Читать книгу Tödliches Vergessen - Joëlle Mores - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеEr rannte durch die Gassen. Sein Atem keuchte. Alles was er hörte war sein pfeifender Atem, das Trampeln seiner Schritte und sein pochendes Herz. Er war am Ende seiner Kräfte.
Leonard blieb kurz stehen und sah nach hinten. Dabei strich er sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Seine langen Haare wurden ihm beim Laufen immer wieder zum Verhängnis. Trotzdem behielt er seine Frisur; schließlich liebte Conny, seine Frau die langen Haare. Während seiner Tätigkeit im Büro hatte er die Haare immer in einem Zopf zusammengebunden. Nach der Arbeit pflegte er es, seine Haare offen zu tragen. Er liebte es, wenn die Luft durch seine Haare flog. Das gab ihm dann ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit. Jetzt allerdings hätte er gerne drauf verzichtet.
Seine Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen. Wenn er nicht weiterlief, hatten sie ihn bald eingeholt. Doch wozu soll ich mir schon die die Mühe machen?
Außerdem riskierte er, einen Herzinfarkt zu bekommen, wenn er so weitermachte. Und das war kein schlechter Witz. Sein Herz war in schlechter Verfassung und sein Asthma führte nicht gerade dazu, seine Lage zu verbessern. Leonard seufzte. Was soll‘s. Er entschied, nicht weiter zu laufen und stellte sich seinen Verfolgern. Es waren insgesamt drei Männer; sie hatten ihn schnell eingeholt und umringten ihn jetzt von allen Seiten.
Er hatte sich bereits einige Hunderte Meter von seinem Parkplatz entfernt, und stand jetzt in einer gepflasterten Fußgängerzone. Rechts von ihm leuchteten die neonfarbenen Buchstaben eines Kebab-hauses, das zu dieser späten Zeit schon geschlossen war. Zu seiner Linken war ein schlichtes Gebäude, das zum Verkauf leer stand. Hier kannte sich Leonard gut aus. Es handelte sich um die Innenstadt von Trier. Sein Zuhause war nicht weit entfernt, schätzungsweise zwei Kilometer Fußmarsch.
Leonard war noch nie überfallen worden. So regte sich ein flaues Gefühl in seiner Magengegend. Die Männer waren ihm viel zu nahe nach seinem Geschmack. Sie wollten ihn anscheinend provozieren.
„He, was wollt ihr von mir?“, fragte er in die Runde. „Wenn ihr Geld wollt, seid ihr an der falschen Adresse, verstanden!“ Zum Beweis stülpte er seine Hosentaschen nach außen, öffnete seine Brieftasche und entnahm ihr das ganze Geld.
„Hier, ist es das, was ihr wollt? Zehn zerlumpte Euro?“
Der Mann, dem Leonard gegenüberstand trat einen Schritt nach vorne. Er musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dann wechselte er einen Blick mit seinem Begleiter.
Dieser zuckte mit den Schultern.
Leonard wurde immer nervöser. Außerdem machte ihm sein Asthma schwer zu schaffen. Sein Atem pfiff laut wie bei einem hechelnden Hund. Immer, wenn er über lange Strecken laufen musste, meldeten sich seine Atemprobleme. Er hasste diese Tatsache, musste sich dennoch damit abfinden. So stand er hier, inmitten von Unbekannten und rang um jeden Atemzug.
Diese Männer waren ihm vor etwa einer halben Stunde aufgefallen. Er war von seiner Arbeit gekommen und auf dem Weg zum Parkhaus hatte er die drei Gestalten aus seinen Augenwinkeln gesehen, die sich nicht gerade diskret verhielten. Sie hatten sich hinter den Bäumen versteckt und hatten ihn in geringem Abstand verfolgt. Schließlich hatte er es genau wissen wollen und hatte beschlossen, zu laufen. In dem Moment, als diese Männer auch das Tempo angezogen hatten, war ihm klargeworden, dass sie es auf ihn abgesehen hatten. Doch wieso? Er hatte keine Ahnung.
Er beäugte den Mann vor ihm, der von den anderen beiden flankiert wurde. Er war stämmig gebaut, fast ein bisschen untersetzt. Leonard war mit seinen ein Meter neunzig einen halben Kopf größer als er. Doch das Gesicht des Fremden täuschte über diesen Eindruck hinweg. Darin spiegelte sich eine grimmige Entschlossenheit wieder, die die paar Kilo Speck am Bauch wieder wettmachten. Er hatte stahlblaue Augen, die Leonard durchbohrten und bis in seine Seele zu reichen schienen. Es hinterließ ein recht unangenehmes Gefühl bei ihm.
