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Kapitel 2

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Leonard kam nur langsam wieder zu sich. Stöhnend langte er nach seinem Kopf. Er dröhnte wie ein Bienenschwarm. Ich hatte zwar noch nie einen Kater, doch es wird sich wohl genauso anfühlen wie jetzt gerade... Er blinzelte und öffnete die Augen. Er lag in seinem Bett, und als er den Kopf drehte, merkte er, dass seine Frau neben ihm lag. Sie räkelte sich gerade und murmelte:

„Bist du schon wach, Schätzchen?“

„Ja, aber schlaf du schön ruhig weiter!“, antwortete Leonard spontan. Ein Blick auf den Wecker verriet ihm, dass es erst acht Uhr war. Für einen Samstagmorgen ziemlich früh.

Trotzdem stand er auf, und merkte im Nachhinein, dass er das obere Teil des Pyjamas verkehrt herum anhatte. Mit den Schultern zuckend ging er in Richtung Badezimmer und vollzog seine morgendliche Routine. Als er fertig angezogen den Raum verlassen wollte, glitt sein Blick ein letztes Mal zum Spiegel - und er erstarrte. Für einen flüchtigen Moment formte sich ein Bild in seinem Kopf, etwas wie ein dunkler Schatten, der schnell auf ihn zukam. Er musste sich an dem Waschbecken festhalten, als ihn eine plötzliche Orientierungslosigkeit überfiel. Dann verschwand es wieder, so abrupt, dass Leonard einen Augenblick später nicht mit Gewissheit sagen konnte, ob es sich nun um ein Stück aus einem Traum handelte oder etwas Anderes. Was hat das zu bedeuten?

Auch als er beim Frühstückstisch saß und seinen Kaffee trank, konnte er dieses Bild nicht vergessen. Es hatte irgendwie bedrohlich auf ihn gewirkt und hinterließ ein flaues Gefühl im Magen, das auch mit Hörnchen und Butter nicht zu verdrängen war. Trotz allem vergaß Leonard diesen kleinen Vorfall im Laufe des Tages. Er genoss das Wochenende mit Conny in allen Zügen. Er hatte diese Woche als sehr anstrengend empfunden, da es im Moment einige Veränderungen in seiner Abteilung gab. Später ging er und seiner Frau einkaufen und den Rest des Tages verbrachten sie zu Hause.

Am Samstagabend sahen sie wie gewöhnlich fern. Als erstes schalteten sie die Nachrichten ein. Die Beiden saßen zusammen auf der Couch, Conny schmiegte sich an ihn. Leonard massierte ihr zärtlich den Rücken. Er hörte dem Nachrichtensprecher nur halb zu.

Seine Frau hatte eine feingliedrige Gestalt mit schmaler Taille und langen Beinen. Sie war einen Kopf kleiner als er, was für eine Frau noch überdurchschnittlich groß war. Ihre rötlichen, voluminösen Haare wallten ihr wie ein Wasserfall über die schmalen Schultern und betonten ihr herzförmiges, weiches Gesicht. Sie hatte braune, kristallklare Augen, die die Fähigkeit hatten, bis zum Abgrund seiner Seele zu blicken.

Er liebte diese ruhigen Abende, wenn das Wochenende vor der Tür stand, und bei jedem von ihnen der Stress von den Schultern abfiel. Dann konnte man die traute Zweisamkeit in vollen Zügen genießen.

Plötzlich fiel ihm etwas auf. Die Nachrichten zeigten gerade ein Haus, das ihm vage bekannt vorkam. Er erhöhte die Lautstärke um dem Sprecher besser zuzuhören. Er wollte mitbekommen, welcher Vorfall so bedeutend gewesen sein könnte, dass es in den Acht- Uhrnachrichten berichtet wurde.

Als er dann hörte, was der Sprecher zu sagen hatte, hörte er abrupt auf, Conny zu massieren. Bestürzt starrte er auf den Bildschirm. Der Nachrichtensprecher war schon beim nächsten Bericht angekommen, wobei über eine Überschwemmung in China geredet wurde.

Leonard hörte nicht mehr zu. Die Worte des Nachrichtensprechers hallten noch immer in seinem Kopf wider.

