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ОглавлениеWer seine Feigheit überwindet, überwindet die ganze Welt.
THOMAS HUGHES, Tom Browns Schuljahre
Alles, was ihr könnt, kann ich auch«, sagte sich Oscar Pistorius, als er mit 14 auf die Pretoria Boys High School wechselte. Es dauerte nicht lange, bis er das unter Beweis stellen musste.
Alle Schulanfänger machten einen dreitägigen Ausflug auf eine abgelegene Farm. Es war noch früh im Jahr, in Südafrika war gerade Hochsommer und im High Veld, dem nach Norden hin abfallenden südafrikanischen Hochland, war es extrem trocken und heiß. Ideale Bedingungen also, um den Frischlingen bei einer zünftigen Kletterpartie in der zerklüfteten Bergregion Gelegenheit zu geben, sich zu beweisen.
An der Pretoria Boys High herrschte ein militärischer Geist. Wie ein ehemaliger Schulsprecher berichtete, versuchte man die Neuen zunächst mürbe und gefügig zu machen, um sie dann ganz im Geiste der Schule, die sich selbst als Eliteschmiede verstand, wieder aufzubauen. Disziplin, Kameradschaft und Rituale bestimmten das Leben in der Gruppe. Unter den Ehemaligen der elitären Highschool waren neben angesehenen Richtern, Politikern und Unternehmern auch eine ganze Reihe erfolgreicher Sportler, die Südafrika bei internationalen Wettbewerben repräsentierten, vor allem Rugbyspieler: die Schule war für ihr erfolgreiches Rugbyteam berühmt.
Den Schülern wurde eingeschärft, dass sie einer ehrwürdigen Tradition verpflichtet waren. Falls nötig, mit aller Härte. Wer vergaß, vor einem Erwachsenen die Schulmütze zu ziehen oder ihn mit »Sir« bzw. »Madam« anzusprechen, musste mit Konsequenzen rechnen. Das soll nicht heißen, dass die Lehrer keine Nachsicht übten. Angesichts seiner Behinderung hätten sie Pistorius die Kletterpartie sicher erspart, wenn er darum gebeten hätte. Das tat er jedoch nicht.
Die Aufsicht bei dem Schülerausflug führte Paul Anthony, ein Rugbylehrer, der damals in seinen Vierzigern war und den Großteil seines Lebens an der Pretoria Boys High verbracht hatte, zunächst als Schüler, dann als Lehrer. Die meisten seiner Schützlinge kamen in angemessener Zeit den Berg rauf und wieder runter, nur ein halbes Dutzend hing auf dem Rückweg etwas hinterher. Diesen Nachzüglern fuhr Anthony mit einem Kleinbus entgegen, um sie einzusammeln.
»Damals begegnete ich Ozzie zum ersten Mal«, erinnert er sich. »Ich war ziemlich überrascht, als ich seine Holzbeine sah.« Pistorius trug Shorts, schwitzte wie verrückt und war über und über mit dem rotem Staub bedeckt, der im High Veld überall aufgewirbelt wird. »Seine Beine waren an den Stellen, wo sie mit den Prothesen in Kontakt kamen, wundgescheuert und bluteten«, erzählt Anthony. »Ich sagte ihm, er solle in den Bus steigen. Vier oder fünf andere Jungs hatten mein Angebot schon angenommen. Aber er wollte nicht. Ich ließ nicht locker und sagte: ›Komm schon, das ist keine Schande. Guck dir die anderen an, die sind auch eingestiegen.‹ Aber er wollte einfach nicht mitkommen. Er war der Letzte, der zurückkam, aber er ist die ganze Strecke allein gelaufen. Mich hat seine Hartnäckigkeit sehr beeindruckt.«
Ein Jahr später begegnete Anthony Pistorius wieder; diesmal war der Junge in Begleitung seiner Mutter. Anthony stellte jedoch zunächst keine Verbindung zwischen diesem Schüler und dem »Jungen vom Bergausflug« her. Pistorius trug lange Hosen, und weder er noch seine Mutter erwähnten seine Prothesen. Wenn Anthony heute über diese Begegnung nachdenkt und über den Einfluss, den die Mutter auf die Entwicklung ihres Sohnes gehabt haben mag, sieht er im Nachhinein durchaus einen Zusammenhang zwischen ihrer überbordenden Fröhlichkeit und seinem stoischen Tatendrang. Und noch etwas war bemerkenswert. Zwei Monate nach der geschilderten Begegnung starb Sheila Pistorius. Als Anthony davon erfuhr, erkannte er, dass sie und ihr Sohn eine entscheidende Eigenschaft gemeinsam hatten. Von der Krankheit, die sie von innen auffraß, hatte sich Sheila bei dem Treffen mit ihm nicht das Geringste anmerken lassen. Auch sie hatte offensichtlich ein Talent dafür, ihre Schmerzen zu unterdrücken.
Das Treffen zwischen Anthony, Pistorius und seiner Mutter fand zu Beginn des Schuljahrs 2002 statt. Pistorius wollte ins Internat einziehen und Anthony war der Leiter des Hauses, dem der Junge zugeteilt worden war. In den zwei Jahren, in denen er die Funktion des »Housemasters« bekleidete, übernahm Anthony für Pistorius die Rolle eines Ersatzvaters. Dass Pistorius’ Behinderung kein größeres Problem darstellen würde, erkannte Anthony gleich am ersten Abend.
