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ОглавлениеMauern aus Stein machen noch kein Gefängnis.
RICHARD LOVELACE, An Althea, aus dem Gefängnis
Das ganze Jahr über, während er auf dem Anwesen seines wohlhabenden Onkels festsaß und auf den Beginn seiner Verhandlung wartete, wurde Pistorius immer wieder heimgesucht von der qualvollen Erinnerung an die Geräusche, Bilder und Gerüche jener verhängnisvollen Nacht. Nur zu gern hätte er sein Vermögen und seinen Ruhm dafür gegeben, um die Zeit noch einmal zurückdrehen und das, was er getan hatte, ungeschehen machen zu können. Doch das war unmöglich. Die Schüsse, die er abgefeuert hatte, konnte er nicht wieder rückgängig machen.
Nur selten gab es Momente, in denen ihn seine Erinnerung nicht quälte, in denen er die Schreie in seinem Kopf und den grauenhaften Blutgeruch, den er ständig in der Nase hatte, für kurze Zeit vergessen konnte, doch ein richtige Pause gönnte ihm sein Gewissen nicht. Sein einziger Trost war, dass seine Familie ihm vergab und zu ihm hielt, ganz gleich, was geschehen war. Onkel Arnold und seine Frau Lois, deren Töchter und Schwiegersöhne, andere Onkel und Tanten, Carl und vor allem Aimée – ebenso wie andere entfernte, Pistorius aber dennoch nahestehende Verwandte – waren jederzeit bereit, sich ohne große Worte zu machen zu ihm zu setzen und ihm Mut zu machen, dass er, da sein bisheriges Leben nun vorbei war, die Kraft finden werde, noch einmal ganz von vorne anzufangen.
Vor Pistorius wäre niemand auch nur im Traum auf die Idee gekommen, dass ein beidseitig Unterschenkelamputierter irgendwann einmal zu den schnellsten 400-m-Läufern der Welt gehören könnte. Dank seiner Popularität hatte es der zuvor mehr oder weniger stiefmütterlich behandelte Behindertensport, den er dominierte, seit er mit 17 seine erste Goldmedaille gewonnen hatte, überhaupt erst richtig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geschafft. Ihm war es zu verdanken, dass behinderten Sportlern – und in der Konsequenz letztlich behinderten Menschen insgesamt – weltweit mehr Respekt entgegengebracht wurde, was ihnen wiederum half, ein neues Selbstverständnis und damit ein neues Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Der Sport hatte sein öffentliches Image geprägt und ihm eine ganz ungeahnte Karriere ermöglicht. Doch ihm war klar, dass die öffentliche Wahrnehmung von nun an weniger bestimmt war durch seine sportlichen Erfolge oder die positiven Entwicklungen, die er angestoßen hatte, als vielmehr durch die Ereignisse in jener verhängnisvollen Nacht. Dadurch, dass er Reeva getötet hat, ist es undenkbar geworden, dass er jemals wieder ins Rampenlicht zurückkehren könnte. Dieser Teil seines Lebens liegt unwiderruflich hinter ihm.
Er brauchte einen neuen Lebensinhalt, eine Aufgabe, der er sich widmen konnte. Eine schien sich geradezu aufzudrängen.
Jetzt, da die Hauptverhandlung ihre ersten Schatten vorauswarf, musste er sich so konzentriert wie möglich auf seinen Auftritt vor Gericht vorbereiten. Dazu musste er sich jedoch erst einmal ein Leben nach der Hölle, in die er durch Reevas Tod hinabgestürzt war, vorstellen können. Seine Anwälte empfahlen der Familie, ihn in seinem Glauben an einen günstigen Verhandlungsausgang zu bestärken und gemeinsam mit ihm zu überlegen, wie er sich anschließend rehabilitieren könne. Ihnen bereitete Sorge, wie er sich wohl vor Gericht halten würde, und sie fürchteten, dass er im kritischen Moment, wenn er in den Zeugenstand treten und dem Staatsanwalt im Kreuzverhör Rede und Antwort stehen müsse, zusammenbrechen würde. Pistorius konnte sich hingegen überhaupt nicht vorstellen, wie es ihm angesichts der vielen gräulichen Details der Tatnacht gelingen sollte, genau das nicht zu tun, doch er war es seiner Familie schuldig, es zumindest zu versuchen.