Conny drehte ihren Kopf zu Leonard, sie runzelte die Stirn.

„Leonard, was ist los? Du bist auf einmal so angespannt.“

Er reagierte nicht, konnte seine Augen nicht mehr vom Bildschirm wenden. Seine Gedanken rasten. Das, was er gerade gehört hatte, hatte in seinem Kopf eine wahre Flut an Bildern ausgelöst, die auf ihn einstürzten. Auch wenn er die Augen schloss, half es nichts. Die Bilder, die er zuvor gesehen hatte, waren irgendwie schemenhaft, so dass er nicht viel erkennen konnte. Außerdem tauchte andauernd eine männliche Fratze, ähnlich einer Maske, vor seinen Augen auf. Er nahm mit einer abrupten Geste die Fernbedienung und schaltete den Fernseher abrupt aus.

Conny protestierte:

„He, was soll das?! Wir haben die Nachrichten noch gar nicht zu Ende gesehen! Außerdem wollte ich die Wettervorhersage von morgen noch hören.“

Ohne etwas zu erwidern, schob Leonard seine Frau sanft beiseite und stand auf. Er ging anschließend vor dem Fernseher auf und ab. Er versuchte zwanghaft, sich wieder an das zu erinnern, was er gerade gesehen hatte. Doch es war wie bei einem Traum. Desto anstrengender er sich daran erinnern wollte, umso schneller verschwanden die Bilder. Verärgert runzelte er die Stirn. Ich muss mich verdammt nochmal daran erinnern! Vielleicht hat es mit den Bildern von heute Morgen zu tun. Es war möglicherweise sehr bedeutsam. Schließlich ging es um einen Mord, der gestern Abend verübt sein soll. Ein Mann war tot in diesem Haus aufgefunden worden, mit einem Messer von hinten erstochen. Das Seltsame daran war, dass der Hausherr sich in dem Moment, als sein Kumpan getötet worden war, in seinem Schlafzimmer befunden hatte. Er war also verschont geblieben, von wem oder wieso auch immer.

„Was ist denn???“, rief Conny in besorgtem Ton. Sie sah ihm zu, wie er vor dem Fernseher umher tigerte. „Hör auf damit, du machst mich noch nervös. Komm wieder her auf die Couch.“ Sie klopfte einladend neben sich auf das Polster und sah ihm verlockend in die Augen.

Leonard schüttelte den Kopf.

„Hör mal, ich bin kein Hund!“ Trotzdem näherte er sich seiner Verlobten lächelnd. Er wollte sich von den unruhigen Gedanken ablenken. Und Conny war die verführerischste Ablenkung, die er sich gerade vorstellen konnte. Trotzdem musste er sich geradezu überwinden, sich neben sie zu setzen, und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Nun ja, sagte er sich, eigentlich war ja gar nichts geschehen. Er hatte höchstwahrscheinlich einen schlimmen Alptraum letzte Nacht gehabt. Dieser hatte erstaunlich viel Ähnlichkeit mit den letzten vorgefallenen Ereignissen. Und sonst nichts! Er redete es sich so oft ein, bis er sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte.

Conny befragte ihn an diesem Abend noch gelegentlich über sein merkwürdiges Verhalten, doch er gab nur ausweichend Antwort. Solange er selbst nicht wusste, was gerade vor sich ging, wollte er seine Frau nicht unnötig beunruhigen.

Diese Nacht konnte er nicht schlafen. Er wälzte sich wie verrückt in den Bettlaken, um endlich den wohlverdienten Schlaf zu bekommen. Als er dann endlich eingeschlummert war, erwachte er prompt schweißgebadet in seinem Bett auf. Und das ein paar Mal hintereinander. Beim dritten Mal stand er stöhnend auf und tapste barfuß in die Küche. Es war erst vier Uhr. Er hasste es, früh aufzustehen, besonders am Wochenende. Doch jetzt konnte er sowieso nicht mehr schlafen. Also machte er sich einen besonders starken Kaffee. Er genoss ihn und schlürfte betont laut, was er in Gesellschaft seiner Frau nicht tun konnte. Sie konnte das einfach nicht ausstehen.