»Es war 21:30 Uhr und ich unterhielt mich noch ein wenig mit den Schülern, die bereits im Bett lagen. Ozzie war gut gelaunt, als ich zu ihm kam. Er sagte, er fände es toll, hier zu sein. Außerdem hatte er eine Frage. Er habe keine Zeit gehabt, sich die Zähne zu putzen und wollte wissen, ob er das nachholen könne. Als er aus dem Bett sprang, staunte ich nicht schlecht. Er lief auf seinen Stümpfen, war dabei aber richtig flink und geschickt. Ich war völlig baff. Und dann kam er zurück, als ob nichts gewesen wäre.«
Einige Monate später stand ein weiterer Schulausflug an. Diesmal ging es an einen sogenannten Rockpool oder Gezeitentümpel. Es gab dort eine Rutsche, auf die die Jungs kletterten, um sich ins Wasser zu stürzen. Direktor Bill Schroder führte Aufsicht. Er hatte bislang nicht besonders viel mit Pistorius zu tun gehabt und erschrak, als er sah, wie wagemutig der Junge war. »Wenn sie aus dem Wasser kamen, mussten sie erst einen steilen, unebenen Fels hochklettern, bevor sie sich wieder auf die Rutsche stürzen konnten«, erinnert sich Schroder. »›Lass das sein!‹, rief ich ihm zu. Er lief auf seinen Stümpfen, wo die Haut extrem dünn war, und hätte sich an den rauen Felskanten leicht verletzen können. Aber er war sich sicher, dass er es konnte. Er flehte mich an, ihn klettern zu lassen, wild entschlossen, genau das zu tun, was die anderen auch taten.«
»Er ließ es nie soweit kommen, dass man Mitleid mit ihm hätte haben müssen«, so Anthony. »Man konnte nur staunen, wie unglaublich motiviert er war, was für ein Selbstvertrauen er besaß und wie sehr er einem die Befangenheit darüber nahm, dass er keine Beine hatte. Er schien deswegen keine Komplexe zu haben. Nie hat er den Eindruck erweckt, ein Junge ohne Beine sein.«
Wie seine Schulkameraden auf seine Behinderung reagierten, war indes etwas ganz anderes. Teenager gehen nicht gerade zimperlich miteinander um, schon gar nicht an einer Schule, wo Selbstvertrauen und eine gewisse Härte als Tugenden gelten und es eine absolute Schmach wäre, heulend zu einem Lehrer zu laufen, wenn man drangsaliert und gehänselt wird. Es war an der Pretoria Boys High vollkommen normal, dass Mitschüler, die zu dick oder zu dünn waren, eine zu große Nase hatten oder irgendeiner Minderheit angehörten, damit aufgezogen wurden. Man wurde verhöhnt und angerempelt und musste lernen, damit klarzukommen. Oder wie ein ehemaliger Schüler meinte: »Man musste sich seine Streifen verdienen.«
Seine Mitschüler zogen Pistorius wegen seiner Behinderung auf. Eines Nachts spielten sie ihm einen Streich, der deutlich machte, dass er trotz seines großen Wagemuts der Verletzlichste von allen war. Pistorius wachte mitten in der Nacht auf und sah, dass es um ihn herum brannte. Jemand rief, dass alle das Gebäude verlassen sollten. Er streckte die Hand nach seinen Prothesen aus, aber sie standen nicht am Fußende seines Bettes, wo er sie immer abstellte. Panisch blickte er um sich, aber er konnte sie nirgends entdecken. In seiner Autobiografie schrieb er in Erinnerung daran: »Ich war kurz davor, in Tränen auszubrechen, hatte panische Angst, nicht fliehen zu können und sterben zu müssen.«
Wie sich herausstellte, hatten seine Mitschüler die Stahlschränke im Schlafsaal mit Feuerzeugbenzin besprüht und angezündet. Noch lange, nachdem die Flammen gelöscht waren, lachten sie über die Angst, die sie Pistorius eingejagt hatten.
Wenn der Zwischenfall bei ihm irgendwelche Spuren hinterlassen hatte, war ihm das jedenfalls nicht anzumerken. Er war wie immer sehr bedacht darauf, als »einer der Jungs« angesehen zu werden, und erzählte auch seinem Housemaster Paul Anthony nichts von dem Vorfall. Wenn man von seinen Schulkameraden an der Pretoria Boys High irgendetwas lernte, dann, dass man sich unter allen Umständen zusammenzureißen hatte, auch wenn man körperliche oder seelische Qualen litt. Selbstmitleid war absolut tabu, und wer auf Mitgefühl hoffte, hatte schlechte Karten.
Nach dem Ende seiner Schulzeit kam Pistorius allerdings wiederholt auf diesen Zwischenfall zu sprechen. Noch Jahre später, als er längst berühmt war, erwähnte er diese Geschichte in einer Reihe von Interviews. Was er dabei allerdings nicht erzählte, war, dass er fast geheult und um sein Leben gefürchtet hatte. Das berichtete er erst in seiner Autobiografie. Aber selbst darin versuchte er den gemeinen Streich herunterzuspielen und ihn als Spaß darzustellen, den er als Beispiel dafür anführte, dass er mit seiner Behinderung locker umgehen konnte und die Dinge so hinnahm, wie sie nun mal waren.
