß lag.

Dadurch, dass sie sich weigerte, eine körperliche oder geistige Benachteiligung Oscars aufgrund seiner Behinderung hinzunehmen, trieb Sheila ihren Sohn zu außergewöhnlichen Leistungen an. Sie wäre im Traum nicht auf die Idee gekommen, dass er irgendwann einmal weltberühmt werden würde, was sie aber wusste, war, dass die komischen kleinen Holzbeine, die er als Kind trug, bei anderen Neugier und manchmal auch Spott hervorrufen würden. Um ihm nicht das leiseste Gefühl zu geben, sonderbar zu sein und sich schämen zu müssen, gab sie ihm einen entscheidenden Rat mit auf den Weg: Vergiss niemals, dass die anderen immer das in dir sehen, was du selbst in dir siehst. Pistorius hörte auf seine Mutter und nahm sich ihre Worte zu Herzen. Was sie nicht bedacht hatte, war, dass er dadurch, dass er die Wahrheit vor sich selbst und vor anderen herunterspielte, kurzfristig zwar an Selbstbewusstsein gewinnen mochte, auf lange Sicht jedoch Schwierigkeiten bekam, weil er nicht in der Lage war, sich seinem wahren Ich in seinem unvollständigen Körper zu stellen. Das war für seine emotionale Entwicklung eher problematisch. Manchmal musste sich Pistorius deswegen vielleicht stärker verstellen, als er tatsächlich wollte, musste lachen und sich nach außen hin stark geben, während er tatsächlich unglücklich war oder sich schwach fühlte. Äußerlich entwickelte er dadurch zwar ein hohes Maß an Selbstachtung, zahlte dafür aber mit einer gewissen inneren Zerrissenheit. Denn letzten Endes war es ihm unmöglich, der Mensch zu sein, der er sein wollte, weil er ihn nicht mit dem Menschen, der er war, in Einklang bringen konnte. Der Kampf darum, immer als normal betrachtet zu werden und als jemand, der sich mit seiner Behinderung abgefunden hat, verlangte von ihm ein gewisses Maß an Selbsttäuschung, was Ängste schürte und Stress erzeugte.

Ein Kind, das so sehr an seiner Mutter hängt wie Pistorius es tat, ist sich dieses inneren Zwiespalts allerdings kaum bewusst. Er machte sich zu eigen, was sie ihm beibrachte, und folgte mit tapferer Miene ihrem Vorbild, wenn sie auf Fragen, wie sie denn mit einem Kind ohne Beine zurechtkäme, entgegnete, dass das alles gar kein Problem sei.

Sheila Pistorius spielte ihre Rolle überzeugend. Erst als er erwachsen war, erkannte ihr Sohn, dass auch ihr eigenes Leben seine Schattenseiten hatte, die sie vor anderen zu verbergen suchte. Da waren zum Beispiel die Verzweiflung und der Kummer über ihre unglückliche Ehe, später dann ihr aufreibendes Leben als alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, die gerade so über die Runden kam. Freunde und Bekannte sahen in ihr immer die resolute, gut gelaunte Frau; von ihrem Kummer und ihren Sorgen bekamen sie nur wenig mit. Alle hatten von ihr denselben Eindruck wie der Rektor der Pretoria Boys High. Auch andere Lehrer, die sie kennenlernten, staunten wie »lebhaft, teilnahmsvoll und einzigartig« sie war, wie »quirlig und aufgeräumt«. Ganz genauso beschrieb sie ihr Sohn, als die Presse begann, sich für seine Vergangenheit zu interessieren.

Vielleicht war er sogar noch als Erwachsener davon überzeugt, dass zu Hause alles wunderbar gewesen sei. Vielleicht war es ihm dermaßen zur Gewohnheit geworden, unangenehme Wahrheiten zu verleugnen, dass ihm gar nicht bewusst wurde, dass sich seine Mutter oft in den Schlaf trank. Manchmal war sie sogar so betrunken und schlief so fest, dass sie nachts nicht aufwachte, wenn ihre beiden Jüngsten sie riefen. Dann schlüpfte ihr Ältester Carl in die Rolle des Vaters und versuchte, den Zustand der Mutter vor seinen Geschwistern zu verbergen.