Meistens hatte er keine Probleme beim Einschlafen, doch diese Nacht war das nicht der Fall. Diese fürchterliche Fratze, die er am vorherigen Tag des Öfteren vor seinem geistigen Auge gesehen hatte, beschäftigte ihn zutiefst. Sie verfolgte ihn bis in die Nacht. Es beunruhigte ihn, weil er sie ja nicht einmal kannte. Es haftete etwas Bedrohliches an ihr, etwas, das ihn frösteln ließ.

So in Gedanken versunken bekam er gar nicht mit, wie sich ihm eine kleine Gestalt von hinten näherte. So wurde er völlig überrascht. Er spürte, wie sich etwas in seinen Rücken bohrte. Es hatte eine kleine Eintrittsfläche und fühlte fast sich an wie ein Mückenstich. Er streckte reflexartig die Arme weit von sich und schrie auf. In Sekundenschnelle wanderte eine lähmende Wirkung, ausgehend von seinem Rücken, in seine Beine, seine Arme.

Leonard spürte seinen Körper nicht mehr. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Sein Kopf fiel auf den Küchentisch. Das Letzte, was er noch mitbekam, war das Zerschellen der Kaffeetasse auf den Boden, als seine Hand erschlaffte. Dann nichts mehr.

Er erwachte, wieder einmal, in seinem Bett. Der Wecker hatte geklingelt, es war Zeit, aufzustehen. Es war ein ganz normaler Montagmorgen, wo er zur Arbeit musste. Leonard streichelte Conny eine Strähne aus dem Haar und küsste ihr zärtlich die Stirn. Sie stöhnte leise, schlummerte jedoch weiter. Er machte sich fertig und ging zur Arbeit. Wie gesagt, ein ganz normaler Montagmorgen.

Die nächsten Tage verstrichen auch ereignislos. Die seltsamen Bilder, die er am Wochenende gesehen hatte, waren wie weggeblasen. Leonard hatte viel in seiner Abteilung zu tun, deshalb hatte er all das sehr schnell vergessen. Er war Bürokaufmann mit einer zusätzlichen Ausbildung in Steuerberatung.

In den Nachrichten verfolgte er immer noch interessiert die nicht abflauende Serie von Bluttaten von diesem Mörder, der von der Polizei gesucht wurde. Eine weitere Frau war am Sonntagabend vergewaltigt und, wie die anderen Opfer, im Wald verscharrt worden. Leonard beunruhigte das ein wenig. Der Gedanke, dass ein Mörder sich hier in der Gegend herumtrieb, ließ ihm einen Schauer über den Rücken jagen.

Die friedliche Alltagsroutine verflüchtigte sich jedoch schnell.

Am Donnerstag kam Leonard wie gewöhnlich gegen sechs Uhr nach Hause. Er betrat sein Haus und bemerkte im Nachhinein, dass die Haustür nicht abgeschlossen war. Nun ja, das kommt gelegentlich vor. Er legte als erstes die Autoschlüssel sowie seine Aktentasche auf seinen Platz. Anschließend rief er:

„Conny, ich bin zurück!“

Als keiner antwortete, zuckte er die Schultern und ging zur Toilette.

Wahrscheinlich ist sie gerade einkaufen. Folglich suchte er nach einem Zettel am Kühlschrank, oder auf dem Küchentisch. Denn normalerweise hinterließ Conny immer eine Notiz über ihre Abwesenheit. Leonard suchte vergebens. Nichts da. Als er dann das Schlafzimmer betrat, um sich umzuziehen, bemerkte er doch noch einen Zettel. Er lag mitten auf dem Bett. Er runzelte die Stirn. Das Bett war völlig durchgewühlt. Das war nun wirklich etwas überraschend. Seine Frau wurde von ihm immer liebevoll Putzteufel genannt, und das zu Recht. Sie war extrem pedantisch im Haushalt. Immer musste alles auf seinem Patz stehen. Manchmal übertrieb sie es sogar ein wenig. So zog sie wie gewöhnlich das Bett frisch auf, nachdem Leonard das Haus verlassen hatte. Heute jedoch nicht.