Pistorius ließ sich während seiner Schulzeit durch nichts aufhalten. Nicht einmal durch Rugby, die wohl härteste und am meisten Körpereinsatz fordernde Mannschaftssportart. In den einzelnen Fächern wurde an der Pretoria Boys High einiges verlangt, und Pistorius biss sich überall mehr schlecht als recht durch. Doch Rugby war das Aushängeschild der Schule, und auch wenn man ansonsten nicht gerade zu den Intelligentesten zählte, wurde man doch als Held angesehen, wenn man es geschafft hatte, in der ersten Rugbymannschaft zu spielen. Pistorius gelang zwar nicht der Sprung bis ganz nach oben, doch er schaffte es immerhin bis in die Jugendmannschaft.
Paul Anthony erinnert sich an ein Spiel gegen eine Schule aus Johannesburg. Er hatte sich vorher besorgt gefragt, was wohl geschehen würde, wenn der Junge angegriffen und an den Beinen umklammert würde. Und genau das passierte auch. Ein gegnerischer Spieler ging Pistorius von der Seite an, als er mit dem Ball unterm Arm am Spielfeldrand entlanglief – und staunte nicht schlecht, als sich Pistorius’ Beine plötzlich lösten, der aber wieder aufstand und auf seinen Stümpfen weiterlief. »Das Spiel wurde kurz unterbrochen«, erinnert sich Anthony. »Er zog sich die Prothesen wieder an und spielte einfach weiter. Ozzie schaffte es immer wieder, andere zu verblüffen. Ich war an diesem Tag ganz besonders beeindruckt, wie schnell er war.«
Das war auch Francois van der Watt aufgefallen, der für Pistorius’ Karriere noch eine entscheidende Rolle spielen sollte, ansonsten mit der Schule allerdings nichts zu tun hatte. Der 14-jährige Pistorius war in seinem ersten Jahr an der Pretoria Boys High beim Laufen so unglücklich gestürzt, dass eine seiner Prothesen zu Bruch gegangen war. Hilfesuchend wandte er sich an seine in Pretoria lebende Großmutter Gerti. Er brauchte so schnell wie möglich neue Prothesen. Statt den langjährigen Prothetik-Spezialisten ihres Enkels in Johannesburg zu informieren, dessen Praxis 45 Fahrtminuten entfernt lag, rief Gerti bei einer Praxisgemeinschaft in Pretoria an, deren Nummer sie im Telefonbuch gefunden hatte. Francois van der Watt nahm ihren Anruf entgegen.
»Es war purer Zufall, dass ausgerechnet ich ans Telefon ging«, erinnert er sich. »Es arbeiteten noch andere Prothesenbauer in der Praxis. Ich hatte gerade erst angefangen, war noch ganz neu in dem Job. Sie beschrieb mir das Problem und fragte: ›Können Sie uns helfen?‹ Ich sagte ihr, sie solle den Jungen vorbeischicken.«
Eigentlich hatte van der Watt, ein großer, breitschultriger Mann mit kräftigen Händen, Landwirt werden sollen. Der 1970 geborene Bure war nahe der Ortschaft Bethlehem im Oranje-Freistaat, einer im Herzen Südafrikas gelegenen Provinz, aufgewachsen. Die Apartheidpolitik wurde dort besonders rigoros praktiziert; es war die einzige Region im Land, in der sich Menschen indischer Abstammung nicht niederlassen durften. Wie die meisten weißen Kinder – und auch viele weiße Erwachsene –, die dort lebten, hatte van der Watt keine Ahnung davon, wie man farbige Mitbürger in seiner Heimat behandelte. Seine Kindheitserinnerungen kreisen um das Leben auf der elterlichen Farm und darum, wie sein Vater ihn regelmäßig im Morgengrauen aus dem Bett holte, damit er die Kühe melken half.
Nach seinem Highschool-Abschluss zog van der Watt nach Bloemfontein, in die Hauptstadt des Oranje-Freistaats, um dort Agrarwirtschaft zu studieren – allerdings eher, weil er sich der Familie wegen dazu verpflichtet fühlte, als dass es ihm ein Herzenswunsch gewesen wäre. So kam es, dass er sich bald wesentlich mehr für das ungewöhnliche Fachgebiet Orthetik und Prothetik interessierte, das sein Zimmergenosse studierte. Zum Entsetzen seiner Eltern schmiss van der Watt wenig später sein agrarwirtschaftliches Studium und wechselte auf das Pretoria Technikon, um dort das zu studieren, was ihn tatsächlich interessierte. Es war der Beginn einer erfolgreichen Karriere, die ihn bis nach Winnie im US-Bundesstaat Texas führte, wo er heute als Vertreter für einen Beinprothesenhersteller arbeitet. Er heiratete eine Amerikanerin, mit der er zwei Kinder hat, und ist stolzer Besitzer von zwei Pferden. Seine allererste Stelle jedoch – »halb Arzt, halb Ingenieur«, wie er sie selbst charakterisiert – bekam er in jener Praxis in Pretoria, in der Gerti Pistorius an jenem schicksalhaften Tag anrief.