Dieser Mann begann jetzt zu sprechen. Seine beiden Begleiter begnügten sich damit, ihn grimmig anzustarren. Es waren beide grobschlächtige Kerle mit kräftigen Schultern. Einer von ihnen hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Mann, der jetzt sprach. Die kantigen Gesichtszüge und die blauen, durchdringenden Augen waren gleich.
Die Stimme des Mittleren war dunkel und befehlsgewohnt, als er sagte:
„Sind Sie Leonard Kelley?“
„Ja, der bin ich“, antwortete Leonard spontan. Woher weiß der denn meinen vollständigen Namen?
„Sie werden beschuldigt, mehrere Morde begangen zu haben. Sie werden uns jetzt schön brav folgen und keinen Widerstand leisten. Haben Sie mich verstanden?“
Leonard starrte den Mann an, als hätte dieser den Verstand verloren. Er suchte im Gesicht seines Gegenübers nach irgendeiner Regung, vielleicht ein Zucken in den Mundwinkeln, das darauf hindeuten könnte, dass es sich um einen Witz handelte. Nichts.
Leonard drehte seinen Kopf demonstrativ nach allen Seiten und sagte dabei:
„Hört mal, ist dies hier vielleicht sowas wie Versteckte Kamera?“
Als Antwort darauf bekam er einen Stoß in den Rücken. Dann wurden prompt seine Hände vor dem Bauch mit Handschellen gefesselt, und zwar von den zwei Männern hinter ihm. Dann stellten sie sich neben ihn. Sie wollten sich in Bewegung setzen und ihn dabei zwischen sich herziehen. Moment mal! Leonard schaltete auf stur und machte nicht mit. Er blieb einfach stehen und zerrte, um sich aus dem Griff zu befreien. Doch die Beiden hatten erstaunlich starke Arme. Ihr Griff glich einem Schraubenstock, dem Leonards nichts entgegenzusetzen hatte.
Er hatte also keine andere Wahl, als mitzugehen.
Aufgebracht schrie er:
„Was soll dieser Blödsinn?! Ihr könnt doch nicht einfach Leute mitten auf der Straße überfallen und ihnen Handschellen anlegen!“
Er bekam keine Antwort. Der Anführer der Gruppe, so vermutete Leonard, gab nur ein verächtliches Lachen von sich.
„He, was gibt es dabei zu lachen? Und wo bringt ihr mich überhaupt hin?“
Keine Antwort.
Schweigend setzte sich die Gruppe in Bewegung. Allmählich wurde ihm die Absurdität der Lage bewusst.
Außerdem war er zu betroffen, um nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ich, ein Mörder? Etwas Lächerliches hatte er noch niemals zuvor gehört. Doch ihm war nicht mehr zum Lachen zumute. Ganz und gar nicht. Schließlich war das hier Realität.
Doch eines wollte er noch loswerden.
„Sagt mal, wer seid ihr eigentlich? Ihr tragt keine Uniform, habt euch noch nicht einmal richtig vorgestellt und außerdem verhaltet ihr euch nicht wie normale Polizisten. Ich habe noch nie von Polizisten gehört, die einen Verdächtigen quer durch die Stadt verfolgen.“
Der Mann, der vorausging, tauschte einen verstohlenen Blick mit seinem Partner. Leonard bemerkte es und nickte triumphierend.
„Hatte ich also richtig vermutet! Also, wer seid ihr nun wirklich?“
Der Mann drehte sich nicht einmal um, als er antwortete.