Leonard war gespannt darauf, was auf dem Zettel stand, ging rüber zum Bett und nahm ihn in die Hand. Er las:

Leonard,

Deine Frau gegen den Tod an meinem Bruder.

Das ist nur gerecht, findest du nicht?

Ist wohl klar, dass die Überlebenschance deiner Conny bei jeglichem Kontakt mit der Polizei drastisch sinkt.

Komm zu mir vor neunzehn Uhr, und wir beenden diese Geschichte, bevor sie noch eskaliert.

Scheiße.

Mehr fiel ihm nichts dazu ein. Sein Kopf war wie leergefegt. Plötzlich überfiel ihn die Panik und schnürte ihm die Kehle zu. Wer konnte seine Frau entführt haben? Jemand, der offensichtlich seinen Namen kannte… Doch wieso? Wieso sollte jemand etwas Conny zuleide tun?

Ratlos starrte er auf den Fetzen Papier, als stände dort die Antwort geschrieben. Was soll ich jetzt tun? Er wusste es nicht. Schließlich konnte er nicht zur Polizei gehen, auch kannte er den Entführer nicht. Er wusste auch nichts von dessen getöteten Bruder anzufangen.

Plötzlich fiel ihm wieder dieses Haus ein, das er erst kürzlich in den Nachrichten gesehen hatte. Verschwommen erinnerte er sich an den Mann, der von hinten erstochen worden war, während der eigentliche Hausbesitzer eine Etage höher im Bett gelegen und geschlafen hatte. Wenn er sich nicht irrte, handelte es sich bei dem Opfer um den Bruder dieses Hausbesitzers. Dann könnte es sich bei Connys Entführer um diesen Haubesitzer handeln, der jetzt offenbar glaubte, er, Leonard, habe seinen Bruder umgelegt.

Oder war das jetzt ein bisschen weit hergeholt? Ja, das ist es, Leonard, antwortete er sich selber. Also, was nun?

Am besten, ich setze mich erst mal. Seine Beine zitterten dermaßen, als hätte er gerade einen Marathon hinter sich gehabt.

Er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, und sich auf das Hier und Jetzt zu besinnen. Alles in ihm drängte danach, etwas zu tun, irgendetwas, um seine Frau zu befreien. Doch er musste sich zurückhalten. Zu groß war seine Sorge um seine geliebte Conny, zu groß seine Angst, jetzt einen falschen Schritt zu begehen und ihr Leben dabei zu riskieren.

Er brauchte dringend Hilfe, doch von wem? Wer, außer der Polizei kann mir eine Lösung für mein Problem bieten?

Dann leuchtete es ihm ein. Ein Privatdetektiv. Das ist die Lösung! Prompt rannte er die Treppe hinunter und übersprang sogar die beiden letzten Stufen. Schnell hastete er zu seinem Laptop, begab sich schnell ins Internet und klickte sich durch.

Seine Finger verharrten. Verdammt, das geht so nicht! Es war viel zu riskant, einen Privatdetektiv in diese Sache rein zu ziehen! Wenn dieser Kerl auch nur einen bisschen Wind davon bekäme, wäre seine Frau schon so gut wie verloren. Außerdem würde es viel zu lange dauern, einen zu finden.

Nein, er musste anders an die Sache rangehen. Schnell klappte er seinen Laptop zu, suchte seine Autoschlüssel und sprang in seinen Wagen.

Er fuhr auf die Straße und reihte sich zwischen die anderen Fahrzeuge ein, die früh abends noch unterwegs waren. Er musste seine gesamte Konzentration aufs Fahren verwenden. Verdammt, ich zittere wie mein einstiger Großvater! schoss es ihm durch den Kopf, als er das Zittern seiner Arme und Beine bemerkte. Zum einen waren es die Nervosität und Angst, zum anderen das Adrenalin, das dafür sorgte, dass er das Lenkrad fester anpacken musste.

Sein Zielort war leider noch etwas entfernt. Bei diesem Tempo würde er voraussichtlich in einer knappen halben Stunde dort sein. Nervös klopfte er mit seinen Fingern einen schnellen Rhythmus auf sein Lenkrad. Es ging ihm viel zu langsam. Als er sich kurz aus dem Fenster lehnte, sah er den Störenfried. Ein schwerer Lastwagen staute den ganzen Verkehr. Mittlerweile waren schon mindestens fünf Wagen zwischen ihm und dem schweren Fahrzeug. Verdammt, ich habe keine Zeit für sowas!