Allen war von Anfang an klar gewesen, dass Pistorius unter keinen Umständen wieder in das Haus ziehen konnte, in dem er Reeva erschossen hatte. Und als sein Onkel Arnold ihm vorschlug, bei ihm zu wohnen, in dem Haus, in dem auch seine Schwester die letzten zehn Jahre gelebt hatte, musste er nicht zweimal überlegen, um das Angebot anzunehmen.
Dort konnte er sich ganz in seinen Kummer versenken – in zugegebenermaßen ziemlich stilvoller Umgebung. Arnolds Anwesen lag in den Hügeln von Waterkloof Ridge, wo Pretorias Hautevolee und die ausländischen Botschafter residierten. Sein Haus unterschied sich deutlich von denen seiner Nachbarn. Im Vergleich zu den dort typischen mediterran angehauchten luftigen Residenzen mit pastellfarben getünchten Wänden und Terrakottaziegeln auf den Dächern wirkte sein robustes rotes Backsteinhaus fast schon wie eine militärische Befestigungsanlage. Ein wasserloser Graben und ein Wachhäuschen, das rund um die Uhr mit einem Sicherheitsposten besetzt war, schirmten das Gebäude nach vorne hin ab. Auf einem Schild neben der Toreinfahrt war der Name des Hauses zu lesen: »Bateleur« – der englische Name für eine afrikanische Adlerart (dt.: Gaukler), die sich von Schlangen ernährt.
Arnold Pistorius brüstete sich gerne damit, dass er in »einem afrikanischen Haus« lebe. Ein ganzes Jahrzehnt lang hatte er das ursprünglich von einem Pfarrer bewohnte Gebäude mit seiner Frau Lois umbauen lassen. Gemeinsam hatten sie die hochwertigsten Natursteine, Ziegel und Hölzer, die in Afrika zu bekommen waren, ausgewählt und die besten Handwerker der Region beauftragt, die gewünschten Modernisierungsarbeiten auszuführen. Die Schlafzimmer auf der zweiten Etage erreichte man über eine imposante Holztreppe. Im Erdgeschoss befanden sich neben einer geräumigen Eingangshalle ein Wohnzimmer, ein Esszimmer, ein Arbeitszimmer und die Küche. In allen Räumen standen große und kleine Skulpturen von Giraffen, Elefanten, Leoparden und Pavianen. An den Wänden hingen Gemälde mit Szenen aus dem afrikanischen Busch. Von den hohen Fenstern im rückwärtigen Teil des Hauses sah man direkt den großen kreuzförmigen Swimmingpool und weiter hinten auf einem Hügel auf der anderen Seite des Tals das beeindruckendste architektonische Wahrzeichen Südafrikas, die Union Buildings, in denen die südafrikanische Regierung seit 1910 ihren Sitz hatte.
Arnold Pistorius regierte sein Haus von dem Zimmer aus, in dem er auch seinen Geschäfte nachging: ein dunkel gehaltenes Arbeitszimmer mit braunen Ledersesseln und einem schwarzen Büffelkopf an einer Wand; hier bewahrte er auch eine Sammlung alter Waffen auf. Für Arnold legte dieser Raum Zeugnis ab von seinem Nationalstolz als Afrikaner, er war Ausdruck seiner Autorität als burischer Hausherr sowie seines materiellen Erfolgs. Arnold war ein hochgewachsener, schlanker Mann Anfang 60, der einen weißen Bart trug und nie müde wurde zu erklären, dass man sich als Bure mit dem gleichen Recht Afrikaner nennen durfte wie als Zulu, als Xhosa oder als Mitglied irgendeines anderen südafrikanischen Volksstammes. Seine Familie, so argumentierte er, lebte bereits länger in Afrika als so manche amerikanische Familie in Amerika.
