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Kapitel 5

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Es waren mittlerweile einige Wochen vergangen. Zur Abwechslung verlief Leonards Leben wieder in geordneten Bahnen. Seine Frau hatte sich wieder gründlich erholt. Er hatte ihr erzählt, was ihm alles widerfahren war. Sie war anfangs schockiert, aber auch verwirrt, weil die Geschichte mit Jim immer noch Lücken hatte. Manches blieb unerklärlich. Doch die Beiden wollten die Vergangenheit hinter sich lassen und einen Schlussstrich ziehen.

Der Dackel war zu einem festen Familienmitglied geworden im Hause Kelley. Er wurde von morgens bis abends verwöhnt. Conny hatte sich in den Hund verliebt und las ihm jeden Wunsch von den nussbraunen Augen ab. Sie nahm ihn manchmal sogar mit zu Arbeit, um ihn nicht alleine zuhause zu lassen.

Leonard erzählte keinem seiner Arbeitskollegen etwas über diese Geschichte. Es würde ihm sowieso keiner glauben. Wenn er so zurückblickte, zweifelte er manchmal selbst, ob das Ganze nicht doch ein einzig großer Alptraum war.

Ihm fiel auf, dass in den Nachrichten nichts mehr über die Mordserie berichtet wurde. Er war erleichtert darüber und konnte nachts viel besser schlafen. Das hing auch damit zusammen, dass er nicht mehr unter den Halluzinationen litt. Er erinnerte sich noch zu gut an die fürchterliche Fratze, die er immer vor seinem geistigen Auge gesehen hatte.

Leonard war überzeugt davon, dass der Alptraum jetzt vorüber war. Mit diesem beruhigenden Gedanken im Hinterkopf konnte er viel besser leben, und was viel bedeutender war: er konnte viel besser schlafen.

Eine Straße weiter war gerade der Teufel los.

Es war ein Uhr nachts und das, was gerade im Haus Saskia vor sich ging, grenzte schon fast an Ruhestörung.

Jutta Saskia griff sich den Koffer, den sie eiligst mit den nötigsten Sachen vollgestopft hatte und warf ihn vor sich auf die Straße.

„Verschwinde und lass dich nie wieder blicken, du alter Bastard!“

Sam stand vor seinem eigenen Haus im Pyjama und glotzte seine Frau an. Sie sah aus wie eine Furie. Ihre Augen sprühten förmlich vor Wut und ihre Haare standen so senkrecht von ihrem Kopf ab, dass es einfach nur lächerlich aussah. Sie stand an der Türschwelle und starrte wütend auf ihn herab.

Sam hob beschwichtigend die Hände. Der Koffer war so nah an seinem Kopf vorbeigeflattert, dass er nicht an einen Zufall glauben wollte.

Er schüttelte den Kopf und fragte seine Frau:

„Was ist nur in dich gefahren? Wir sind jetzt zwanzig Jahre verheiratet und du schmeißt mich einfach von heute auf morgen raus?!“

Jutta schnaubte wie ein wilder Stier und fuhr ihn an:

„Wie kannst du nur so scheinheilig daherreden? Ich hätte nie gedacht, dass du mich so verletzen würdest.“

„Hör mal, es tut mir leid, ich…“

Jutta drehte sich auf dem Absatz um und knallte die Haustür mit Wucht zu.

Sam starrte die Tür noch einige Sekunden an, so als hoffte er, dass sie sich plötzlich wieder öffnen würde und seine Frau ihn mit einem strahlenden Lächeln empfangen würde.

Seine anfängliche Bestürzung verwandelte sich jäh in ohnmächtige Wut.

Wie kann Jutta mich nur so behandeln? Und dabei dachte ich, dass ich sie nach all den Jahren kennen würde.

Er versuchte sich zu erinnern, was vorhin geschehen war, bevor seine Frau ihn vor die Tür gezerrt hatte. Sie waren beide gemeinsam schlafen gegangen. Jutta hatte ihn sogar noch geküsst, bevor sie sich umgedreht hatte, um einzuschlafen. Und dann…

Ich erwachte, weil das Telefon klingelte. Jutta nahm den Hörer und fragte, wer dran ist. Dann haben sich ihre Augen geweitet und sie hat etwas ins Telefon gebrüllt. Sie hat irgendetwas mit „Schlampe“ gesagt, das weiß ich noch.