Leonard vergewisserte sich schnell, dass ihm kein Fahrzeug von der anderen Seite entgegenkam. Leider befand er sich vor einer Kurve, was die Situation keineswegs verbesserte. Jetzt oder nie.

Er nahm noch einmal tief Luft, dann fuhr er auf die linke Fahrbahn. Er beschleunigte und hatte somit die ersten drei Wagen überholt. Schweiß rann ihm über die Stirn. Die Bäume am Straßenrand schossen nur so an ihm vorbei. Das ist eigentlich nicht mein Fahrstil… Aber ich habe halt keine andere Wahl. Er ging in die Kurve. Jetzt würde sich zeigen, ob ihm jemand entgegenkam…

Jemand hupte. Das Hupen wurde immer lauter und schriller. Jemand vor ihm. Vor ihm??? Verdammte Scheiße! Er riss die Augen auf. Eine Harley-Davidson raste geradewegs auf ihn zu. Leonard riss das Steuer hart herum. Ein Glück, dass es sich um ein Motorrad und nicht um ein Fahrzeug handelte. Somit raste das Motorrad knapp an ihm vorbei. Er spürte den Luftzug, hörte, wie sein linker Rückspiegel arg in Mitleidenschaft gezogen wurde und komplett abriss. Das bekam Leonard aber nur am Rande mit. Er hatte genug damit zu tun, sein Fahrzeug zu stabilisieren. Die Autofahrer hinter dem Lastwagen hupten aufgebracht, einer hatte seinen Arm aus dem Fenster ausgesteckt und machte drohende Gesten. Doch Leonard war damit nicht zu beeindrucken. Als das Motorrad komplett an ihm vorbeigezischt war, gab er wieder Gas und überholte nun vollends den Lastwagen. Gottseidank befand er sich auf eine der breiteren Straßen, sonst wäre es weniger glücklich ausgegangen. Als er einen Blick in den unbeschädigten Rückspiegel riskierte, sah er, wie das Motorrad aufgrund des leichten Aufpralls schwankte und dann wieder das Gleichgewicht gewann.

Jetzt hatte er freie Bahn. Er grinste triumphierend.

Gut für das eine Mal. Sowas kann auch leicht ins Auge gehen, ermahnte er sich selbst.

Sein Ziel erreichte er zehn Minuten früher als gedacht. Leonard parkte sein Auto vor einem kleinen, etwas heruntergekommenen Haus und hastete zur Tür. Er klingelte. Er wartete zwei Minuten. Vier Minuten. Er klopfte an die Tür, die sich daraufhin von selbst öffnete. Sorge regte sich in ihm. Mit gerunzelter Stirn trat er langsam durch die Tür.

Er stand im Wohnzimmer seines Freundes Jack. Scherben lagen auf dem Boden, zwei Stühle waren umgekippt auf dem Boden, eine Vase lag auf einem kleinen, hölzernen Tisch. Ein kleiner Windstoß würde genügen, um sie auf den Boden fallen zu lassen. Sogar ein Tischbein war aus dem Tisch herausgerissen worden.

Der Kamin war an. Das Feuer, das normalerweise für eine behagliche Atmosphäre sorgte, löste in Leonard ein unbehagliches Gefühl aus. Da es draußen so langsam dunkel wurde, warfen die Flammen zahlreiche abstrus geformte Schatten auf die vier Wände. Das Chaos im Wohnzimmer festigte sein ungutes Gefühl noch.

Ein Mann saß in einem Sessel vor dem Kamin und hatte ihm somit den Rücken zugewandt. Leonard erkannte ihn anhand seines roten Schopfes als seinen dreißig Jahre alten Freund.

Er räusperte sich:

„Jack? Ich bin‘s, Leonard.“

Keine Antwort. Dann hob sein Freund eine Flasche und führte sie zum Mund.

„Hör mal, was ist denn hier eigentlich los?“, drängte Leonard. Ihm lief die Zeit davon.

