Читать книгу Tödliches Vergessen - Joëlle Mores - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеGanz langsam kam sie wieder zu sich. Sie öffnete die Augen und schüttelte die Benommenheit ab. Doch sie sah nichts. Vollkommene Dunkelheit.
Er setzte einen Fuß vor den anderen und war schon bald am Waldrand angelangt. Der Boden unter seinen Füßen war schon richtig matschig geworden. Leonard war schon richtig durchnässt. Es wurde so langsam dunkel und er hatte leider keine Taschenlampe dabei, was die Suche erheblich erschwerte. Seufzend betrat er den Wald.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er erkannte Einzelheiten. Die musste er in der nächsten halben Stunde auch sehen, wenn er Conny finden wollte. Er ging zügig zwischen den Bäumen umher, die Augen auf den Boden fixiert. Er suchte nach einem kleinen Schlauch, der aus dem Boden ragte, und nach aufgeschütteter Erde. Plötzlich kam ihm ein erschreckender Gedanke. Es regnet! Der Schlauch wird das Wasser wie ein Trichter in die Kiste fließen lassen… Conny wird ertrinken! Oh Gott! Seine Schritte wurden augenblicklich schneller. Er schluckte, sein Blick huschte hektisch zwischen den Bäumen umher.
Conny lag in einer horizontalen Lage. Sie wollte sich bewegen, die Arme ausstrecken, die Beine einziehen. Doch etwas hinderte sie daran. Bin ich etwa gefesselt? Nein, bin ich nicht, ich spüre ja keine Fesseln.
Sie spürte, dass es zunehmend kälter wurde. Ihre Hände und Füße wurden klamm, sie zitterte am ganzen Körper. Um mehr über ihren Aufenthaltsort zu erfahren, begann sie zögernd, ihre Umgebung mit ihren Händen abzutasten.
So langsam ebbten die Panik und die Angst des Versagens immer mehr ab. Leonard konzentrierte sich aufs Suchen und verdrängte so seine Sorgen und aufkeimende Zweifel.
Er hatte schon längt den Waldrand hinter sich gelassen. War es da noch ein wenig heller gewesen, wurde es nun immer düsterer. Die aufkommende Finsternis verglich er unbewusst mit seiner Hoffnung, in einer halben Stunde die beiden Personen, die er am meisten liebte, lebend wieder zu sehen. Als ihm bewusst wurde, was er da gerade gedacht hatte, erschrak er. Wenn nicht einmal ich an eine Happy End glaube, wie kann es dann jemals eines werden? Er riss sich zusammen und besah sich den Boden vor seinen Füßen noch genauer.
Ihre Hände stießen auf Widerstand. Als sie ihren Kopf heben wollte, um etwas zu erkennen, stieß sie abermals auf etwas Hartes. Frustriert ließ sie ihren Kopf wieder nach hinten sinken und schloss müde ihre Augen.
Die zunehmende Kälte und Feuchtigkeit drangen in ihren Körper und ließen ihre Zähne klappern.
Regelmäßig bückte er sich, um Sträucher beiseite zu schieben. Schließlich konnte der Schlauch überall sein.
Allmählich wurde es für ihn zum regelrechten Spießrutenlauf, denn zahlreiche Pfützen vermehrten sich am schlammigen Boden. Dies erschwerte die Suche zusehends. Es regnete in Strömen. Da er keine Zeit gehabt hatte, sich umzuziehen, als er von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er noch immer seinen schwarzen Anzug an, der wie eine zweite Haut an ihm klebte.
Nach weiteren zehn Minuten intensiver Suche betrat er eine Lichtung.
Hier war es noch ein wenig heller, sodass sich die Suche hier leichter gestaltete.
Doch vergebens. Kein Schlauch weit und breit.
Die Zeit! Ich muss auf die Zeit achten! Er durfte nicht noch mal den fatalen Fehler begehen und das Zeitlimit vergessen. Leonard schaute mit klopfendem Herzen auf die Uhr. Es war jetzt genau neunzehn Uhr fünfundvierzig. Er hatte noch geschlagene achtzehn Minuten, um Conny zu finden, und hoffentlich lebend hier heraus zu finden. Schweiß rann ihm über die Stirn, der sich sofort mit dem nicht nachlassendem Regen vermischte.
Dieses enorme Zeitlimit nagte sehr an seinen Nerven. Sein mögliches Versagen würde fatale Folgen haben, die er sich nie verzeihen würde.
In ihr keimte nackte Panik auf, die sie zu überschwemmen drohte. Conny wand sich in ihrem Gefängnis. Wo bin ich hier? Was ist passiert? Das Letzte, an das sie sich verschwommen erinnern konnte, war, dass sie am frühen Morgen abrupt aufgewacht war. Was danach passiert war, wusste sie nicht. Irgendwie war sie hierhergekommen. Bestimmt nicht freiwillig.
Das enge Gefängnis, in dem sie sich befand, wurde spürbar feucht. Sie tastete ihre Umgebung noch einmal ab. Plötzlich fühlte sie etwas zwischen ihren Fingern. Sie führte ihre Hand zur Nase und roch daran.
Es riecht nach Erde. Sie runzelte die Stirn.