Sam überlegte, wer es nur gewesen sein könnte, der ihn um diese Uhrzeit anrufen wollte. Plötzlich fiel der Groschen.

Das kann nur Sarah sein. Ihn überlief es heiß und kalt, als ihm klar wurde, dass seine Frau mit derjenigen gesprochen hatte, mit der Sam eine klitzekleine Affäre gehabt hatte. Er war auf Geschäftsreise gewesen, und die Empfangsdame war so reizend gewesen…

Sam riss sich aus seinen Gedanken und hob seinen Koffer auf, den ihm seine Frau so reizend vor seine Füße geworfen hatte. Er drehte sich einmal im Kreis und überlegte, wo er hingehen könnte.

Meine Frau wird sich wieder beruhigen und mich spätestens morgen anrufen und mich um Verzeihung bitten. Außerdem…was fängt sie ohne mich schon an?

Von seinen zuversichtlichen Gedanken bestärkt, schlug Sam die Richtung ein, die geradewegs in den Wald führte. Direkt hinter der kleinen Ansammlung von Bäumen war eine Bushaltestelle. Auf die hatte er es abgesehen.

Entschlossen beschritt er den Wald und tauchte in fast vollkommene Dunkelheit ein. Es war mittlerweile Frühling und die Nächte wurden Tag für Tag kürzer. Außerdem war gerade Vollmond und der blasse Schein sorgte dafür, dass Sam nicht in vollkommener Finsternis versank.

Er schreckte plötzlich aus seinen Gedanken, als er vor sich Schritte hörte. Erschrocken sprang er auf und versteckte sich spontan hinter einem großen Baum. Wer ist denn jetzt noch unterwegs? Neugierig und auch ein bisschen misstrauisch lugte er hinter dem Baum hervor.

Die ersten Sekunden sah er praktisch nichts. Vielleicht habe ich mich nur verhört und meine Sinne gaukeln mir etwas vor.

Er wollte schon hinter dem Baum hervortreten und weitergehen. Doch dann erkannte er plötzlich Umrisse. Er runzelte die Stirn. Was zum Teufel…? Das sind doch keine menschlichen Umrisse. Was ist das? Er blinzelte und spähte hinter dem Baum hervor.

Es war eine hohe, schlanke Gestalt, doch anstatt eines Kopfes erblickte er einen riesigen buckligen Umriss. Erst nach und nach erkannte Sam mehr. Aus dem Hintergrund schälte sich ein Mann heraus, der eine riesige Plastiktüte auf dem Rücken trug.

Sam beobachtete den Mann eine Weile. Der Fremde kam immer näher. Als er nur zwei Meter von ihm entfernt war, sprang Sam hinter dem Baum hervor und versperrte ihm so den Weg. Der Fremde, entgegen seinen Erwartungen, erschrak überhaupt nicht. Er sprang nicht zurück, sondern blieb einfach stehen und sah stur geradeaus.

„He, was treiben Sie hier?“, fragte Sam herausfordernd.

Der Mann reagierte anfangs nicht. Dann hob er langsam, wie in Zeitlupe den Kopf und blickte Sam an. Als der den Blick erwidern wollte, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Er schaute in Augen, die geradewegs durch ihn hindurch blickten und ihn gar nicht zu registrieren schienen.

Sam schluckte, trat jedoch keinen Schritt zurück. Das wäre ja noch schöner.

Der Mann öffnete den Mund und sagt in monotoner Stimme:

„Ich bringe den Müll raus.“

„Wie? Sie…sie bringen den Müll raus? Um ein Uhr nachts? Mitten im Wald?“

Sam runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor seinem Bauch.

„Ich bringe den Müll raus.“

„Nun hören sie doch auf. Das glaubt ihnen doch kein Mensch. Da ist doch was faul an der Sache.“

Der Fremde, dem Sam vage bekannt vorkam, antwortete:

„Gehen Sie nach Hause, alter Mann. Das hier geht Sie nichts an.“

Er drehte sich abrupt um und wollte an Sam vorbeischleichen.

„Moment mal!“ Sam packte den Mann an den Schultern und riss ihn herum. Der Mann verlor beinahe das Gleichgewischt mit der riesigen Tüte. Im letzten Moment fing er sich. Die Tüte verrutschte ein bisschen, und was zum Vorschein kam, ließ Sam zurückstolpern. Sein Blick fiel auf einen nackten, bleichen Fuß, der aus der Tüte ragte.