In der Post-Apartheid-Ära hatte sich Arnold Pistorius beachtlich geschlagen. Statt den Schwanz einzuziehen, sich zu verkriechen und darüber nachzudenken, nach Australien auszuwandern, was viele andere Weiße nach Mandelas Wahlsieg 1994 getan hatten, hatte er die Demokratie von Anfang an als Chance betrachtet. Obschon sie für die Apartheid verantwortlich und 27 Jahre lang Mandelas Kerkermeister gewesen waren, wollte der neue schwarze Staatspräsident keine Rache an den Buren nehmen. Um den Frieden nicht zu gefährden, schien es ihm geraten, das Vermögen der weißen Südafrikaner nicht anzutasten. Und um die Konjunktur anzukurbeln, ermutigte er seine einstigen Feinde sogar, in ihr Land zu investieren. Arnold Pistorius war einer derjenigen, die Mandela beim Wort nahmen. In der Zeit des Umbruchs bildete sich eine aufstrebende schwarze Mittelschicht heraus – etwas, das zur Zeit des Apartheidregimes völlig undenkbar gewesen wäre. Arnold hatte für diese neue Mittelschicht ein paar schöne große Einkaufszentren gebaut, was eine sehr lukrative Idee war. Einen Teil der Gewinne investierte er in Wildreservate im Kruger Nationalpark, wo die Tiere, die als Skulpturen sein Haus zierten, in freier Wildbahn lebten.
Seinen Neffen ließ Arnold gern bei sich in dem großen Haus wohnen, das unter anderem über den Luxus eines privaten Kinos und eines großzügigen Fitnessraums, in dem es die allerneusten Geräte gab, verfügte. Letzteren nutzte Pistorius eifrig. Allerdings lebte er seit dem »Zwischenfall«, wie die Familie die Ereignisse in der Nacht zum Valentinstag inzwischen nannte, nicht im Haupthaus, sondern in einem geräumigen Gartenhaus oder – wie Arnold gerne sagte – »Cottage« am Ende einer langen Treppe im Garten, unterhalb des Swimmingpools, direkt neben einem Teich mit drei Schwänen – die Arnold zufolge jeden bissen, der ihnen zu nahe kam. Das Gartenhaus ähnelte den Hotelsuiten, in denen Pistorius als erfolgreicher Spitzensportler oft übernachtet hatte. Es bestand aus einem Schlafzimmer, einem großen Wohnzimmer und einem Bad. Das Kino, der Pool, der Fitnessraum und das Bataillon an Hausangestellten, die sich um das Anwesen kümmerten, hinzugezählt, genoss Pistorius bei seinem Onkel Fünf-Sterne-Luxus mit allem Komfort. Dennoch war er hier praktisch gesehen ein Gefangener. Die Laufbahn des Hochleistungsportcenters in Pretoria, auf der er immer trainiert hatte, war für ihn jetzt tabu. Früher hatte er das Bad in der Öffentlichkeit gesucht, jetzt schreckte er davor zurück. Früher hatten die Fans ihn belagert, inzwischen wendeten sich sehr viele von ihm ab. Aber er brauchte doch Gesellschaft, brauchte ständige Zuwendung wie ein Kind. Er bekam sie von den drei Frauen, die ihm am nächsten standen: seiner Tante Lois, Arnolds eleganter Gattin, seiner Cousine Maria, die vier Jahre älter war als er und zusammen mit ihrem Mann und ihrem Kind im Nachbarhaus lebte, sowie seiner kleinen Schwester Aimée, der treusorgendsten von allen, die er seit dem Tag ihrer Geburt vergötterte, deren makellose kleine Füße es ihm angetan hatten, als er drei Jahre alt war und sie noch ein Baby, nach deren Gesellschaft er sich in den ersten Wochen nach Reevas Tod in jedem wachen Augenblick sehnte. Aimée arbeitete als Analystin bei einer südafrikanische Investmentbank, wo sie ihre Kollegen mit ihrer schnellen Auffassungsgabe, ihrer Intelligenz und ihrem für ihr Alter erstaunlichen Finanztalent beeindruckte.