Ein leises Geräusch lenkte sie von ihren finsteren Gedanken ab.
Es klingt wie…Tropfen! Es… es regnet. Das heißt, ich …ich bin unter der Erde!
Diese Erkenntnis schnürte ihr die Kehle zu. Sie bekam unheimliche Platzangst. Sie konnte nicht mehr klar denken und hämmerte panisch mit ihren Fäusten auf ihr Gefängnis ein. Als ihre Panikattacke abebbte, sank sie erschöpft in sich zusammen.
Leonard verscheuchte seine düsteren Gedanken und fuhr mit seiner Suche fort. Er umrundete gerade eine große Eiche, als ihm etwas auffiel. Ein dünnes, ledernes Seil war um den Stamm geschlungen. Zögernd nahm Leonard es in die Hand und zog am anderen Ende. Das Seil verschwand im Gestrüpp. Er strich einen Strauch zur Seite und zum Vorschein kam… ein Hund. Er beugte sich nach vorne und stupste ihn ein wenig an. Der Hund bewegte ein wenig die Hinterläufe, blieb jedoch reglos liegen. Leonard zögerte nicht lang. Er befreite den Hund von dem Seil, was irgendjemand um dessen Hals befestigt hatte und hob ihn vorsichtig hoch. Es handelte sich um einen Dackel, der erschreckend mager war und einen verwahrlosten Eindruck machte. Er war völlig durchnässt. Das Fell klebte an seinem Körper und hob seine magere Gestalt hervor. Bei Befreiungsversuchen hat sich das dünne Seil bestimmt um seinen Hals gezogen, dachte Leonard, als er sich den wund gescheuerten Hals besah. Vorerst konnte er nichts für das arme Tier tun, sondern schleunigst weitersuchen. Doch er konnte den Hund nicht einfach zurücklassen. Er legte sich den Hund also um die Schultern, sodass die Hinterläufe auf der einen, und der Kopf auf der anderen Seite hinunter baumelten.
Adrenalin pulste durch ihre Adern. Der Angstschweiß stand ihr auf der Stirn. Sie wollte um Hilfe rufen, gegen die Innenwand klopfen, irgendetwas, um auf sich aufmerksam zu machen. Doch sie musste ruhig bleiben und flach atmen. Sie spürte wie der Sauerstoff immer knapper wurde. Die unheimliche Stille um sie herum machte sie langsam verrückt.
Als er weitersuchen wollte, kam ihm ein Gedanke. Vorsichtig und darauf bedacht, dem Hund nicht wehzutun, nahm er ihn wieder runter auf den Boden. Der Hund blieb, wider alle Befürchtungen, stehen, zwar etwas wackelig auf den Beinen, was jedoch verständlich war. Leonard suchte seine Taschen ab, bis er fand, was er gesucht hatte: Der Fetzen von Connys Pyjama. Er hielt es dem Dackel dicht unter die Nase und hoffte, dass dessen Geruchssinn nicht in Mitleidenschaft geraten war. Das war seine letzte Hoffnung, denn alleine, so befürchtete er, würde er Conny nicht mehr in der gegebenen Zeit finden. Der Dackel spielte anfangs den Uninteressierten. Dann begann er zu schnuppern, und einen Augenblick später war er mit seiner Schnauze schon dicht am Boden.
Leonard streichelte ermutigend seinen Kopf.
„Gut, das machst du sehr gut. Weiter so!“
Der ließ nicht lange auf sich warten. Die Augen auf dem Boden geheftet, war der Dackel schon unterwegs. Leonard ging dicht neben ihm und hoffte inständig, der Hund möge die richtige Fährte aufgenommen haben.
Doch der Hund war wirklich sehr schwach auf den Beinen. Er kippte plötzlich einfach um und winselte erbärmlich. Leonard bekam ein schlechtes Gewissen. Anstatt den Hund auf den Arm zu nehmen und sich um das abgemagerte Tier zu kümmern, hetzte er es quer durchs Unterholz. Doch es musste so sein. Leonard streichelte den Hund und redete beruhigend auf ihn ein. Der Dackel blinzelte mit den Augen und blickte ihn an. Diese kugelrunden, nussbraunen Augen blickten geradewegs in seine Seele und eroberten sein Herz im Sturm. Er schluckte. Doch er durfte jetzt nicht nachgeben. Ich tue es für Conny, wiederholte er immer wieder in Gedanken, als er den Dackel wieder auf seine vier Pfoten setzte. Leonard hielt ihm wieder den Fetzen unter die Nase, um ihn anzuspornen. Fast widerstrebend setzte sich der Dackel in Bewegung. Das Gehen fiel ihm nicht nur wegen seiner schweren Verfassung so schwer, sondern auch wegen seiner, für seine Rasse, typisch kurzen Beine. Mit solchen Beinchen war es für den Dackel nicht leicht, über Wurzeln und übers Unterholz zu steigen. Doch er hielt durch, wenigstens die nächsten Minuten. Sein Tempo war langsam, doch es half nicht, ihn noch weiter zu stressen.