Seine Gesichtszüge entgleisten.

Völlig entgeistert wich Sam zurück und stolperte über eine Wurzel. Prompt fiel er der Länge nach ins Gras. Völlig aufgelöst sprang er wieder auf und sah wieder auf den bleichen Fuß. Egal, wie er hinschaute, immer verfing sich sein Blick auf den Fuß. Er presste seine Hand auf den Mund und zeigte mit einem zittrigen Zeigefinger auf den Mann.

„Sie…sie sind ein Mörder, oder wie? Sind Sie für die Leichen in diesem Wald verantwortlich? Sind Sie derjenige, den die Polizei schon so lange sucht?“ Seine Stimme wurde immer hysterischer und schriller.

Der Mann stand immer noch reglos da wie eine Statue. Dann legte er den Kopf schief und wiederholte tonlos:

„Gehen Sie nach Hause. Das hier geht Sie nichts an.“

Sam hörte nicht mehr zu. Alles was er hörte, war die Stimme aus dem Radio, der er abends immer im Schlafzimmer zugehört hatte. Wenn die Polizei wieder einmal berichtet hatte, dass in diesem Wald eine Leiche gefunden wurde. Seine Frau hatte immer furchtbare Angst gehabt, weil sie doch so ungemein nah am Wald wohnten. Sam hatte sie immer beruhigen und beschwichtigen können.

Und jetzt stand er dem Mörder höchstpersönlich gegenüber.

Sam räusperte sich und sagte mit rauer Stimme:

„Genau. Wie Sie gesagt haben: ich gehe einfach nach Hause und vergesse unsere kleine Begegnung!“

Beschwichtigend hob er die Hände in die Luft und wich einen Schritt zurück.

Der Fremde zeigte keine Regung. Er sah Sam nur zu und folgte jeder seiner Bewegungen.

Sam war einen Schritt davon entfernt, panisch fortzulaufen. Doch er traute sich nicht, sein Blick blieb am Fremden hängen, dem Sam immer unheimlicher und furchteinflößender wurde.

Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Sie waren schon sehr nah. Schnell drehte er sich um. Er sah ein Messer auf sich zu fliegen. Er versuchte, auszuweichen, doch er hatte es zu spät gemerkt.

Im nächsten Moment ragte ein schmales Messer aus seiner Brust. Sam fiel auf die Knie. Ungläubig sah er auf den Schaft, der tief in seiner Brust steckte. Kurz darauf kamen die Schmerzen. Wie eine heiße Welle überschlugen sie ihn. Er keuchte auf.

Jutta! Ich wünschte, ich wäre nicht davongelaufen. Sie…ich werde ihr nie mehr sagen können, dass es mir unendlich leidtut.

Tränen der Trauer vermischten sich mit Tränen der Schmerzen.

Durch den roten Schleier, der sich auf seine Augen legte, erkannte er eine kleine Gestalt, die auf ihn zu schlich wie eine Raubkatze. Sie kniete sich vor ihm nieder, strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht.

Ihm fielen schwarze Lederhandschuhe auf.

Das fremde Gesicht näherte sich seinem, bis Sam die Iris seiner Augen sehen konnte.

Der Fremde hauchte ihm ins Ohr:

„Du hättest auf meinen Freund hören sollen und gleich nach Hause gehen sollen, “er seufzte gespielt, „es sollte nicht so weit kommen. Doch ich kann kein Risiko eingehen, verstehst du? Er kommt dir doch bestimmt bekannt vor, oder nicht? Ich rede von dem schrecklichen Serienmörder, mit dem du gerade Bekanntschaft gemacht hast. Er wohnt eine Straße weiter. Nein, du kennst ihn nicht?“

Sam bekam die Worte nicht richtig mit, er röchelte und hustete Blut.

Der Fremde wich angewidert zurück und stand auf. Er verschwand aus seinem Blickfeld und sagte zu dem anderen Mann:

„Nun, mein lieber Partner, nun haben wir gleich zwei Leichen zu begraben, nicht wahr? Ich werde dir schön dabei zusehen.“

Das war das letzte, was Sam hörte. Sein Oberkörper fiel auf den erdigen Boden, dabei bohrte sich das Messer noch tiefer in seine Brust. Doch das bekam er schon nicht mehr mit.

Tödliches Vergessen

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