Schwester, Cousine und Tante leisteten Pistorius in seinem Gartenhaus abwechselnd Gesellschaft. Sie saßen schweigend bei ihm, redeten mit ihm, wenn er reden wollte, und nahmen ihn in den Arm, wenn er weinte. Die drei übernahmen also gewissermaßen die Rolle der verstorbenen Mutter.
Die vierte Frau, bei der Pistorius Trost suchte, war seine Großmutter väterlicherseits, Gerti Pistorius, die auch in Pretoria lebte. Gerti hatte skandinavische Wurzeln, und nach ihren Hochzeitsbildern aus dem Jahr 1943 zu urteilen, war sie einmal eine außergewöhnliche Schönheit gewesen, die einen sehr attraktiven Mann geheiratet hatte, der ebenfalls noch lebte. Das Paar hatte, was glamouröse Auftritte anbelangte, in der Familie Maßstäbe gesetzt, und erst ihr berühmter Enkel hatte sich in dieser Hinsicht mit ihnen messen können. Gerti war in ihren amputierten Wunderknaben immer vernarrt gewesen und hatte nie den Moment vergessen, als er als ganz kleines Bürschchen zum ersten Mal mit seinen Prothesen zu ihr kam und rief: »Oma! Oma! Guck mal, ich hab Zehen!« Sie war unglaublich stolz auf seine Leistungen, und überall in ihrem Haus hingen Fotos von ihm, wie er in seinem einteiligen Lycradress und mit seinen Karbonprothesen über die Aschenbahn sprintet oder mit einer Goldmedaille um den Hals auf dem Siegertreppchen steht.
Gelegentlich wurde es Pistorius in seinem goldenen Käfig zu eng und er wagte es, das Refugium für einen kleinen Ausflug zu verlassen. Er fuhr dann zu seiner Großmutter oder besuchte mit Aimée oder Maria ein italienisches Restaurant in einem nahegelegenen Einkaufszentrum. Es war ein einfaches Lokal mit Resopaltischen und Plastikstühlen, in dem die Angestellten Pistorius freundlich empfingen, ihm die Hand schüttelten und so taten, als sei nichts gewesen. Dem Drängen der Ehemänner seiner Cousinen nachgebend, ging er gelegentlich mit ihnen in das angesagte japanische Restaurant Koi. Mit diesen Besuchen in seinem Lieblingslokal gelang es ihm, einen Hauch von Normalität vorzutäuschen. Ab und an konnte er es sich während der einjährigen Wartezeit auf die Hauptverhandlung auch nicht verkneifen, mit ein paar Kumpeln, die er aus Johannesburg kannte, auf eine Party oder in eine Bar zu gehen. Im Nachhinein bereute er diese Ausflüge, weil die Medien jedes Mal Wind davon bekamen und ihn als kaltblütigen Mörder darstellten, den sein Verbrechen und seine Schuld nicht davon abhielten, sich wie eh und je zu vergnügen. Um einfach mal rauszukommen, fuhr Pistorius oft mit seinem weißen Audi weite Strecken über Land. Autofahren war für ihn schon immer mehr gewesen als eine praktische Art der Fortbewegung. Es war ein Ventil für seine innere Nervosität. Er fuhr sehr schnell, war aber dennoch ein ruhiger und bedachter Fahrer. Allerdings machte er sich jetzt nicht mehr alleine auf, sondern nahm immer jemanden aus der Familie mit. Manchmal, wenn er in eine sehr abgelegene Gegend kam und ein vertrauenerweckendes Lokal entdeckte, brachte er auch den Mut auf, anzuhalten und einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen. Riskant war das trotzdem. Hin und wieder wurde er bei solchen Zwischenstopps erkannt und wüst beschimpft.