Ich werde hier drin ersticken. In wenigen Minuten werde ich wegen Sauerstoffmangel sterben. Conny versuchte, sich mit der harten Realität abzufinden, was ihr nicht sehr gut gelang. Sie sträubte sich bei dem Gedanken, bald zu sterben. Ich bin erst siebenundzwanzig Jahre alt, das kann doch nicht schon das Ende sein.
Heiße Tränen benetzten ihr Gesicht.
Sie spürte, wie sich ein nasses Rinnsal auf dem hölzernen Untergrund ausbreitete und ihre Kleidung durchnässte. Von irgendwoher drang also Regen in ihr Gefängnis.
Conny bekam immer weniger Luft. Allmählich konnte sie Leonard verstehen, wenn er wieder einmal eine seiner gefürchteten Asthmaattacken erlitt. Es musste sich etwa so anfühlen, wie sie sich jetzt fühlte. Kein schönes Gefühl.
Sie fühlte sich einsam und verlassen. Niemand weiß, wo ich bin, nicht einmal ich. Man wird meine Leiche irgendwann finden und dabei hat es sich. Verzweiflung fesselte ihren Verstand und hinderte sie daran, klar zu denken.
Vor ihrem geistigen Auge ging sie all die Personen durch, die sie liebte oder kannte. Als erstes sah sie ihren Ehemann. Ihre Gedanken hingen lange bei ihm. Schöne Zeiten, die sie zusammen verbracht hatten, zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Plötzlich sah sie ihren Bruder, der sie eindringlich anstarrte und ihr ins Ohr flüsterte:
„Nein, heirate ihn nicht. Nicht!“ Sie zuckte zusammen. Mein Bruder… Sie wollte die schrecklichen Erinnerungen verdrängen und presste die Augen zusammen.
Der knappe Sauerstoffgehalt lenkte sie ab. Sie bekam keine Luft mehr. Ihre Augen flatterten. Sie versank in schwarze Ohnmacht.
Sie waren etwa fünf Minuten unterwegs, Leonard war mit seinen Nerven fast am Ende. Jetzt war es zu spät, noch seine Frau zu finden, falls es dem Hund nicht gelingen würde.
Dieser Mistkerl! In einem Wald bei hereinbrechender Dunkelheit nach einem Schlauch zu suchen, der aus der Erde herausragte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Und Jim weiß das. Er stellt mich vor eine unmögliche Aufgabe, um mir dabei zuzusehen, wie ich daran scheitere.
Aber er würde nicht so schnell aufgeben! Entschlossen setzte er einen Fuß vor den anderen.
Ein Blick auf die Uhr ließ ihn all seine Hoffnungen zunichtemachen.
Noch knapp zehn Minuten.
Verzweiflung schnürte ihm die Kehle zu.
Plötzlich blieb der Hund stehen, sah ihm eindringlich in die Augen und bellte einmal kurz. Es hörte sich erbärmlich an. Schließlich war sein Hals völlig durchgescheuert und seine Kehle staubtrocken.
Doch das bemerkte Leonard gar nicht mehr. Er bückte sich schnell und besah sich den Boden genauer. Und er fand einen Schlauch! Er ragte knapp fünf Zentimeter über der Erde. Ohne den Hund hätte er das nie gefunden. Mit bloßen Händen begann er die Erde auszuheben. Jim hatte eine paar Sträucher über die aufgeschüttete Erde gelegt, um seine Suche schwieriger zu machen. Leonard grinste, während er weiter grub. Mit einem Hund hast du wohl nicht gerechnet, was?! Dann wurde er wieder ernst. Schließlich konnte es schon zu spät sein. Daran durfte er gar nicht denken!
Plötzlich spürte er Holz unter seinen Fingern. Mit einigen Handgriffen legte er die Kiste frei. Sie war erschreckend flach.
Leonard bückte sich, bis sein Gesicht die Kiste fast berührte und rief:
„Conny? Conny, bist du da ? Ich bin es, Leonard!“
Sie erwachte und realisierte nur langsam, wo sie sich befand. Sie bekam jähe Platzangst, die ihr das Herz zusammenpresste. Sie wimmerte und riskierte, wieder in Ohnmacht zu fallen. Plötzlich hörte sie eine Stimme. Eine bekannte Stimme.
Leonard! Leonard ist hier! Er hat mich gefunden. Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie räusperte sich, um zu antworten.
Nach ein paar Sekunden, in denen er noch ein Stoßgebet gen Himmel schickte, hörte er eine klägliche Stimme aus der Kiste:
„Ich bin hier!“
Leonard fiel ein Stein vom Herzen.
„Conny? Du lebst!“ Er könnte weinen vor Erleichterung. Doch erst einmal musste er sie aus der Kiste befreien. Sie war an den Rändern mit Nägeln zusammengehämmert worden. Wenn er sich nicht irrte, war die Kiste aus stabilem, dickem Holz, doch der Deckel war billiges Sperrholz. Dementsprechend leicht könnte er den Deckel zerschlagen.
„Conny, ich werde gleich den Deckel entfernen. Doch ich muss auf ihn einschlagen, um ein Loch zu bekommen. Sag‘ mir kurz, wo dein Kopf liegt, okay?“
Als Antwort klopfte sie von innen auf eine Seite. Leonard nickte und vergaß beinahe, dass sie ihn ja nicht sehen konnte.