»Mir war sofort klar, dass man die Prothesen nicht mehr reparieren konnte«, erinnert sich van der Watt. »Das war ein völlig überholtes Holzmodell, wie man es noch aus den 50er-Jahren kannte. Und sie waren völlig hinüber.«
Er versprach, für den Jungen neue, bessere Prothesen zu besorgen, mit denen er laufen und Sport treiben konnte. »Er war ziemlich schüchtern«, erinnert sich van der Watt, »aber ich fand schnell heraus, dass er hart im Nehmen war und immer bis an seine Grenzen ging.« Pistorius kam mehrmals zur Anprobe vorbei, bis die neuen Prothesen richtig saßen. Und irgendwann im Lauf dieser Zeit kam ihm eine Idee.
»Es war im Jahr 2000 kurz vor den Olympischen Sommerspielen und den Paralympics. Ich fand die Idee der paralympischen Idee total faszinierend und hatte von irgendwoher einen Promofilm für die Spiele bekommen. Ich dachte, Oscar solle sich das mal ansehen. Er hatte noch nie etwas von Behindertensport gehört, und als er da in meiner Praxis saß und das Video sah, war er völlig hin und weg. Man spürte, wie es ihm in den Fingern juckte. Was er in dem Video sah, eröffnete ihm ganz neue Perspektiven.«
Was er jetzt brauchte, waren sogenannte Cheetah-Carbon-Prothesen, wie sie die Sprinter bei den Paralympischen Spielen benutzen. Die Originalprothesen waren viel zu teuer, daher entschloss sich van der Watt, angespornt durch seinen ehrgeizigen jungen Patienten, selbst ein Paar zu konstruieren. Jedoch hatte er keinerlei Erfahrung mit dem Werkstoff Carbon. Daher nahm er Kontakt zu jemandem auf, der als Flugzeugbauer mit diesem Material arbeitete, und zeichnete ihm auf einem Stück Papier ein Modell der Prothese auf, die ihm vorschwebte. Dabei orientierte er sich an den bei den Paralympics verwendeten High-Tech-Prothesen, die von ihrer Form her den Läufen eines Gepards nachempfunden waren.
»Dieser Flugzeugbauer fertigte mir die Prothesen an, und ich konstruierte die Schäfte für Oscars Stümpfe.« Van der Watt hat noch ein Foto von der ersten Anprobe. Pistorius wirkt darauf buchstäblich stolz wie Oscar.
»Wir fuhren zur Laufbahn, um die Belastbarkeit zu testen. Oscar lief los, aber die Prothesen brachen schon nach fünf Minuten. Ich habe bestimmt fünf oder sechs Paar gebaut, bevor wir eins hatten, das ganz blieb.«
Die Haut an Pistorius Stümpfen platzte auf und blutete, während er über die Aschenbahn sprintete. Das Problem war die starke Reibung an den Kontaktstellen. Doch aufgeben kam für ihn nicht in Frage.
Oscars Beharrlichkeit spornte van der Watt zusätzlich an. Die beiden fühlten sich wie auf einer geheimen Mission. Geheim, da zwar Pistorius’ Mutter, die van der Watt für sein Engagement sehr dankbar war, wusste, woran sie arbeiteten, in der Schule von ihren Experimenten jedoch niemand etwas ahnte. Es gab natürlich auch an der Pretoria Boys High eine Aschenbahn, doch sie führten ihre Tests lieber woanders durch, wo niemand so leicht etwas davon mitbekommen konnte.
Die Enttäuschung war natürlich groß, wenn wieder ein Paar seiner in mühsamer Handarbeit angefertigten Prothesen zu Bruch ging, doch führte gerade dieses ausgiebige Experimentieren dazu, dass van der Watt mit der Zeit ein enormes Fachwissen über die Funktionsweise der Spezialprothesen erwarb. Er wurde eine so große Koryphäe auf diesem Gebiet, dass man ihn zehn Jahre später als technischen Berater für die US-amerikanische Paralympics-Mannschaft engagierte.
Worauf es bei der Entwicklung einer Beinprothese besonders ankommt, ist die Passgenauigkeit des Schafts, in den der Stumpf gesteckt wird. »Man muss ihn sich wie einen Schuh vorstellen«, erklärt van der Watt. »Die Passform muss unbedingt stimmen. Der Schaft darf weder zu locker, noch zu fest sitzen, er muss ganz exakt eingestellt sein.« Der zweite entscheidende Punkt ist die korrekte Ausrichtung des Fußes. Er muss genau im richtigen Winkel angebracht werden, dort, wo beim Abstoß die maximale Energie freigesetzt und die eigene Körperkraft am effizientesten genutzt werden kann. Hinzu kommt, so van der Watt, dass das Gewicht und die Länge der Prothesen optimal auf die Kraft und die Größe des Läufers abgestimmt werden müssen.