Was immer Pistorius tat, ob innerhalb oder außerhalb der Mauer von Arnolds Anwesen, er war selten allein. Und auch wenn seine Familie stets bemüht war, ihm mit einem Lächeln zu begegnen, und er gelegentlich sogar zurücklächelte, war seine Trauer ansteckend und seine Gegenwart bedrückend. Denn er schaffte es nie lange, das Leid und die Schande, die er denen zugefügt hatte, die er liebte, zu vergessen. Seine Scham war jetzt eine ebenso wenig zu ignorierende Tatsache wie einst seine großen Erfolge. Er war so hilfsbedürftig wie ein trauriges kleines Kind. Sie nannten ihn nicht Oscar, sondern »Ozzie«, wie seine Mutter es immer getan hatte. Manchmal saß er auf einem der braunen Ledersessel im Arbeitszimmer seines Onkels und lehnte seinen Kopf an Lois’ oder Aimées Schulter, während sie ihm schweigend übers Haar strichen. Weder konnte er es ertragen, allein zu sein, noch wollten diejenigen, denen er am Herzen lag, ihn alleine lassen. Gott und die Familie – das war für Pistorius’ Familie das Wichtigste.
Arnold hatte in dieser Tragödie die Rolle des standhaften Patriarchen übernommen. Obschon ihm Reevas tragischer Tod ebenso naheging wie allen anderen, versuchte er, einen nüchternen Blick auf die Lage zu bewahren und mit seiner calvinistischen Einstellung und seinem geschäftsmännischen Pragmatismus seinem Neffen beizustehen. Er versuchte, noch einen klaren Kopf zu behalten und sich der Dinge anzunehmen, die geregelt werden mussten. In den ersten Tagen nach der Tat fungierte er als eine Art (Presse-)Sprecher der Familie, äußerst bedacht darauf, in jeder Situation den richtigen Ton anzuschlagen. Den Steenkamps sprach er im Namen seiner ganzen Familie sein Beileid aus und erklärte, dass sein Neffe wie betäubt sei in seinem Schock und seiner Trauer. Zugleich bestritt er gegenüber der Presse entschieden, dass seine Neffe Reeva vorsätzlich getötet haben könnte. Vor einem ganzen Bataillon an Fernsehkameras erklärte er: »Wir zweifeln nicht daran, dass diese Anschuldigung jeglicher Grundlage entbehrt und dass selbst die Staatsanwaltschaft, auch auf Grundlage der von ihr selbst gesammelten forensischen Befunde, die Möglichkeit eines vorsätzlichen Mordes, ja überhaupt irgendeiner Form des Mordes ausschließen wird.« Er hatte es sogar übernommen, Reevas Mutter, June Steenkamp, anzurufen, um vorzufühlen, ob sein Neffe persönlich mit ihr sprechen könne, worauf June Steenkamp allerdings keinen Wert legte. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen, und ich will auch nicht hören, was Sie mir zu sagen haben«, erklärte sie Arnold. »Dann tut es mir sehr leid, Sie belästigt zu haben«, antwortete er, bevor er den Hörer auflegte.
Arnold war es wichtig, anwesend – und aus seiner Sicht Herr der Lage – zu sein, wenn Pistorius’ Anwälte oder PR-Berater zu einer Besprechung ins Haus kamen. Die Anwaltskosten waren immens, und obschon Pistorius seine Rennpferde verkauft und auch andere Vermögenswerte zu Geld gemacht hatte, schrumpften seine Ersparnisse zusehends. Sein Onkel musste für einen Teil seines Unterhalts aufkommen. Für Arnold war das allerdings nicht das Hauptproblem. Er musste wiederholt mit ansehen, wie die Oscars Hände zitterten und eine weitere Tränenflut ein schwarzes Loch ankündigte, in das sein Neffe fiel – was sich auch auf die anderen Familienmitglieder auswirkte. Seine Depression war auch ihre Depression geworden, weil sie gar nicht anders konnten, als sich selbst in seine Lage zu versetzen und sich vorzustellen, wie sie sich fühlen würden, wenn sie in seiner Haut steckten. Auf das Finanzielle kam es nicht an. Wichtiger war es, Ozzies angeschlagene Psyche zumindest halbwegs wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Oscar Pistorius vor einem Selbstmordversuch zu bewahren, hatte absoluten Vorrang.