„Gut. Bleib hier, ich gehe mal kurz was Passendes finden.“ Er stand auf und brach einen herunterhängenden, dicken Ast entzwei. Dann fiel ihm auf, was er eben zu ihr gesagt hatte. Bleib hier, wiederholte er sich kopfschüttelnd in Gedanken, dummer geht’s nicht.
Leonard ging zurück zur Kiste und brach den Deckel kurzerhand an der Stelle auf, wo Connys Füße sein mussten. Danach war es ihm ein Leichtes, den Deckel komplett aufzubrechen. Er bekam dabei zahlreiche Holzsplitter in die Hände, was ihn im Augenblick nicht weiter störte. Endlich konnte er seine Frau wiedersehen. Sie sah sehr blass aus, der Atem ging nur stoßweise. Das musste am Sauerstoffverlust liegen.
Vorsichtig nahm er sie aus der Kiste.
Conny blickte ihn an und lächelte schwach. Das löste bei ihm einen wahren Gefühlsausbruch aus. Vor Erleichterung bekam er nasse Augen. Zärtlich nahm er sie kurz in die Arme. Sie fühlte sich so zerbrechlich an.
Schnell legte er seine Frau sich um die Schultern, ähnlich wie beim Hund vorhin. Ihm fiel auf, wie ähnlich die Situation vom Hund und Conny war. Beide hatte er vom sicheren Tod gerettet, beide waren sehr angeschlagen, beide brauchten Hilfe.
Mit seiner Frau auf dem Rücken bückte er sich noch einmal, was gar nicht so einfach war. Er nahm noch den Dackel auf den Arm, der, erschöpft wie er war, alles über sich ergehen ließ. Mit dieser großen Last ging er nun den Weg zurück. Er hoffte jedenfalls, dass er die korrekte Richtung eingeschlagen hatte. Er versuchte, schneller zu gehen, und dabei nicht zu stolpern, was ein schwieriges Unterfangen war.
Der Regen hatte ihn mittlerweile bis auf die Knochen durchnässt. Seine langen Haare klebten wirr in seinem Gesicht und behinderten seine Sicht.
Conny war mittlerweile eingeschlafen, oder ohnmächtig, das wusste Leonard nicht. Plötzlich stolperte er dennoch, und zwar über eine heimtückisch herausragende Wurzel. Er fing sich im allerletzten Moment. Ungeschickt fand er sein Gleichgewicht wieder.
Der Hund wäre fast heruntergefallen und fing an, zu winseln. Leonard beruhigte ihn, indem er sanft auf ihn einsprach. Dabei fiel sein Blick zufällig auf die Uhr. Noch knapp vier Minuten. Er beschleunigte unbewusst sein Tempo. Die Angst des Versagens war wieder da, und zwar so präsent, dass er kurz vor einer Panikattacke stand. Noch vier Minuten! So lange hatte Jack nur noch zu leben, wenn Leonard nicht gleich da war. Sein Herz rutschte in die Hose. Ich befinde mich noch immer im Wald, und mit Conny und dem Dackel als Gepäck schaffe ich es doch niemals hier raus!
Doch er irrte sich. Gottseidank. Wenigstens einmal ließ ihn Fortuna nicht im Stich. Nach wenigen Metern spürte er wieder Asphalt unter den Füßen. Keine Zeit für Erleichterung. Er rannte weiter, seine Frau wurde immer schwerer und rutschte hin und her. Die Asthmaattacke machte sich jetzt wieder bemerkbar, doch nicht in Form von Atemnot, sondern in Form von tiefer Erschöpfung. Normalerweise ruhte er sich nach einer Attacke aus, was heute leider nicht möglich gewesen war.
Er setzte einen Fuß vor den anderen. Ich bin gleich da! Gleich bin ich da!, wiederholte er immer wieder in Gedanken, um sich anzuspornen.
Nach mehreren mühsamen Schritten war er endlich angekommen. Er öffnete seinen Wagen und legte den Hund auf den Beifahrersitz. Dann nahm er noch die Einwegkamera und schoss widerstrebend ein paar Fotos von seiner bewusstlosen Frau, die er auf den hinteren Fahrersitz in eine sitzende Position gebracht hatte. Er empfand es entwürdigend für Conny, sie in solch einer Lage auch noch zu fotografieren. Doch er musste es tun. Ein Blick durchs Fenster würde es auch bringen, dachte er verächtlich.
„Und gib kein Laut von dir, hörst du?“, flüsterte er dem Dackel zu.
Er wusste nicht, wie Jim die Tatsache, dass ein Hund ihm bei der Suche geholfen hatte, gefallen würde. Vielleicht könnte er ja missgelaunt werden. Dieses Risiko wollte Leonard auf keinen Fall eingehen.
Mit der Einwegkamera in der Hand ging er zur Haustür und klingelte. Karl machte sofort auf und führte ihn kommentarlos zu Jim. Der saß wie immer in der Küche am Tisch. Als er Leonard bemerkte, stand er auf und hielt die Hand hin. Leonard gab ihm die Einwegkamera und sagte: „Und jetzt? Kann ich gehen?“
Jim nickte Karl zu, der daraufhin ins Wohnzimmer verschwand und wenig später mit Jack
zurückkam. Der sah ziemlich aufgewühlt aus. Das war ja auch verständlich. Wäre Leonard auch nur zwei Minuten später gekommen, wäre Jack jetzt tot.