Langsam stand Jack auf und drehte sich zu ihm um. Er hob seine Arme und zeigte damit um sich herum.

„Das siehst du doch, oder?“ Seine Stimme lallte ein wenig.

„Bist du etwa blau?“

„Noch nicht, aber bald.“ Jack grinste und setzte zu einem weiteren Schluck an. Doch Leonard

sprang einen Satz nach vorne und entriss sie ihm.

„He, was soll das?“, protestierte Jack und schnappte nach der Flasche in Leonards Hand. Seine Bewegung war dermaßen unkoordiniert, dass er das Gleichgewicht verlor und sich an Leonards Schulter klammerte, um nicht umzufallen.

„Hör auf, solchen Fusel zu trinken! Du hast doch noch nie Alkohol getrunken. Warum fängst du gerade jetzt damit an?“

„Irgendwie muss man sich doch zu helfen wissen, oder?“

„Wie meinst du das?“

Jack‘ s Gesicht verdunkelte sich zusehends. Seine Schultern sackten herab und er ließ sich müde in seinen Sessel fallen. Er hatte ein rundes Gesicht mit fliehendem Kinn, eine tiefe, breite Stirn und kleine, grüne Augen. Seine Haare waren ein wirres Durcheinander aus dicken, roten Haaren, die ihm bis über Stirn hingen. Eine Haarbürste war für ihn ein Fremdwort.

„Lea und ich hatten… Zoff. Dann ist sie zur Tür raus und weg war sie.“

„Oh, das tut mir leid.“ Leonard erinnerte sich: Lea war Jacks‘ Freundin, sie waren schon über fünf Jahre zusammen.

Betretenes Schweigen legte sich um die Beiden.

Leonard wollte ihn schon fragen, ob Lea auch handgreiflich während ihrem Streit geworden war, überlegte es sich dann anders. Das Wohnzimmer erzählte seine eigene Geschichte. Stattdessen schüttelte er den Kopf und sagte bedächtig:

„Du weißt, dass Alkohol keine deiner Probleme lösen wird, Jack.“

Jack antwortete nicht. Stattdessen starrte er ins Nichts und war höchstwahrscheinlich gerade weit weg mit seinen Gedanken. Dann, endlich erwachte er aus seiner Starre und blickte Leonard geradewegs in die Augen.

„Hey, warum bist du überhaupt hier?“

„Nun ja, ich…ich habe ein kleines Problem. Es ist etwas geschehen.“

Leonard räusperte sich. Es laut auszusprechen machte es nur noch realistischer.

„Meine Frau wurde entführt.“.

Jack starrte ihn groß an. „Verdammt, ist das dein Ernst?“

Leonard nickte und zeigte ihm den Zettel. Dann teilte er ihm mit zittriger Stimme seinen Verdacht mit, obwohl er weit hergeholt war.

Als er fertig war, musste er an sich halten um sich unter Kontrolle zu halten. In ihm toste ein

Sturm von Gefühlen. Ohnmächtige Wut gegenüber dem Entführer, Angst um seine Frau und Machtlosigkeit rangen miteinander. Er biss sich nervös auf die Unterlippe, als er fertig mit erzählen war.

„Okay, jetzt beruhig` dich erst mal, klar? Das wird schon wieder.“ Jack stand auf und wollte ihm beruhigend den Arm um die Schulter legen. Doch Leonard entzog sich ihm und erwiderte aufgebracht:

„Verstehst du denn nicht? Ich kenne den Entführer nicht einmal! Also kann ich mich auch nicht mit ihm in Verbindung treten.“

Jack unterbrach ihn. „Hör mal, du hattest doch die Vermutung, dass es sich bei dem Entführer um die Person handelt, dessen Bruder getötet worden war, nicht wahr?“

„Das war bloß eine Vermutung, aber ja. Wieso?“

„Na dann haben wir doch unsere Spur, oder nicht?“ Jack wirkte sehr zuversichtlich, als er seine staubbefleckte Jacke vom Boden aufhob und auf die Tür zusteuerte.

„Wo willst du hin?“

„Na hoffentlich zu Conny.“

„Und woher weißt du, wo der Mann wohnt?“

„Vor ein paar Tagen war das Haus doch in den Nachrichten gezeigt worden, nicht wahr?“

Leonard nickte.