Die Sorge, dass er sich etwas antun könnte, war berechtigt. Pistorius dachte natürlich darüber nach, sich das Leben zu nehmen. Er fühlte sich wertlos. Bei all der Schuld, die er auf sich geladen hatte, sah er keinen Sinn darin, morgens aufzustehen und den Tag zu beginnen. Jede Motivation war ihm abhanden gekommen, alles, was er vor sich sah, war eine durch und durch freudlose Zukunft. Sich seiner einstigen Erfolge zu erinnern, war kein Trost, im Gegenteil. Er hatte kein Ziel mehr.
Jeder in der Familie spürte, dass Pistorius’ Lebenswille in den Wochen nach Reevas Tod an einem seidenen Faden hing. Es blieb unausgesprochen, aber alle hatten Angst, dass er sich umbringen könnte. Und wieder war es Arnold, der die Sache in die Hand nahm.
Schnell stand für ihn fest, dass sein Neffe unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litt. Die von ihm zu Rate gezogene Literatur enthielt unter anderem in den USA erhobene Statistiken über Fälle, in denen Personen – aus welchen Gründen auch immer – für den Tod eines geliebten Menschen verantwortlich waren und daran verzweifelten. Diesen Erhebungen zufolge nahmen sich 20 Prozent der Betroffenen das Leben. Arnold berichtete dem Rest der Familie von diesen Erkenntnissen und legte allen nachdrücklich ans Herz, Ozzies Stimmungsschwankungen genauestens zu beobachten und ihm immer wieder klarzumachen, dass es sich lohne, weiterzuleben, dass das Leben trotz allem einen Sinn habe. Das bedeutete natürlich auch, ihn an Gott, dessen Ratschlüsse unergründlich waren, zu erinnern und ihm jeden Tag vor Augen zu führen, dass die Familie den Glauben an ihn nicht verloren hatte und er ihr weiterhin am Herzen lag. Seine Tante Lois versuchte ihm eine Perspektive zu eröffnen: »Wenn du eine Aufgabe im Leben hast und an Gott glaubst, kannst du verstehen, warum die Dinge nicht immer so laufen, wie wir sie uns vorstellen. Menschen machen Fehler. Keiner von uns ist perfekt.«
Pistorius glaubte an Gott, aber er konnte nicht verstehen, wie Gott – wenn es denn tatsächlich für alles einen Grund gab, wie seine Mutter ihm beigebracht hatte – Reevas Tod hatte geschehen lassen und damit die vollkommene Liebe, die er in ihr gefunden zu haben glaubte, hatte zerstören können. Mit dieser Frage quälte er sich jeden Abend, wenn er im Bett lag und versuchte, einzuschlafen. Und falls es ihm dann wirklich vergönnt war, ein paar Stunden Schlaf zu finden, wachte er am nächsten Morgen auf und war wieder verzweifelt. Für ein, zwei Sekunden, während er sich noch den Schlaf aus den Augen rieb, erinnerte er sich nicht an das, was geschehen war. Dann jedoch war alles wieder da. Wie sollte er diesen Tag durchstehen? Wie sollte er diesen Albtraum, der sein Leben nun war, ertragen?