Leonard blickte Jack an. „Geht es einigermaßen?“
Jack nickte mit dem Kopf. Er konnte noch immer nicht antworten, da der Knebel noch in seinem Mund steckte.
Um Leonard herum bildete sich bereits eine Pfütze. Das Wasser tropfte aus seinen Haaren, seinen Kleidern. Ihm wurde kalt. Er klammerte beide Arme um seinen Oberkörper.
Jim schritt auf Jack zu und riss ihm den Knebel ruckartig aus dem Mund.
Dann ging er kommentarlos ins Wohnzimmer und kam zwei Minuten später zurück. Leonard erbleichte, als sein Blick auf die Pistole fiel, die Jim plötzlich in der Hand hatte.
„Hey, was soll das?“, wollte Leonard wissen. Er hatte geglaubt, jetzt mit Conny nach Hause zu fahren. Happy End. Doch soweit wird Jim es nicht kommen lassen, dachte er grimmig. Völlig ausgelaugt musste er wieder mit ansehen, was jetzt geschehen mochte.
Im ersten Moment ließ Jim die Waffe harmlos auf der Seite baumeln, in der nächsten Sekunde richtete sich der Lauf der Waffe ruckartig auf Jacks Stirn.
Leonard wollte sich schützend vor Jack werfen, doch Jim stand viel zu nahe dran.
So konnte er nur hoffen, dass Jim nicht abdrückte.
„Verdammt, was soll das?“ Seine Heidenangst, den besten Freund zu verlieren, verwandelte sich in Wut, die sich ausschließlich auf Jim richtete.
Jim drehte seinen Kopf langsam und sah ihm in die Augen.
„Du hast dich nicht an die Regeln gehalten. Es war nicht vereinbart, sich einen Hund zu beschaffen, der Conny in Sekundenschnelle findet. Dafür wirst du deine Strafe erhalten.“
Mit diesen Worten wandte er sich wieder Jack zu. Sein Gesicht offenbarte keine Regung, kein Zögern.
„Nein, das kannst du nicht tun! Außerdem ist alles ein Missverständnis! Den Hund habe ich im Wald gefunden. Jemand hatte ihn da einfach zurückgelassen.“
Jim zeigte keine Reaktion.
„Verdammt, dreh‘ dich doch wenigstens um, wenn ich mit dir rede!“ Ohne viel darüber nachzudenken, riss Leonard Jim an der Schulter. Der wurde dadurch in seine Richtung gerissen. Womit Leonard nicht gerechnet hatte: Jim nutzte den Schwung um seine Pistole als Knüppel zu benutzen. Leonard sah die Waffe auf sich zurasen und wollte sich nach hinten werfen. Zu spät. Die Pistole traf seine Schläfe mit voller Wucht. Er fiel rücklings auf den Boden und blieb liegen. Er sah sprichwörtlich nur noch bunte Sternchen.
Sofort war Karl, der riesige Kerl, zur Stelle und positionierte sich schützend vor Jim. Der sah zu Leonard hinunter und schüttelte den Kopf.
„Erbärmlich. Nichts weiter als plumpe Lügen und unüberlegte Handlungen. Ich kann mich nur wiederholen, wenn ich sage: So habe ich mir einen blutrünstigen Mörder verdammt noch mal nicht vorgestellt.“
Benommen bekam Leonard alles nur wie durch einen roten Schleier mit. Er hörte die Wörter gedämpft, wie aus weiter Ferne. Blinzelnd versuchte er sich wieder aufzurappeln, als ihn ein neuerlicher Schwindel wieder zurücksinken ließ. Stöhnend fasste er sich an den Kopf. Er spürte etwas Nasses, Klebriges an der Stirn. Eine schöne Platzwunde.
„So, nun machen wir der Sache endlich ein Ende. Danach bringe ich dich zur Polizei. Dann können die schauen, was sie mit dir anfangen. Ich habe keine Lust mehr, mich mit dir herumzuschlagen.“
Jim richtete die Pistole wieder einmal auf Jack. Der fing jetzt das erste Mal an, zu sprechen. Er streckte die Arme weit von sich und sagte lächelnd:
„Hören Sie, Sie können mich ruhig erschießen. Meine Freundin hat mich gerade verlassen; mein Leben ist kein Pfifferling mehr ohne sie wert. Tun Sie, was Sie wollen, Sie Verrückter.“
Fast gleichgültig blickte er seinen Gegenüber an. Leonard legte noch einen drauf, indem er sagte:
„Dir ist schon bewusst, dass du, nachdem du mich zur Polizei gebracht hast, auch gesucht wirst. Dann bist du nicht besser als diejenigen, die du verachtest.“
Jim schaute Leonard verächtlich an:
„Und du glaubst jetzt wirklich, ich würde einen Rückzieher machen? Außerdem …“
Er nickte Karl zu, der sich hinter Leonard stellte und ihn hochzog.