„Ich habe das Haus sofort wiedererkannt. Es befindet sich hier, im selben Dorf.“ Jack verließ das Haus mit Leonard auf den Fersen. Er zeigte mit dem Zeigefinger auf die Straße.

„Dort hinter der Kurve müsste es irgendwo sein.“ Er schaute Leonard erwartungsvoll an.

„Fährst du?“

Leonard hob die Arme. „Was, jetzt? Du willst jetzt zu diesem Kerl fahren? Muss man nicht erst mal Pläne schmieden, oder sowas?“

Jack zuckte mit den Schultern. „Was soll man denn groß schmieden?“

„Keine Ahnung. Doch wir können dich nicht einfach dorthin fahren, anklopfen und fragen, ob jemand meine Frau entführt haben. Klingt doch bescheuert oder nicht?“

„Klar, so wie du es sagst…Nun komm schon und hab dich nicht so.“

Jack stieg in den Wagen, dabei fiel Leonard auf, dass er das Auto vorhin gar nicht abgesperrt hatte. Nun ja, wer will schon einen Schrottwagen klauen…

„Hey, was ist überhaupt mit deiner Karre passiert?“, fragte Jack und deutete mit dem Finger auf den fehlenden Rückspiegel an der Fahrerseite. Er schien Leonards Gedanken gelesen zu haben.

Jetzt zuckte Leonard mit den Schultern. „Ein kleiner Zwischenfall. Aber lenk nicht ab! Wenn ich tatsächlich Recht mit meiner Vermutung habe, gehen wir jetzt zu jemandem, der stinkwütend auf mich ist. Ich muss mich wenigstens irgendwie bewaffnen, verstehst du?“

„Wenn du glaubst …“

Jack’ s Gelassenheit machte Leonard wahnsinnig.

„Mir scheint, dir ist der Ernst der Lage gar nicht richtig bew –“

Er erstarrte. Ihm schien, dass er gerade ein Déjà-vu erlebte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass jemand ihm vor gar nicht langer Zeit genau das Gleiche gesagt hatte. Er horchte in sich hinein um sich daran zu erinnern. Sein Instinkt sagte ihm, dass es mit den aktuellen Geschehnissen zusammenhing.

Jack bemerkte die plötzliche Abwesenheit bei Leonard. „Hey, was ist los?“

Leonard wollte schon antworten. „Nichts, ich…“

Er sah plötzlich ein Gesicht vor seinem geistigen Auge. Es glich den „Erscheinungen“, die er vor ein paar Tagen schon gehabt hatte. Das Gesicht war ganz dicht an seinem. Es war vor Zorn ganz verzerrt, der Mund formte stumme Wörter. Darauf folgte eine Flut von Bildern, die sich über Leonard ergossen. Er konnte ihnen bald nicht mehr folgen, so schnell ging ein Bild in das Andere über. Er sah sich von Männern umringt, Handschellen, eine Faust, die auf ihn zugerast kam. Ein düsterer Keller, ein Schrei. Mein Schrei?

Völlig desorientiert musste er sich an seinem Auto aufstützen. Nach der gewaltigen Flut von Bildern fand er erst allmählich in die Realität zurück.

Das erste, was er sah, war ein besorgtes Gesicht, das sich über ihn beugte.

„Leonard? Bist du wieder da? Was ist denn los? Hattest du einen Schwächeanfall?“

Jack reichte seinem Freund die Hand, die Leonard dankbar annahm.

Er stemmte sich in die Höhe.

„Ist schon gut, ich bin okay…“, antwortete er etwas in sich verkehrt. Vor seinem geistigen Auge spulte er die letzten Sinneseindrücke zurück. Seine Augen wurden immer größer, je mehr ihm alles klar wurde. Es war wie ein Groschen, der in Zeitlupe zu Boden fällt. Die Bilder hatten plötzlich Erinnerungen in ihm hervorgeholt, und jetzt sprudelten die Wörter nur so aus Leonard heraus.