„Es ist nicht von Bedeutung, wer oder was wir sind. Tatsache ist jedoch, dass Sie ein gefährlicher Mörder sind, den die Polizei schon lange sucht. Wenn Sie nichts dagegen haben, nehmen wir Sie anstelle der Polizei in Gewahrsam.“
„Da wir gerade davon sprechen, wen habe ich denn eigentlich umgebracht?“, fragte Leonard. Er dachte sich nichts dabei, doch die Reaktion seiner Entführer sprach für sich. Die zwei Männer vor ihm blieben abrupt stehen. Der Mittlere drehte sich zu Leonard um und sah ihm direkt in die Augen. Erbost brachte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor:
„Mir scheint, Sie verkennen den Ernst ihrer Situation. Wie können Sie eine solche Frage stellen? Ihre Opfer haben Sie grausam zugerichtet, und jetzt verleugnen Sie auch noch ihre Taten?!“ Der Mann wurde immer lauter und seine Augen blitzten gefährlich. Er kam Leonard so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Mit bebender Stimme fügte er hinzu:
„Sie feiges Miststück. Sie sind nichts weiter wert als ein Stück Dreck. Einem Serienmörder, der so ungerührt weiterlügt, sollte man das Gleiche antun wie seinen Opfern.“
Leonard wurde unsicher. Er hatte diese Anschuldigungen bis jetzt für unsinnig geraten, für einen schlechten Witz. Doch diesen Männern war es anscheinend todernst.
Der Mann fuhr ungerührt fort.
„Sie wollen wissen, wen Sie umgebracht haben. Also gut, ich sage es Ihnen. Unter Ihren Opfern befindet sich meine Frau. Vor genau einer Woche fand ich ihre Leiche; oder besser gesagt das, was von ihr übrigblieb.“
Leonard erstarrte. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
„Hören, Sie, e- es tut mir wirklich leid...“, stotterte der Angeklagte.
Der Faustschlag kam so unerwartet und so schnell, dass Leonard die Luft wegblieb.
Er stürzte zu Boden. Blut spritzte. Dieser Kerl hatte ihm tatsächlich einen Zahn ausgeschlagen. Er spürte, wie sein Gesicht an der Stelle, wo ihn der Faustschlag getroffen hatte, anschwoll.
Er stöhnte. Er lag auf dem Bauch, was sehr unbequem war, da seine Hände zwischen seinem Körper und dem Boden eingeklemmt waren. Der Mann war jetzt total aus der Fassung geraten. Er wollte sich wieder auf ihn stürzen, doch ein anderer hielt ihn zurück.
„Reiß dich zusammen, Jim! Ich verstehe dich ja, doch wir wollten doch kein Aufsehen erregen. Du kannst deine Wut ja später an ihm ausleben.“
Der Mann riss sich von seinem Partner los, maß Leonard noch ein letztes Mal mit einem hasserfüllten Blick und drehte sich dann um. Leonard rappelte sich wieder hoch, was gar nicht so einfach war und folgte den Männern schweigend. Es lag eine geladene Spannung in der Luft, die ihm plötzlich Angst einflößte.
Es war bereits später Abend und es war schon dunkel. Dieser Jim hatte Glück, dass ihnen kein Mensch begegnete. Doch Leonard bemerkte, dass er nur die schmalen Gassen wählte, in denen selten Menschen unterwegs waren.
Plötzlich hielten die Fremden an. Jim, so wurde er ja von den anderen genannt, drehte sich zu ihm um, mit einem Stück Stoff in der Hand. Er verband ihm damit ohne jede Vorwarnung die Augen.
Was zum Teufel…?
Leonard wollte anfangs protestieren, dann schluckte er seine Erwiderung im letzten Moment hinunter. Jetzt konnte er sowieso nichts gegen diese Leute unternehmen, also fügte er sich.
Sie gingen noch etwa fünf Minuten weiter. Leonard hatte schon längst die Orientierung verloren und ließ sich von den beiden Männern führen. Plötzlich hielten sie an.
Jim sagte kurz angebunden: “Vorsicht, Stufen“, und prompt stolperte Leonard auch schon. Der Mann hinter ihm lachte dreckig und schubste ihn weiter nach oben. Sie traten wohl in ein Haus, dann ging es eine, zwei Treppen hinunter. Jim löste Leonards Augenbinde und verließ das Zimmer, begleitet von seinen zwei Kumpanen.
„He, was soll das, ihr könnt mich doch nicht einfach hier…“, schrie Leonard ihnen hinterher. Doch es hatte keinen Zweck, die Tür fiel hinter Jim zu, dann hörte er das unverkennbare Geräusch eines Schlosses, das von außen verriegelt wurde.
Na super. Der Raum indem er sich befand, war dunkel. Nach zwei Minuten hatten sich seine Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte seine neue Umgebung auskundschaften. Der Raum hatte nur ein Fenster, und das war nur knapp zwei Zentimeter von der Decke entfernt, rechteckig, und sehr schmal. Er würde es nie schaffen, das Fenster zu erreichen.