„Hey, was soll das?“, protestierte er.
Karl legte seine prankenähnlichen Hände wie ein Schraubstock auf seine Schultern. Jetzt konnte Leonard sich nicht mehr rühren.
Jim kam langsam auf ihn zu. Sein ausdruckloses Gesicht jagte Leonard einen Schauer über den Rücken. Plötzlich drehte er die Pistole in seiner Hand, so dass der Lauf auf Jim gerichtete war und drückte den Griff der Pistole in Leonards Hände.
„Nein, was…? Nein!“ Als Leonard verstand, was Jim vorhatte, war es längst zu spät. Er wollte sich aus Karls Griff befreien, was ein Ding der Unmöglichkeit war.
„So, nun sind deine Fingerabdrücke schön sauber am Waffengriff. Vielen Dank. Nun brauche ich nur noch…“, Jim suchte seine Taschen ab und zog schwarze Handschuhe hervor. Er zog sie sich genüsslich über und entnahm Leonard die Pistole mit spitzen Fingern.
Er war gerade fertig, da fiel er ohne Vorwarnung auf Leonard. Jim riss ihn mit sich zu Boden.
Was, zum Teufel ist jetzt schon wieder los?
Da Karl Leonard immer noch im Griff hatte, stürzte dieser auch. Es kam einem Erdbeben gleich, als alle drei zusammen zu Boden stürzten. Leonard bekam erneut keine Luft mehr. Jim war kein leichtes Kerlchen, er presste Leonard etliche Luft aus den Lungen. Als er die Augen aufmachte, sah er geradewegs in Jims Augen. Weil ihm das unangenehm war, verrenkte er seinen Hals, um nicht dahin zu schauen. Und was er sah, überraschte ihn. Jack lag geradewegs über Jim. Kein Wunder, dass ich keine Luft mehr bekomme. Also hat Jack beschlossen, Jim einfach umzuwerfen.
Jack war gerade dabei, gründlich auf Jims Rücken einzuschlagen.
Und da Leonard auf Karl lag, konnte der im Moment nichts dagegen unternehmen. Leonard ließ Jack einen Moment gewähren, bis er wirklich keine Luft mehr bekam. Er wollte sich zur Seite rollen, als ihm etwas einfiel. Er nutzte Jims Unbeweglichkeit und riss ihm die Pistole aus seinen behandschuhten Fingern. Schadenfroh grinsend rollte er sich zur Seite und rappelte sich auf.
Doch nun konnte auch Karl aufstehen. Und das tat er auch. Grollend kam er auf Leonard zu. Oh Gott, was mache ich jetzt?!, dachte er panikerfüllt. Er wich zwei Schritte nach hinten, bis er auf einmal die Wand in seinem Rücken spürte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Jack mit Jim auf dem Boden herumwälzte und beide sich prügelten.
Dann fiel sein Blick auf die Pistole, die er in der Hand hatte.
Ich Idiot hab‘ sie total vergessen!
Leonard versuchte, sich seine vorübergehende Blöße nicht anzumerken und richtete die Waffe drohend auf den Riesen.
„Keinen Schritt weiter, oder ich puste dir das bisschen Hirn weg!“
Diesen Satz wollte ich schon immer mal sagen! Vor Jahren hatte er den Satz einmal in einem Actionfilm aufgeschnappt und wollte ihn einmal in ein Gespräch mit seiner Frau einbauen. Jetzt war endlich der Moment gekommen.
Karl lieb tatsächlich stehen, wenn auch nur, um sich an der Stirn zu kratzen.
„Hör mal, ich meine das ernst, okay?“, wiederholte Leonard und versuchte, sich zu seiner vollen Größe aufzuplustern. Leider brachte es nichts.
Ich sehe immer noch aus, wie der kleine David neben Goliath.
Da Karl noch mindestens drei Meter von ihm entfernt war, wagte er es, nach Jack zu sehen. Die Beiden hatten sich fast bis vor die Haustür gewälzt. Sie lagen neben einem goldenen Regenschirmständer. Und Jack nutzte die Chance. Als Jim sich gerade von einem kräftigen Kinnschlag erholen wollte, reckte Jack den Arm und erfasste einen langen Regenschirm. Den schmetterte er ohne Zögern gegen Jims Schädel. Der brach augenblicklich ohnmächtig zusammen. Triumphierend rappelte sich der Sieger auf und schritt zu seinem Freund. Als er dessen Lage erfasste, rief er sofort:
„Na los, Leonard, knall ihn ab!“
„Nein, das kann ich nicht! Ich bin kein Mörder!“, schrie er zurück.
Seine Arme zitterten.
Karl sah ihn zögernd an. Er merkte wohl die angespannte Situation und hielt lieber den Mund, als von einem, so wie er annahm, labilen Mörder umgebracht zu werden.
„Na gut, dann muss ich das wohl übernehmen.“
Entschlossen schritt Jack auf Leonard zu. Der fragte misstrauisch:
„Bist du überhaupt schon nüchtern?“
„Ja, ich glaube schon. Obwohl…“, er legte den Kopf schief, „nein, ein bisschen betrunken bin ich schon noch. Dieser Whisky hatte es verdammt noch mal in sich. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Außerdem sind gerade so viele Dinge geschehen, bei der man automatisch nüchtern wird, findest du nicht?“
Auffordernd hielt er die Hand hin. Seufzend ergab sich Leonard seinem Schicksal und drückte sie ihm in die Hand.