„Hör mal Jack, hör mir jetzt genau zu! Ich erinnere mich jetzt wieder! Vor ein paar Tagen wurde ich von drei Männern überfallen. Einer davon beschuldigte mich des Mordes an seiner Frau und sperrte mich in seinen Keller.“

„Wirklich?! Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Wie konntest du denn so was Wichtiges vergessen? Und wodurch konntest du sie von deiner Unschuld überzeugen?“

Jack schoss offenbar alle Fragen ab, die ihm einfielen.

Leonard dachte angestrengt nach und durchforstete sein Gehirn. Ohne Erfolg.

„Keine Ahnung. Das sind genau die zwei Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Einen Moment.“ Leonard war plötzlich etwas eingefallen.

„Was denn? Erinnerst du dich wieder an etwas?“, fragte Jack sichtlich aufgeregt.

Leonard antwortete mit gerunzelter Stirn: „Am nächsten Tag hatte ich alles wieder vergessen. Ich erwachte morgens in meinem Bett und machte mit Conny einen Einkaufsbummel, als wäre nichts geschehen.“

Beide sahen sich an.

„Komisch…“, meinte Jack. Nach langem Zögern fügte er hinzu:

„Ich frag` ja nur ungern aber… Was hat das hiermit zu tun?“

„Nun, beim Entführer meiner Frau handelt es sich um denselben, der mich in den Keller gesperrt hat. Höchstwahrscheinlich. Er heißt Jim, wenn ich mich nicht irre.“

„Ah“, machte Jack und nickte langsam mit dem Kopf.

„Hatte ich das nicht erwähnt?“, fragte Leonard verwundert.

„Nein.“

„Ach.“

„Ein kleines Detail, das alles irgendwie verständlicher macht und die Situation gleichzeitig verschlimmert.“

„Du sagst es.“

„Dann hattest du ja wirklich Recht mit deiner Vermutung! Hey, aus der Sicht von Jim hast du also nicht nur seine Frau, sondern auch seinen Bruder auf dem Gewissen! Mann, muss der eine Mordswut auf dich haben, Alter!“ Jack pfiff durch die Zähne und grinste. „Was für eine Ironie. Und dabei hast du keinen Einzigen umgebracht.“

„Ich finde das gar nicht lustig.“

Leonard drehte sich auf dem Absatz herum und steuerte Jacks Haus an.

„Entschuldige, Mann. Du brauchst doch nicht direkt den Beleidigten spielen“. Jack zuckte mit den Schultern, „ich schätze, ich bin doch noch ein wenig wegetreten vom Alkohol.“

„Schätze ich auch“, erwiderte Leonard trocken, ohne sich umzudrehen.

„He, wohin gehst du?“, rief Jack ihm nach.

„Bin gleich zurück!“ Drei Augenblicke später war er wieder da, mit einem hölzernen Knüppel in der Hand. Er sah etwas mickrig aus. Für meine Zwecke reicht es.

„Wo hast du denn den her?“

„Ein Bein von deinem kaputten Tisch. Irgendwie muss ich mich ja bewaffnen, und den brauchst du doch bestimmt nicht mehr, oder?“

Jack schüttelte den Kopf. „Du kannst dich ruhig bedienen.“

Leonard stieg in den Wagen und legte seine neue Waffe auf den Rücksitz. Als Jack sich auf den Beifahrersitz schmiss, fuhr er schon mit Vollgas los.

„He, ich hatte die Tür noch nicht richtig zu! Diese paar Sekunden könntest du doch sicher für mich erübrigen, oder?“, rief sein Freund aufgebracht. Mit einem lauten Knall schmiss er die Tür zu.

Leonard antwortete nicht. Für ihn war jetzt nur noch eines wichtig: Seine Conny befreien.

Er wusste nicht, wie er in solch eine verrückte Situation geraten war, aber eines war sicher: Conny hatte mit der ganzen Sache nichts zu tun. Er musste Jim von seinem Irrtum überzeugen und dafür sorgen, dass Conny kein Haar gekrümmt wurde.

Er war natürlich bereit, sein Leben für sie zu riskieren. Doch das würde er zu verhindern wissen.

Ich kann Conny sicherlich auch befreien, ohne gleich draufzugehen.

Tödliches Vergessen

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