Es wird immer besser. Er sah sich ein bisschen im Raum um. Er war groß, und war vollgestopft mit Regalen, Pappkartons, alten Möbeln und dergleichen. Da seine Hände nach wie vor mit den Handschellen gefesselt waren, konnte er gar nichts tun. Er machte es sich auf einer Couch bequem und überdachte seine Situation. Ach quatsch, verbesserte er sich aufgewühlt in Gedanken. Da gibt es gar nichts zu überdenken. Ich bin des Mordes verdächtigt, im Keller eines fremden Mannes, dessen Frau angeblich von mir ermordet wurde und habe absolut keine Fluchtmöglichkeit.
Sein Blick fiel auf seine Handschellen. Er sprang auf und sah sich im Raum noch einmal genauer um. Er fing an, mit den Füßen die Pappkartons einzeln aufzuwühlen, was bestimmt sehr schwachsinnig aussah, aber seinen Zweck erfüllte. Endlich, nach der sechsten Kiste, fand er, wonach er suchte. Einen verbogenen Kleiderbügel. Jetzt wurde es ein bisschen knifflig. Doch er hatte ja genügend Zeit. Mit den Handschellen hatte Leonard zwar eingeschränkte Bewegungsfreiheit, doch seine Finger konnte er ja immer noch bewegen. Und so begann er, den Kleiderbügel so oft zu verbiegen bis er nach einer geraumen Zeit ein fingerlanges Stück Eisen in den Fingern hatte. Er schob es sich in den Mund und begann, es in die Handschellen zu schieben. Leonard hatte solche Szenen schon in zahlreichen Hollywoodfilmen gesehen, dann musste es ja auch hier funktionieren.
Doch gerade in dem Augenblick, wo er glaubte, dass die Handschellen aufschnappen würden, wurde die Tür aufgerissen. Leonard hätte vor Überraschung beinahe das Stück Draht verschluckt. Verdammt! Schnell spuckte er es in seine Hand. Er hatte keine Zeit mehr, es unauffällig in die Hosentasche verschwinden zu lassen, sondern ließ es einfach auf den Boden fallen. Dann drehte er sich zur Tür um und sah Jim geradewegs in die Augen. Der wiederum schloss die Tür hinter sich, verschränkte die Hände hinter den Rücken und maß Leonard mit zusammengekniffenen Augen.
Leonard wurde immer nervöser, während Jim ihn zwei geschlagene Minuten anstarrte. Leonard wollte ihn nicht weiter provozieren und schwieg beharrlich.
Dann, endlich begann Jim zu reden, was Leonard fast nicht mitbekam, da Jim leise flüsterte.
„So habe ich mir einen Mörder wirklich nicht vorgestellt.“ Seine Stimme klang verächtlich.
„Tja, da haben Sie verdammt Recht, da ich mir keiner Schuld bewusst bin.“
„Hören Sie endlich auf, das Unschuldslamm zu spielen. Sehen Sie, ich hätte Sie nicht in mein Haus eingesperrt, wenn ich mir nicht absolut sicher bei der Sache wäre.“
Bei seinem letzten Satz nahm er einen Umschlag aus der Tasche und wedelte damit vor Leonards Nase herum.
„Dies hier ist ein hübsches Foto von Ihnen, als Sie sich in meinem Haus befanden.“
„Na, hören Sie mal, das ist doch lächerlich. Ich weiß ja nicht einmal, wo Sie wohnen! Ich kenne Sie nicht, ihre Frau kenne ich nicht, also habe ich gar kein Motiv, Sie oder Ihre Frau zu töten!“
Jim ignorierte seine Bemerkungen. Anstatt etwas zu erwidern, zog er ein Foto aus dem Umschlag.
„Da ich ein verantwortungsbewusster Bürger bin, hatte ich vor einigen Jahren ein paar Kameras in meinem Haus installiert. Wie es scheint, hat es sich jetzt als recht nützlich erwiesen…“
Mit diesen Worten zeigte er Leonard das Foto.