Am wichtigsten ist jedoch die Passgenauigkeit. »Wenn man läuft, kommt man bei jedem Auftritt mit dem Zweieinhalb- oder Dreifachen des eigenen Körpergewichts auf dem Boden auf. Wenn eine Prothese zu locker oder zu fest sitzt, fügt man sich nicht nur Schmerzen zu, sondern büßt auch an möglicher Geschwindigkeit ein.«
Erst 2001 hatte van der Watt ein Paar entwickelt, das stabil genug war und mit dem sich Pistorius rundum wohlfühlte. An der Schule spielte er immer noch Rugby und trug dabei seine Alltagsprothesen. Aber alle zwei Wochen experimentierte er auf der Laufbahn mit den speziell angefertigten Cheetahs. Damals, kurz vor seinem 15. Geburtstag, war eine Teilnahme an den Paralympics für ihn noch kein Thema. Van der Watt sah natürlich, dass Oscar sehr schnell war, doch fehlten ihm Vergleichswerte von potenziellen Konkurrenten im Behindertensport. »Für mich war er ein ganz normales, etwas schüchternes Kind, das aber auch ein kleiner Spaßvogel sein konnte. Er lachte viel und machte makabere Scherze. So tackerte er sich zum Beispiel Heftklammern in die Beine, um Leute zu erschrecken, die nicht wussten, dass er Prothesen trug«, erzählt van der Watt. »Ich machte lediglich meinen Job für einen netten Jungen aus Pretoria, da steckten weder ein Plan noch irgendein höheres Ziel dahinter. Ich hab diesem Jungen einfach geholfen, ein etwas besseres Leben zu führen.«
Pistorius fand es großartig, mit den neuen Prothesen zu laufen, obwohl seine Leidenschaft nach wie vor Rugby war, jene Sportart, die an der Pretoria Boys High am meisten zählte. Doch dass er diesen Sport über kurz oder lang an den Nagel hängen musste, war absehbar. Das Unvermeidbare geschah kurz nach seinem 16. Geburtstag, bei einem Spiel gegen eine andere Schule. Zwei große gegnerische Spieler nahmen Pistorius hart in die Zange, wobei sich seine Prothesen lösten und abfielen. Pistorius verletzte sich schwer an den Knien. Noch während er am Boden lag, schrie ihn einer der Zuschauer an, er solle aufstehen und sich nicht länger wie ein Mädchen herumwinden. Pistorius stand das Spiel noch irgendwie bis zum Ende durch, doch ihm war endgültig klar, dass er als Rugbyspieler keine allzu großen Zukunftsaussichten hatte.
Er ging zu Gerry Versfeld, dem er blind vertraute und der ihm ein intensives, dreimonatiges Rehabilitationsprogramm verordnete. In der letzten Phase dieser Maßnahme war jede Menge Lauftraining vorgesehen, um das verletzte Knie wieder zu stärken. Anfang 2004 nahm Pistorius dieses Lauftraining an der Universität von Pretoria unter der Leitung des Leichtathletiktrainers Ampie Louw auf.
Louw war ein großer, raubeiniger Bure Mitte 40, der es sich in den kommenden zehn Jahren zur Aufgabe machte, mit Pistorius all die zahlreichen Stellschrauben zu nutzen, um das Letzte aus ihm herauszukitzeln, sodass seine ohnehin hohe Laufgeschwindigkeit noch um ein paar Millisekunden verbessert werden konnte. Ende Januar 2004, knapp zwei Monate nach seinem ersten Training mit Louw, trug das neue Fitnessprogramm erste Früchte. Pistorius ging für die Pretoria Boys High bei einem Leichtathletikwettbewerb in Bloemfontein an den Start.
Unter den so neugierigen wie irritierten Blicken seiner Gegner, die sich teils ein Schmunzeln nicht verkneifen konnten, bereitete sich Pistorius auf das 100-Meter-Rennen vor. Die meisten Zuschauer waren fest davon überzeugt, dass er es reiner Gefälligkeit der Verantwortlichen an der Pretoria Boys High zu verdanken hatte, hier antreten zu dürfen – und dass er zweifellos als Letzter ins Ziel kommen würde. Doch weit gefehlt: Pistorius gewann! Und der stürmische Applaus, der danach aufbrandete, bot bereits einen kleinen Vorgeschmack auf die Welle der öffentlichen Begeisterung, die ihn bald tragen sollte.
Als letzte Disziplin stand an diesem Tag die 4x100-Meter-Staffel auf dem Programm. Wenn die Jungs der Pretoria Boys High dieses Rennen gewannen, war ihnen der Gesamtsieg sicher. Paul Anthony war nicht vor Ort, weil er gerade mit seiner Frau im Urlaub war, doch per Telefon war er mit einem anderen Lehrer verbunden, der den Staffellauf live verfolgte. »Wir lagen an vierter oder fünfter Stelle und drohten, auf den letzten Platz zurückzufallen, als Oscar den Stab übernahm«, erinnert sich Anthony. »Mit einem Mal schrie mein Kollege: ›Oh, mein Gott, der Junge fliegt ja!‹ Und das war nicht mal übertrieben. Er zog unaufhaltsam am restlichen Feld vorbei und kam tatsächlich als Erster durchs Ziel. Unglaublich, wir hatten gewonnen!