In den ersten Wochen nach der Tat war seine Familie dankbar für jede Stunde, die verging, ohne dass Pistorius sich das Leben nahm. Sie beobachteten ihn genau, versuchten seine Gedanken zu lesen, wenn sie sich vor den Mahlzeiten zum Gebet um den Esstisch herum versammelten und dabei in alter burischer Tradition die Hände reichten. Aber es war schwer, mit dem ständigen Druck zu leben, daher wagte Arnold eines Tages den Schritt nach vorn. Er nahm Pistorius beiseite und fragte ihn, ob er noch einen Sinn in seinem Leben sehe. Ob er über die Hauptverhandlung hinausblicken könne, sich vorstellen könne, für das, was er getan hatte, zu büßen und nach dem Ende seiner Sühnezeit gestärkt und ein besserer Mensch zu sein. Konnte er sich überhaupt vorstellen, wie viel Überwindung und Anstrengung es ihn kosten würde, sich ein neues Leben aufzubauen? Weitaus mehr jedenfalls, als nötig waren, um Weltrekorde zu brechen und bei den Olympischen Spielen an den Start zu gehen. Konnte er seine Verzweiflung überwinden? Pistorius verstand diese Fragen nur zu gut und begriff sofort, worauf sein Onkel hinauswollte. Zugleich war ihm klar, dass er seiner Familie schon genug Leid zugefügt hatte und er ihnen eine schier unerträgliche Last aufbürdete, wenn er nun auch noch dem egoistischen Drang nachgab, sich das Leben zu nehmen. Ja, entgegnete er daher auf die Fragen seines Onkels, er sehe noch einen Sinn in seinem Leben. Er werde sein Bestes tun und mit Gottes Hilfe einen Neuanfang wagen. Arnold entschloss sich, seinen Worten zu glauben.
Dennoch war die Familie weiterhin wachsam und ließ ihn nicht aus den Augen, wenn er schweigend über das Grundstück seines Onkels schlenderte, an seinem Computer saß oder mit seinem Handy hantierte, im Fitnessraum trainierte oder versuchte, sich auf das Lesen von Biografien zu konzentrieren – wobei immer eine Bibel in greifbarer Nähe war. Das Einzige, das er sich im Fernsehen anschauen konnte, waren Tierdokumentationen, alles andere verstärkte nur seinen Kummer oder seine Ängste. Romanzen, die quälende Erinnerungen hervorriefen, waren für ihn ebenso unerträglich wie Filme, in denen Gewaltszenen zu sehen waren.
Er trug jetzt immer eine Brille mit schwarzem Gestell, war oft unrasiert, hatte sichtlich an Gewicht verloren und wirkte eingefallen und verschüchtert. Mit seiner zurückhaltenden Höflichkeit, seiner fast schon femininen Gestik und seinem ruhigen Tonfall wirkte er eher wie ein zurückgezogen lebender Gelehrter als wie ein Sportler, eher wie ein Seminarist, der sich auf die Priesterweihe vorbereitet, als wie die geschmeidige Naturgewalt, die die ganze Welt einst den Blade Runner nannte.
Bei Arnold und Lois zeigte sich Pistorius von seiner besten Seite und beachtete streng alle religiösen Vorschriften. Fremde und ältere Familienmitglieder sahen in ihm das Idealbild eines weltentrückten Christen. Mit ein paar sehr engen Freunden nahm er sogar regelmäßig an Gebetskreisen und Bibelstunden teil, die ein Pastor im Wohnzimmer seines Onkels abhielt. Aber sein Leben bestand nicht ausschließlich aus Frömmigkeit und Reue. Es gab auch ein paar Momente, in denen er – nicht zuletzt dank der Medikamente, die er nahm – die von ihm verschuldete Tragödie vergaß, und sich wie jeder andere 26-Jährige verhielt. Urplötzlich konnte sich seine Stimmung jedoch wieder verdüstern, selbst wenn er mit Menschen zusammen war, in deren Gesellschaft er sich wohlfühlte, und er brach ein Gespräch mitten im Satz ab. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, was Pistorius in diesen Augenblicken durch den Kopf ging, welcher Film vor seinem inneren Auge ablief und welche Geräusche er zu hören glaubte: die vier Schüsse, die Tür, der Cricketschläger, mit dem er darauf eindrischt, der grausame Anblick, der ihn dahinter erwartete.