Es zeigte einen Mann in einem Wohnzimmer. Das Bild war ziemlich dunkel, dennoch konnte man noch genug erkennen. Der Eindringling trug schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Er war groß und schmal. Also nichts Auffälliges. Trotzdem war die Ähnlichkeit dieses Mannes mit Leonard nicht von der Hand zu weisen. Denn der Mann hatte sein Gesicht leicht in Richtung der Kamera gedreht und fast mehr als die Hälfte des Gesichtes war sichtbar.
Leonard schluckte. Ihm wurde ein bisschen mulmig. Wie kommt dieser Mann zu solch einem Foto? Es muss sich offenbar um eine Verwechselung handeln; vermutlich sieht irgendein Idiot von Möchtegern-Einbrecher genauso aus wie ich…
Leonard schüttelte den Kopf.
Was er wieder auf abstruse Gedanken kam…
Jim blickte ihn an. Offenbar wartete er auf eine Bemerkung. Doch Leonard wusste nicht, was er ihm darauf sagen sollte. Er räusperte sich.
„Nun ja… ähm…“
„Ich glaube, ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Ich hatte dutzende Alarmsirenen um mein Haus aufgestellt. Und Sie haben es geschafft, sie systematisch eine nach der anderen auszuschalten und zu überwinden. Dann sind Sie in mein Haus eingedrungen und haben die Kameras alle im Erdgeschoss ausgeschaltet; alle bis auf eine. Die haben Sie offenbar übersehen, und diese Kamera…“
Jim grinste genüsslich, als er eine Pause einlegte und zärtlich über das Foto strich, „diese Kamera bringt Sie ins Grab! Wenn ich an dem Tag zu Hause gewesen wäre und nicht bei einem Pokerabend bei meinen Freunden, hätten Sie ihr blaues Wunder erlebt. Aber so haben Sie schamlos die Tatsache ausgenutzt, dass meine Frau an diesem Tag alleine zu Hause war. “
Er drehte sich um und war im Begriff, den Raum zu verlassen. Dann hielt er noch einmal inne.
„Nur damit Sie es wissen: Dieses Foto habe ich der Polizei nicht gegeben. Ich weiß zwar, dass ich dadurch durch Unterschlagung von Beweismitteln angeklagt werden kann, doch das ist es mir wert. Schließlich habe ich Sie jetzt, und kann mit Ihnen tun und lassen, was ich will.“
Er griff nach der Türklinke, als Leonard noch einmal das Wort ergriff:
„He, warten Sie mal! Und woher haben Sie meinen Namen? Meine Adresse? Mein Arbeitsplatz?“
Jim grinste stolz.
„Das habe ich wohl meinem ehemaligen Job zu verdanken. Ich war eine Art Ermittler und habe noch so manche Kontakte.“
Leonard nickte.
Dann haben sie Ihre Hausaufgaben wohl gemacht.“
Jim schnaubte verächtlich.
„Ihnen werden die lockeren Sprüche noch vergehen.“
Mit diesen Worten verließ er endgültig das Zimmer.
Zurück ließ er einen äußerst verwirrten Mann. Leonard stand noch lange so da wie Jim ihn verlassen hatte, aufrechtstehend in einem dunklen Keller. Sein Blick reichte in die Ferne, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Er wusste, dass er niemanden umgebracht hatte, doch was sollte dieses Foto?
Er hatte sich darin eindeutig wiedererkannt. Doch wie kann das sein?
Jim musste dieses Foto gefälscht haben, weil er wegen irgendetwas extrem wütend auf Leonard war.
Doch die Morde war nicht erfunden; wenigstens etwas, das in dieser Geschichte wahr war. Er hatte es oft in den Nachrichten gehört. Vor ungefähr einem Monat, also Mitte Februar hatten diese Todesfälle angefangen. Leonard wusste allerdings nicht, wie viele Morde es waren, oder wer genau getötet wurde, doch eines wusste er: die Opfer waren alle in einem Wald verscharrt worden; dort hatte man jedenfalls all diese Leichen geborgen; es wurde außerdem berichtet, dass sie systematisch vor ihrem Tod vergewaltigt worden waren, dann hatte der Täter ihnen die Kehle aufgeschnitten. Eigenartigerweise waren die Morde alle nachts geschehen, die Vermissten wurden dann morgens im Wald wiedergefunden. Es handelte sich also um einen Serienmörder, der von der Polizei gesucht wurde…und ich, der keiner Fliege was zuleide tut, soll dieser grausame Serienmörder sein?! Lächerlich!