„Aber du wirst niemanden damit töten, klar? Wir haben auch so genug Probleme am Hals.“
„Klar.“
Jack hatte die Waffe noch keine zwei Sekunden in der Hand, da richtete er sie auch schon auf Karl. Dessen Augen wurden immer größer. Er hob abwehrend die Arme.
Leonard konnte gar nicht hinsehen. Er presste die Augen fest zusammen.
Da schoss Jack auch schon.
Doch nicht nur einmal, sondern gleich viermal.
Leonard stockte der Atem. Er wird doch nicht…
Er hörte ein irres Lachen und einen verzweifelten Schrei, der ihm durch Mark und Bein ging.
Schnell öffnete er die Augen wieder und besah sich die bizarre Szenerie. Jack schoss auf Karls Füße, der hüpfte, um nicht getroffen zu werden. Seine grotesken Bewegungen ließen Jack immer lauter lachen. Leonard spürte, wie sich seine Nackenhaare durch sein hysterisches Wiehern aufrichteten.
Er nahm kurzerhand Anlauf und warf sich auf Jack.
Er durchlebte ein Déjà-vu, als er mit seinem Freund auf den harten Boden aufkrachte. Leonard nutzte sein Überraschungsmoment gründlich aus und entwand ihm die Waffe. Wütend schrie er ihm ins verdutzte Gesicht:
„Bist du jetzt völlig verrückt geworden, oder was? Was sollte diese Aktion? Willst du etwa, dass uns alle Nachbarn hören!?“
Wütend packte er Jack am Kragen und zog ihn auf die Beine. Er stieß ihn mit der Waffe vor sich her, um ihn um ihn nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Langsam näherte er sich Karl. Der kauerte am Boden, mit schreckensweit geöffneten Augen und starrte Jack fassungslos an.
Leonard zögerte nicht lange und zog ihm die Pistole über dem Schädel. Er legte seine ganze Wut, nicht nur auf Jack, sondern auf die ganze beschissene Situation, in die er sich befand, in den Schlag.
Der schwere Körper schlug dumpf auf den Boden auf.
Leonard ging zu Jim, der neben dem Regenschirmständer lag. Er wischte die Pistole an seiner Jacke sauber, dann drückte er sie vorsichtig in Jims erschlaffte Hand.
„So, das wäre erledigt. Und jetzt nichts wie weg hier.“
Leonard wandte sich zur Tür. Doch Jack hielt ihn von hinten an der Schulter fest.
„Was ist denn?“
„Wir können jetzt doch nicht einfach gehen! Die Beiden werden nach ein paar Stunden erwachen und die Polizei benachrichtigen.“
„Keine Angst, ich habe an alles gedacht.“
Leonard legte eine Pause ein und sah nach hinten. Jack hatte ihn immer noch fest umklammert.
„Und jetzt lass mich gefälligst los.“
„Oh, entschuldige.“
Leonard verließ das Haus durch eine Hintertür, dicht gefolgt von Jack, um von den Nachbarn möglichst nicht gesehen zu werden.
Zielstrebig ging er zu seinem Wagen und schloss ihn auf. Gott sei Dank hat der Wagen getönte Fensterscheiben, dachte er, als er zu Conny herabblickte, die zusammengesunken dalag.
Dann setzte er sich hinters Steuer. Jack nahm den Dackel und setzte ihn sich auf den Schoß.
Leonard wendete und fuhr den Weg zurück, den Blick immer auf den Bürgersteig gerichtet.
„Nach was hältst du Ausschau?“, fragte Jack.
„Nach einer Telefonzelle.“, antwortete er, kurz angebunden.
„Und wozu?“
Anstatt zu antworten fuhr Leonard rechts ran. Er hatte eine gefunden. Bevor er ausstieg, sagte er:
„Bleib drinsitzen.“
Er trat in die Telefonzelle und rief die Polizei an. Als eine Frau ihn begrüßte, schilderte er in knappen Worten, was geschehen war, nämlich, dass er und ein Freund in einem Haus in der Meeresstraße Schüsse gehört hatten. Seinen Namen nannte er nicht. Als die Frau mehr über ihn wissen wollte, legte er schnell auf und stieg wieder ins Auto.
Sie kamen an Jacks Haus vorbei. Leonard fuhr wieder einmal rechts an und sah seinen Freund fragend an.
„Was? Willst du etwa, dass ich aussteige?“, fragte der ungläubig.
„Also gut.“ Leonard hob mahnend den Zeigefinger.
„Aber, dass mir sowas wie vorhin nicht mehr geschieht, klar?“, sagte er und sah Jack noch immer vor sich, wie er wie ein Irrer auf den Mann geschossen hatte.
Jack schaute beschämt aus dem Fenster.
„Da… da habe ich die Kontrolle verloren. Ich…es war zu viel für mich. Die Sache mit Lea…und dann der irre Kerl, der deine Frau…da sind bei mir ein paar Sicherungen durchgebrannt, glaube ich.“
Jack wendete seinen Kopf und schaute ihn an, um Verzeihung bittend.