Er hatte ihr Leben zerstört, sein Leben und das Leben, das sie gemeinsam hätten haben können. Schon an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt und bis drei Uhr morgens angeregt miteinander unterhalten hatten, hatte er gewusst, dass sie die Richtige für ihn war. Sie war wunderschön und klug, keck und freundlich und sozial engagiert. Sie hatte einfach alles, was er an einer Frau attraktiv fand, und ihm war auf Anhieb klar, dass er sie heiraten und mit ihr eine Familie gründen wollte.
Etwa eine Woche nach ihrer ersten Begegnung musste Pistorius nach Schottland fliegen, weil ihm die Universität von Strathclyde den Ehrendoktortitel verleihen wollte. Er hatte dort tätige Wissenschaftler bei der Entwicklung preisgünstiger, alltagstauglicher Beinprothesen für mittellose Behinderte in Afrika unterstützt. Eigentlich wollte er damals rund um die Uhr nur mit Reeva zusammen sein. Wenn er nicht bei ihr sein konnte, bombardierte er sie per Handy mit Kurznachrichten. Er legte beim Umwerben und Flirten in diesen ersten Wochen denselben Ehrgeiz an den Tag, den er auch im sportlichen Wettkampf zeigte. Sein Übereifer irritierte sie zunächst ein bisschen. Freunden erzählte sie, dass sie sein intensives Werben mit gemischten Gefühlen sah. Sie war durchaus fasziniert von ihm, bezeichnete ihn sogar als »Rockstar«, fürchtete jedoch, in einer Beziehung mit ihm zu wenig Luft zum Atmen zu haben. Er war sich seiner Gefühle für sie anfangs sicherer als sie ihrer Gefühle für ihn. Doch es dauerte nicht länger als einen Monat, bis sie sich sicher war, eine feste Beziehung mit Pistorius führen zu wollen.
Sie interessierte sich für seinen Sport, begleitete ihn zum Training, begeisterte sich wie er für exklusive Sportwagen und sprach mit ihm gemeinsam das Tischgebet. Sie gaben sich Kosenamen: »meine Baba«, »mein Schatzi«, »mein Engel«. Sie zog nicht zu ihm, übernachtete jedoch gelegentlich bei ihm, wenn er unterwegs war, und lernte mit der Zeit einige seiner Nachbarn in Silver Woods kennen. Als er ihr erzählte, dass er vorhabe, Anfang des nächsten Jahres nach Johannesburg zu ziehen und dort ein Haus zu kaufen, sahen sie sich gemeinsam in Möbelgeschäften um. Sie schienen entschlossen, sich eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.
Ein Kopfschuss hatte diesen Träumen ein Ende gesetzt und sie durch albtraumhafte Bilder und Geräusche ersetzt, die Pistorius nun Tag und Nacht verfolgten. Sich in glückliche Erinnerungen zu flüchten, war das Einzige, was ihm geblieben war. Es tat ihm gut, sich an die lebende Reeva zu erinnern. Allein in seinem Luxuscottage, dachte er an die kurze Zeit zurück, die sie miteinander verbracht hatten, träumte von dem Leben, dass er mit ihr zu führen gehofft hatte, und von den Kindern, die sie miteinander hätten haben können. So wie er sie damals geliebt hatte, liebte er sie noch immer, und er würde sie auch für den Rest seines Lebens lieben. Wenn diejenigen, die an seinen Gefühlen zweifelten, ihn in seinem Gartenhaus hätten sehen können, hätten sie ihm geglaubt. Das Erste, was man sah, wenn man hereinkam, war ein großes gerahmtes Porträt von Reeva. Die professionelle SchwarzWeiß-Aufnahme hatte etwas von einem Marienporträt in einer katholischen Kirche. Reeva lächelte, und sie schaute ein wenig keck und seltsam wissend.