Er schüttelte den Kopf; er musste diese widerspenstigen Gedanken aus seinem Kopf kriegen und endlich nach vorne sehen. Er ging wieder zurück zu der Stelle, wo er das Stück Draht auf den Boden fallen gelassen hatte. Dann kniete er sich hin, beugte sich so weit nach vorn, bis sein Gesicht den Boden berühren konnte, reichte es sich in den Mund und fing wieder an, damit im Verschluss der Handschellen herumzustochern.
Nach einigen Minuten hatte er es geschafft; die Handschellen öffneten sich klackend und er konnte die Hände endlich wieder frei bewegen. Die Handgelenke waren schon richtig durchgescheuert worden, obendrein fühlte sich die linke Gesichtshälfte etwas taub an. Sie war bestimmt geschwollen.
Leonard seufzte noch einmal lautstark und ließ sich kurz auf die Couch sinken, die er im Dunklen ausmachte. Er war ausgelaugt von diesem aufwühlenden Tag, außerdem musste es schon ziemlich spät sein. Doch er konnte jetzt nicht ans Schlafen denken. Schließlich konnte Jim, diesmal in Begleitung von seinen Kumpanen, jeden Augenblick zurückkommen. Nur Gott wusste, was sie mit ihm anstellen würden.
Leonard dachte fiebrig über seine Situation nach. Er konnte seine Handschellen wieder zum Schein anlegen, und Jim dann, wenn er ihm nahekam, überwältigen. Ich muss nur noch einen Knüppel, oder etwas Ähnliches hier finden, das ich als Waffe benutzen kann…
Zwei Pappkartons später hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte: Einen massiven Baseballschläger aus Holz. Den legte er hinter sich auf die Couch. Jetzt musste er nur noch warten… Leonard schluckte. Er bekam so langsam Angst. Dieser Jim war kräftig gebaut, genau wie seine zwei Schlägertypen. Und ich?
Leonard sah an sich hinunter. Seine Jeans fielen ohne großen Widerstand nach unten. Sein Hemd spannte sich auch nicht gerade über Berge von Muskeln…deshalb war er vor nicht allzu langer Zeit einmal pro Woche regelmäßig ins Fitnessstudio gegangen, um seiner Frau zu gefallen. Das Ergebnis war nicht gerade beindruckend. Doch immerhin hatten sich dennoch ein paar Muskeln mehr sichtbar gemacht… Es musste genügen. Er hatte einen schlaksigen, schmalen Körper, eckige Schultern, und war hochgewachsen mit seiner Größe von einem Meter neunzig. Er hatte ein schmales, kantiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, blaue Augen und einen Drei-Tage- Bart, der sein spitzes Kinn zur Geltung machte.
Wie er so wartete, übermannte ihn nach und nach die Müdigkeit. Seine Lider wurden schwer, und er hatte Mühe, wach zu bleiben. Doch er musste die Tür im Auge behalten. Wenn jemand kam, musste er bereit sein.
Plötzlich hörte er leise Schritte. Abrupt wurde er wieder hellwach und stellte sich vor die Tür. Doch die Schritte waren zu leise als dass es Jim sein könnte. Jim hatte kaum einen Grund, in seinem eigenen Haus fast lautlos herumzuschleichen. Dann hörte er ein Rumpeln vor seiner Tür. Etwa so, als ob sein schwerer Körper auf den Boden fiel.
Ob unbekannt oder nicht, die Person hinter der Tür hatte Mühe, sie aufzukriegen.
Leonard wurde immer nervöser. Er packte seinen Baseballschläger fester; das gab ihm wenigstens ein kleines Gefühl von Sicherheit.
Die Tür wurde abrupt aufgerissen. Dann ging plötzlich alles ganz schnell, zu schnell, als dass Leonard reagieren, geschweige denn sich verteidigen konnte.
Er sah nicht mehr als einen Schatten, der auf ihn zugerast kam. Dann sah er etwas auf sich zu fliegen. Er hatte keine Zeit, zu sehen, was ihn da getroffen hatte. Auf jeden Fall breitete sich plötzlich eine Lähmung in seinem Körper aus. Er sackte auf den Boden, der Baseballschläger glitt aus seinen kraftlosen Fingern. Benommen versuchte er sich wieder aufzurappeln, doch er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Seine Lider wurden schwer.
Dann versank die Welt um ihn herum in völlige Dunkelheit.