Leonard nickte und klopfte seinem Freund auf die Schulter.
„Ein Glück, dass wir alles heil überstanden haben.“
Stille legte sich über die beiden. Dann räusperte sich Leonard.
„Hör mal, glaubst du, dass uns jemand dort gesehen hat? Oder das Auto? Ich meine, dann, …dann müssen wir das Auto doch loswerden, oder?“
Jack zuckte mit den Schultern.
„Glaubst du?“
„Wir müssen doch unsere Spuren verwischen, oder etwa nicht?“
„Ja, ich denke schon. Und wie willst du das anstellen?“
„Entweder anzünden oder versenken.“
„Und wann?“
„Ich kann nicht lange warten. Wenn tatsächlich jemand die Schüsse gehört hat, hat man auch mein Nummernschild notiert. Ich kann nicht riskieren, dass die Polizei plötzlich vor meiner Haustür steht und nach meinem Auto fragt.“ Mit gerunzelter Stirn blickte er Jack an. „Es darf keine Verbindung zwischen mir und den Ereignissen hergestellt werden. Auf keinen Fall.“
Er fuhr wieder los, während sich in seinem Kopf seine weitere Vorgehensweise formte.
Zuhause angekommen trug er seine bewusstlose Frau ins Bett. Er rubbelte den Dackel trocken und gab ihm Frühstücksreste zum Fressen. Anschließend beauftragte er Jack, auf seine beiden Schützlinge Acht zu geben und sie wenn möglich zu versorgen.
Leonard selbst entnahm dem Auto alle persönlichen Gegenstände, das Nummernschild und Papiere. Er schwang sich hinters Steuer und fuhr los.
Draußen war es mittlerweile stockfinster. Er hatte Mühe, die Augen offen zu halten und auf den Verkehr aufzupassen.
Die Fahrt dauerte lange. Er hatte mittlerweile völlig das Zeitgefühl vergessen. Er befand sich irgendwo in der Pampa, weit weg von etlichen Dörfern. Leonard stieg aus und tätschelte seinen Wagen ein letztes Mal, beinahe zärtlich. Er hat mir trotz allem immer gute Dienste erwiesen. Doch Conny und ich haben ja noch einen Wagen.
Er öffnete den Kofferraum, nahm den Benzinkanister heraus und überschüttete den Inhalt über dem Wagen. Aus einigen Metern Entfernung warf er ein brennendes Feuerzeug auf die sich ausbreitende Lache. Das Benzin fing sofort Feuer.
Leonard sah den Flammen zu, wie sie den Wagen gierig verschlangen und die Lohen immer höher in den Himmel ragten. Dann drehte er sich um und verschwand in der Finsternis.
Jack streckte die Füße aus und stöhnte. Er machte es sich auf der Couch in Leonards Haus bequem. Der Dackel lag auf seinem Bauch und schlummerte friedlich. Er war kurz nach oben gegangen, um nach Conny zu sehen. Sie war in einen unruhigen Schlaf gefallen und murmelte manchmal etwas Unverständliches.
Jack streichelte Hope beruhigend über das struppige Fell. Er hatte ihn gerade getauft. Dieser Name passt wirklich. Im Grunde hatte er dem Dackel sein Leben zu verdanken, denn ohne den Hund hätte sein Freund Conny nicht rechtzeitig gefunden und Jim hätte ihn kaltblütig erschossen. Selbst in ausweglosen Situationen sollte man die Hoffnung nicht verlieren, dachte er beim Anblick des Dackels. Schließlich übermannte ihn die Müdigkeit. Seine Augen schlossen sich wie von selbst und er dämmerte weg.
So bekam er nicht mit, wie die hölzernen Treppen verräterisch knarrten.
Eine kleine Gestalt schlich sich durch das Haus und stieg auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und verschmolz praktisch mit dem Hintergrund. Sie betrat jedes Zimmer und sah sich um. Im letzten Zimmer wurde es fündig. Eine Frau lag im Bett, eingehüllt in eine dicke Decke. Leise schritt sie näher an das Bett heran und sah auf die vertrauten Züge herab. Ihr Gesichtsausdruck war völlig entspannt. Der Eindringling strich ihr zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht. Die Frau stöhnte unruhig und bewegte ihren Arm. Erschrocken wollte er sich abwenden, doch sie umschloss sein Handgelenk.
„Wer…?“, fragte sie mit kaum verständlicher Stimme und geschlossenen Augen. Die Gestalt wandte ihr Gesicht ab, sodass sie ihn nicht erblicken konnte. Der Eindringling flüsterte leise:
„Ich wollte mich nur versichern, dass du wohlauf bist. Wie ich sehe, hat dein Mann die Situation gemeistert. Dann brauche ich mir keine Sorgen zu machen.“
Die Frau murmelte etwas Unverständliches, dann versank sie wieder in einen unruhigen Halbschlaf. Die Gestalt wandte sich endgültig ab und verschmolz mit der Dunkelheit, und zwar so schnell und unauffällig, wie sie aufgetaucht war