Pistorius blieb es so erspart, seine Mutter als Wrack eines von Pech und Fehlentscheidungen geprägten Lebens betrachten zu müssen, sondern er sah sie als Überlebenskünstlerin und moralisches Vorbild. Alles, was sie ihm beibrachte, lässt sich auf zwei Sätze reduzieren, die so zentral sind, dass er sie auch ganz zu Anfang auf der ersten Seite seiner Autobiografie Blade Runner zitiert – fünf Jahre bevor er Reeva Steenkamp erschoss, zu einer Zeit in seinem Leben, in der es für ihn das Wichtigste war, so schnell zu laufen, wie er nur konnte. Als ihr Sohn gerade fünf Monate alt war, schrieb Sheila eine Botschaft für ihn auf, die sie ihm vorlesen wollte, wenn er erwachsen war. Diese Botschaft lautete: »Der wahre Verlierer ist nicht derjenige, der als Letzter durchs Ziel geht. Der wahre Verlierer ist derjenige, der danebensitzt und sich dem Wettbewerb erst gar nicht stellt.«

Sein ganzes Leben lang blieb seine Mutter die Stimme seines Gewissens. Es ist unglaublich und erschreckend zugleich, wie treffend ihr Leitspruch war – und wie unsagbar traurig, dass es ihr nicht vergönnt war, mitzuerleben, wie ihr Sohn bei etlichen internationalen Wettbewerben antrat, losrannte und tatsächlich als Erster durchs Ziel lief.

Sheila hat in den letzten 15 Jahren ihres Lebens ihre ganze Energie darauf verwendet, das Leben ihres Sohnes nicht so qualvoll werden zu lassen, wie es vom Schicksal vorherbestimmt zu sein schien. Es stand allerdings nicht in ihrer Macht, ihn davor zu bewahren, als Jugendlicher ihren eigenen tragischen Tod verkraften zu müssen.

Acht Jahre nach ihrer Scheidung, acht Jahre in denen sie als Mutter alles gegeben und unermüdlich dafür gesorgt hatte, irgendwie über die Runden zu kommen, heiratete Sheila Bekker einen Piloten, den sie etwa ein Jahr zuvor kennengelernt hatte. Pistorius hatte diese Beziehung zunächst mit gemischten Gefühlen betrachtet. Aber mit der Zeit fasste er Vertrauen zu dem neuen Freund seiner Mutter. Er dachte, dass, wenn sie mit diesem Mann glücklich war, er das auch sein sollte. Im November 2001 fand die Hochzeit statt. Schon im darauffolgenden Monat wurde Sheila krank. Die Ärzte entdeckten einen schweren Leberschaden, stellten jedoch die falsche Diagnose. Sie tippten auf Hepatitis und verschrieben Sheila entsprechende Medikamente, die sie jedoch nicht vertrug. Sheila kam ins Krankenhaus, wo sich ihr Zustand zusehends verschlechterte. Henke bewies daraufhin, dass er zwar seine Fehler hatte, aber beileibe kein Ungeheuer war, sondern – wie es vor allem einige Frauen in der Familie betonten – auch eine liebenswürdige und durchaus vernünftige Seite hatte. Seit der Trennung hatte er zu seiner Ex-Frau nur noch sporadisch Kontakt, wobei sein Umgang mit ihr immer herzlich war. Er hatte sie verlassen und damit tief gekränkt, aber um der Kinder willen hatte sie sich ihre Verbitterung darüber nie anmerken lassen. Jetzt, wo Sheila dringend Hilfe benötigte, wollte Henke sie nicht im Stich lassen. Er wandte sich an seinen alten Freund Gerry Versfeld und sprach mit ihm über die Möglichkeiten einer Lebertransplantation. Dr. Versfeld stellte daraufhin Kontakte zu einigen Spezialisten her. Doch es war bereits zu spät.