Nachdem ich aufgelegt hatte, konnte ich es immer noch nicht fassen. Zu meiner Frau sagte ich: ›Ich weiß, dass er schnell ist, aber ich hatte keine Ahnung, wie schnell. Es ist nicht zu glauben. Das ist ein Wunder, ein wahres Märchen. Irgendwer muss doch mal über den Jungen schreiben.‹ Denn mein Kollege hatte recht: Der Junge ohne Beine konnte fliegen!«
Von jenem Tag an ging alles ziemlich schnell. Es stellte sich heraus, dass Pistorius mit der Zeit, in der er die 100 Meter gelaufen war – 11,72 Sekunden –, den paralympischen Weltrekord für beidseitig amputierte Sprinter eingestellt hatte. Er war knapp eine halbe Sekunde darunter geblieben.
Rugby war damit abgehakt. Wenn für ihn alles optimal liefe, würde er ein mäßig guter Spieler im Schulteam werden – mehr war für ihn nicht drin. Im Laufen fand er endlich den Trost und die Bestätigung, die er seit dem Tod seiner Mutter vermisst hatte. Zudem schien diese Sportart perfekt zu ihm und seinem Temperament zu passen. Um als Sprinter erfolgreich zu sein, war er ganz allein auf sich gestellt und auf niemanden sonst angewiesen. Je stärker er sich forderte und seine Grenzen auslotete, desto schneller wurde er.
Er war 17 und hatte noch eineinhalb Jahre bis zu seinem Highschoolabschluss, als er zum ersten Mal bei den südafrikanischen Behindertenspielen antrat und sich mühelos für die Paralympischen Spiele in Athen 2004 qualifizierte – auch wenn er zunächst überrascht war, sich plötzlich unter Behinderten wiederzufinden, einer Gruppe von Menschen, mit der er, wie man ihm sein Leben lang beigebracht hatte, nichts gemein hatte. Mit einem Mal tauchte sein Name immer wieder in den Nachrichten auf, er drehte einen Fernsehwerbespot, erhielt Sponsorengelder, kaufte sich sein erstes Auto und entdeckte seine Leidenschaft fürs schnelle Fahren. Das Autofahren war etwas, wobei seine Behinderung keinerlei Rolle spielte und er das Gefühl genoss, alles unter Kontrolle zu haben.
Im Juni, drei Monate vor den Spielen in Athen, meldete er sich bei Francois van der Watt, der sich gerade in den USA niedergelassen hatte.
»›Ich bin in der südafrikanischen Mannschaft. Ich brauche neue Beine‹, erklärte er mir«, erinnert sich van der Watt. »Ich schlug ihm vor, zu mir rüberzufliegen, und das tat er dann auch. Ich nahm Maß, fertigte die Schäfte an, stellte alles optimal ein, und so bekam er seine ersten Cheetahs. Sie halfen ihm, auf der Karriereleiter eine Stufe weiter nach oben zu klettern.«
Der Flex-Foot-Cheetah war seit den frühen 1990er-Jahren die Prothese der Wahl für alle paralympischen Leichtathleten, und auch Pistorius nutzte sie während seiner gesamten Karriere. Seine ersten Wettbewerbserfahrungen sammelte er mit ihnen in Oklahoma. Van der Watt hatte ihm empfohlen, an den Endeavor Games für behinderte Sprinter teilzunehmen. Er lief die 200 Meter gegen den schnellsten Amerikaner und gewann. Die regionale Presse war völlig aus dem Häuschen. Es war das erste Mal, dass Pistorius außerhalb Südafrikas Schlagzeilen machte.
»Wir teilten uns ein Zimmer in Oklahoma City«, erzählt van der Watt, »und ich war fasziniert, wie fokussiert Oscar war, wie entschlossen, sein Bestes zu geben. Dass es sein erstes großes Rennen außerhalb von Südafrika war, schien ihn überhaupt nicht zu belasten. Als ich dann sah, wie er lief, wie er sich in der Öffentlichkeit verhielt und mit der Presse umging, war ich mir völlig sicher, dass er ein einzigartiges Talent besaß und ein ganz großer Sportler werden würde.«
Zunächst stand Athen an. Wie würde er sich dort schlagen? In einem gigantischen Stadion vor einer riesigen Menschenmenge? Als Leichtathlet hatte er gerade einmal acht Monate Erfahrung gesammelt. Und hier trat er gegen eine Menge Routiniers an, Männer, die fünf oder sogar zehn Jahre älter waren als er, viele davon nur einseitig amputiert. Zudem hatte Louw eine technische Schwäche bei ihm ausgemacht: Er kam nicht schnell genug vom Startblock weg, zumindest nicht schnell genug, um den 100-Meter-Lauf bei der damaligen paralympischen Konkurrenz gewinnen zu können. Auf den 100 Metern konnten sich seine Gegner dadurch einen zu großen Vorsprung verschaffen, sodass er in dieser Disziplin nicht auf einen Sieg hoffen durfte. Trotzdem nahm er an dem Rennen teil, doch Louw hielt es in dieser Phase seiner Karriere für das Beste, sich auf den 200-Meter-Lauf zu konzentrieren, weil er da mehr Zeit hatte, den Vorsprung der anderen bis zum Ziel wieder wettzumachen.