Sheilas Tod kam für alle völlig überraschend, weil sie niemandem erzählt hatte, wie schlimm es wirklich um sie stand – was absolut typisch für sie war. Es war der 2. März 2002, Pistorius hatte gerade Geschichtsunterricht; er war in seinem zweiten Jahr an der Pretoria Boys High. Auf einmal kam Bill Schroder ins Klassenzimmer und sagte ihm, dass sein Vater am Schultor auf ihn warte. Zusammen mit seinem Bruder Carl stieg er in Henkes Mercedes, und der Vater raste zum Krankenhaus. Als sie endlich neben Sheilas Bett standen, hatten sie noch zehn Minuten Zeit, sich von ihr zu verabschieden. Andere Familienmitglieder und Freunde waren bereits um Sheila versammelt. Was sie machten, glich jedoch mehr einer Totenwache als einem Abschied. Sheila starb im Koma liegend, mit zahlreichen Schläuchen im Körper, ohne noch einmal jemanden erkannt zu haben. Sie war erst 44 Jahre alt.

Pistorius war damals 15, und er fühlte sich, als hätte er einen Teil von sich selbst verloren. Vollkommen überwältigt von seiner Trauer und zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben erschüttert in seinem Glauben an Gott, versuchte er kurzzeitig, sich mit Marihuana zu betäuben. Er war völlig orientierungslos und praktisch gesehen Vollwaise. Denn mehr als das kurzzeitige Aufflackern väterlicher Zuwendung in der akuten Notsituation hatte Henke nicht zu bieten gehabt. Bevor Pistorius sich zwei Jahre später ernsthaft aufs Sprinten konzentrierte, sah er seinen Vater höchstens zweimal im Jahr. Zu ihm zu ziehen war keine Option für ihn; das Internat war der Ort, der so etwas wie Heimat noch am nächsten kam. Die Ferien verbrachte er bei seiner Tante Diana, der Schwester seiner Mutter, oder bei der Familie seines Onkels Arnold, von der seine kleine Schwester Aimée adoptiert worden war. Aimée war nach dem Tod der Mutter zunächst zu ihrem Vater nach Pretoria gezogen, hielt es jedoch kaum zwei Monate lang dort aus. Und so ließ sie heimlich ihrem Onkel Arnold und seiner Frau Lois durch deren Töchter ausrichten, dass sie lieber bei ihnen leben würde. Sie kamen dem Wunsch ihrer Nichte nach und nahmen sie als fünfte Tochter in ihre Familie auf. Als Reeva starb, lebte sie immer noch bei ihnen.

Aimée und Carl weinten bei der Beerdigung ihrer Mutter, ihr Bruder nicht. Als Oscar nach der Trauerfeier ins Internat zurückkehrte, erzählte er nur wenigen Klassenkameraden, was geschehen war. Doch als er am nächsten Morgen aufwachte, konnte er plötzlich gar nicht mehr aufhören, zu weinen. Mit gerade mal 15 Jahren seine Mutter zu verlieren, ist für jedes Kind ein schrecklicher Verlust, doch für Pistorius war es noch mehr als das. Seine Mutter war der allerwichtigste Mensch für ihn, sie war seine Stütze und sein größtes moralisches Vorbild. Sie hatte seinen Charakter geprägt, seine Stärken ebenso wie seine Schwächen, und selbst nach ihrem Tod beeinflusste sie den Lauf seines Lebens noch in einem Maß, das erst viel später offenbar wurde, als ihn die nächste Tragödie ereilte.

Abgesehen von der Trinkerei hatte Sheila noch eine weitere Eigenart besessen, die Pistorius lieber aus seiner Erinnerung verbannte, wenngleich sie ihn nachhaltig prägte: Sheila hatte eine ungeheure Angst vor Einbrechern gehabt. Sie hatte in der ständigen Furcht gelebt, dass jemand in ihr Haus eindringen könne. Oft schreckte sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch und meinte, irgendein Geräusch gehört zu haben. Dann griff sie zum Telefon und rief die Polizei an, weckte die Kinder, nahm sie mit in ihr Schlafzimmer, schloss die Tür ab und wartete, bis die Beamten kamen. Ihre Angst war nicht unbegründet. Nachdem Henke sie verlassen hatte, war sie mit den Kindern nicht nur in ein kleineres Haus, sondern auch in ein weniger behütetes Viertel gezogen. In der Zeit, in der sie dort lebten, wurde tatsächlich mehrmals bei ihnen eingebrochen. Sheila zog daraus eine verhängnisvolle Konsequenz, um sich und ihre Kinder zu schützen: Wenn sie zu Bett ging, lag unter ihrem Kopfkissen seit jener Zeit immer eine geladene Pistole.

Oscar Pistorius

Подняться наверх