Gerry Versfeld war extra nach Athen geflogen, um Pistorius laufen zu sehen. Obschon ihm als Spezialisten der Umgang mit Amputierten vertraut war, war er erstaunt, so viele schlanke und fitte Sportlerinnen und Sportler mit fehlenden Gliedmaßen zu sehen. »Das hat selbst mir die Augen geöffnet. Es war das erste Mal, dass ich sah, wie Menschen mit Behinderungen solche Leistungen vollbringen«, so Versfeld. »Die Botschaft, die hiervon ausging, lautete: Das hier sind keine Wracks, sondern talentierte Menschen, die Teil unserer Gesellschaft sind.«
Ludwig Guttmann, der gut ein halbes Jahrhundert zuvor die Idee hatte, behinderte Menschen für den Wettkampfsport zu begeistern, war ebenfalls Arzt gewesen. Der deutsche Jude war Anfang 1939 vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach England geflohen. Nach dem Zweiten Weltkrieg behandelte der renommierte Neurochirurg ehemalige Soldaten mit Rückenmarksverletzungen in dem bei London gelegenen Stoke Mandeville Hospital. Eines Tages kam er auf die Idee, für seine Patienten einen Sportwettbewerb auszurichten. Und so rief er 1948, am selben Tag, an dem in London die Olympischen Sommerspiele eröffnet wurden, einen Wettbewerb ins Leben, der unter dem Namen Stoke Mandeville Games bekannt wurde. Dieser Sportwettkampf war der Vorläufer der zwölf Jahre später in Rom ausgetragenen ersten offiziellen Paralympischen Spiele.
Wohl kein anderer Sportler hatte der Guttmannschen Idee so viel zu verdanken wie Oscar Pistorius. Mit gerade einmal 17 Jahren stahl er bei den Paralympischen Spielen in Athen 2004 allen die Schau. »Sein einziges Problem waren die Startschwierigkeiten«, erinnert sich Gerry Versfeld. »Trotzdem schaffte er es, auf den 100 Metern die Bronzemedaille zu holen. Beim 200-Meter-Lauf hatte er auch einen schlechten Start erwischt. Innerhalb von Sekundenbruchteilen lag er zehn Meter zurück und hatte vier, fünf Läufer vor sich. Aber dann machte er richtig Dampf – so was hatte man noch nicht gesehen. Von vorne betrachtet schwankt er ein bisschen hin und her, aber von der Seite, so wie ich ihn gesehen habe, war sein Lauf absolut perfekt. Es war das Erstaunlichste, was ich je gesehen habe. Ich war wahnsinnig stolz auf ihn.«
Er war der jüngste Sprinter im Feld, aber er gewann nicht nur das Rennen, sondern stellte mit seiner Zeit von 21,97 Sekunden auch einen neuen Weltrekord auf.
Bill Schroder, der Rektor der Pretoria Boys High, war begeistert. Pistorius’ Triumph war auch ein Triumph für die Schule. Zugleich war Schroder aber auch besorgt. »Er hatte seine Mutter in einem Alter verloren, in dem man sehr, sehr empfindsam ist und leicht den Halt verliert, und dann wurde er über Nacht zur nationalen Ikone, zum südafrikanischen Wunderkind. Er war erst 17 und wurde von der Presse überschwänglich gefeiert, selbst Frauenzeitschriften rissen sich um Interviews mit ihm. Jeder Junge in seinem Alter würde unter solchen Umständen überschnappen, und für ihn kam noch erschwerend hinzu, dass er seine Mutter verloren hatte. Was seinen Vater anging – soweit ich das mitbekam –, begann der sich erst für ihn zu interessieren, als er berühmt war. Was es für ihn noch mal schwerer machte als für andere, war, dass er keine Beine hatte. Ich machte mir wirklich Sorgen, wie er mit all dem klar kommen würde, zumal mir bewusst war, dass wir in der Schule die Einzigen waren, die ihm Halt und Orientierung geben konnten.«
Schroeder lag es fern, ihm eine Sonderstellung einzuräumen. Pistorius hingegen glaubte, sich genau das jetzt verdient zu haben. Jetzt, da er mit einem Mal berühmt geworden war, glaubte er, für ihn gelten eigene Gesetze. Doch an der Pretoria Boys High war nach wie vor Schroders Wort Gesetz. Und so gerieten die beiden in Pistorius’ letztem Schuljahr nach seinem Erfolg in Athen zwangsläufig aneinander.
Das erste Mal ging es um einen Wagen, den Pistorius von einem Sponsor geschenkt bekommen hatte. Schroder bestand darauf, dass er das Auto wieder abgab. Pistorius protestierte zunächst dagegen, gab dann aber widerwillig nach. Zur zweiten großen Auseinandersetzung kam es, als Pistorius bat, vom Unterricht freigestellt zu werden, um an einem Leichtathletikwettbewerb in Finnland teilnehmen zu können. Schroder verweigerte die Freistellung. Pistorius beharrte drauf, dass er teilnehmen müsse, weil dies eine Chance sei, die vielleicht nie wiederkäme. Es ging nicht um einen Behindertenwettbewerb, sondern einen regulären Wettkampf mit internationalen nicht-behinderten Sportlern. Bei dem Disput ging es hoch her, wie sich Schroder erinnert. »Er sagte: ›Ich muss unbedingt fahren.‹ Ich entgegnete: ›Wenn du das tust, brauchst du nicht mehr zurückzukommen.‹ Ich machte ihm klar, dass die Regeln an der Schule für alle gelten, auch für ihn, und dass keiner, also auch er nicht, eine Vorzugsbehandlung bekäme. Das waren die unverrückbaren Prinzipien, die seit jeher an unserer Schule galten. Ich setzte mich durch, er blieb. Aber ich weiß, dass er stinksauer auf mich war. Ich hörte, wie er mich anderen gegenüber als ›Mr. Fucking Schroder‹ bezeichnete.«
Ganz abgesehen von den Prinzipien gab es noch einen weiteren, praktischen Grund dafür, dass Schroder Pistorius nicht vom Unterricht freistellen wollte. Der ältere Schüler hatte seine Pflicht als Schlafsaalaufsicht zu erfüllen.
In dieser Funktion trug Oscar die Verantwortung für einen ganzen Saal voller Schulanfänger. Er hatte für seinen kleinen Zuständigkeitsbereich eine ähnliche Machtbefugnis wie Schroder für die ganze Schule. Freilich war Pistorius gerade mal 18 Jahre alt, und wie bei jedem anderen in diesem Alter bestand die Gefahr, dass er seine Macht missbrauchte.
Genau dies behauptete nach dem tragischen Tod von Reeva Steenkamp auch jemand: dass Oscar damals seine Macht missbraucht hätte. Unter denjenigen, die überzeugt waren, dass er seine Freundin vorsätzlich ermordet hatte, verbreitete sich schnell das Gerücht, dass er als Schlafsaalaufseher ein gemeiner Tyrann gewesen war.
Auch einige Lehrer haben irgendwie davon gehört, dass Pistorius eine gewalttätige Ader gehabt haben soll – dass er manchmal »ausgerastet« sei, wie jemand sich ausdrückte – und Jüngeren gedroht haben soll. Aber an der Pretoria Boys High war das nichts Ungewöhnliches. Mehrere Ehemalige berichten, dass die ersten Jahre für sie dort der »blanke Horror« gewesen seien. Dass die Aufseher, denen sie unterstellt waren, sie als Schuhputzer oder Zimmermädchen missbraucht und keine Skrupel gehabt hätten, sie willkürlich wegen angeblicher Verstöße gegen die Schulordnung zu bestrafen. Ein Ehemaliger erinnerte sich: »Man lebte in der ständigen Angst, des Verstoßes gegen die Regeln bezichtigt zu werden. Innerhalb der Hierarchie des Internats- und Haussystems gehörte man zur untersten Klasse, und das war die der Sklaven.«
Gebote mit harter Hand durchzusetzen, war an der Pretoria Boys High die Norm. Dass Jüngere und Schwächere schikaniert wurden, gehörte dazu. Für Interne war das besonders hart. Es war wie ein Boot Camp, sind sich einige Ehemalige einig, eine perfekte Vorbereitung aufs Militär. Die Schlafsaalaufseher waren so etwas wie Oberfeldwebel, die frei schalten und walten konnten, Demütigungen und Züchtigungen inklusive. Was im zivilen Leben verboten und strafbar war, war hier bis zu einem gewissen Grad alltäglich. Sich bei Lehrern über harte Bestrafungen und Übergriffe zu beschweren, galt unter den Schülern als absolutes Tabu. Dann wäre man für immer unten durch gewesen. Dass sich die Internen nicht beschwerten, solange sie im Internat waren, hieß allerdings nicht, dass nicht wenigstens einige in den Ferien zu Hause ihren Eltern von ihren schlimmen Erfahrungen berichteten. Ein paar Internatsschüler erwähnten dabei auch den Jungen ohne Beine.
Bill Schroder erinnert sich, dass sich »ein paar Eltern« darüber beschwert hätten, wie dieser Wunderknabe mit ihren Kindern umging. Schroder erklärt, dass er den Beschwerden nachgegangen, aber auf keinen Vorfall gestoßen sei, der »schlimm genug war, um auf meinem Schreibtisch zu landen«. Seiner Meinung nach war es richtig, ihn für das Schikanieren nicht zurechtzuweisen. Ein Polizist wäre möglicherweise anderer Meinung gewesen. In der reinen Männerwelt der Pretoria Boys High wurde vieles toleriert, was außerhalb der Schulmauern nicht geduldet worden wäre. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass ihre Schüler nach ihrem Abschluss leichter als andere mit dem Gesetz in Konflikt geraten konnten. So wie im Fall eines Ehemaligen, der in den 1980er-Jahren seinen Abschluss an der Pretoria Boys High gemacht hatte. Er war ein besonders aufsässiger Schüler gewesen, der sich nicht um das ungeschriebene Gesetz scherte, dass man jemanden, der am Boden liegt, nicht mehr tritt. Sein Leben endete damit, dass er zuerst seine Freundin, eine ehemalige Schönheitskönigin, tötete, und dann sich selbst.