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Kapitel 3

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Die Beiden waren erst zwei Minuten unterwegs, als Jack auch schon den Arm ausstreckte und auf ein Haus zeigte.

„Da! Da hinten ist das Haus!“

Leonard nickte und parkte das Auto vor einem kleinen, unscheinbaren Gebäude.

Er atmete tief ein und aus. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.

Jack befreite sich von seinem Sicherheitsgurt und betrachtete seinen Freund.

„Bist du bereit für die Höhle des Löwen? Du siehst so blass um die Nase aus.“

Leonard nickte und verließ den Wagen. Er nahm seine Waffe vom Rücksitz und ging mit entschlossenen Schritten zur Haustür.

„Soll ich mitkommen und dir beistehen?“, rief Jack ihm nach.

Leonard schüttelte den Kopf und erwiderte: „Bleib du lieber hier im Wagen. Wenn du Lärm im Haus hörst, kannst du mir zu Hilfe kommen oder die Polizei rufen.“

Jack blinzelte. „Geht klar. Viel Glück!“

Leonard nickte dankbar. Er wurde immer ruhiger.

Angst, Unschlüssigkeit und Furcht waren wie weggeblasen. Zurück blieb eine eiskalte und kompromisslose Entschlossenheit. Er trat nun vollends durch die Haustür. Wird schon schiefgehen.

Seine Umgebung nahm er gar nicht wahr. Sein Fokus reduzierte sich auf die Person, die Leonards Leben in den letzten Stunden auf den Kopf gestellt hatte. Der Mann saß in der Küche am Tisch und schlürfte gerade an einem Kaffee. Als Leonard durch die Tür trat, ohne zu klingen, stand Jim langsam auf. Es sah irgendwie bedrohlich aus. Er kniff die Augen zusammen und sah ihn an.

„Nicht gerade höflich, einfach ohne anzuklopfen hier rein zu stolpern. Aber wissen Sie was? Es wundert mich nicht einmal. Passt zu Ihnen.“

„Nun ja, es war keine Klingel angebracht und da dachte ich, …“

„Schon gut, schon gut!“

Leonard blinzelte. Sprechen wir hier wirklich über sowas Wichtiges wie Unhöflichkeit?

„Und was wollen Sie mit diesem lächerlichen Ding da?“, er zeigte auf seine Waffe in der Hand, „wollen Sie mich damit etwa totschlagen?“

Leonard kam nicht dazu, etwas zu erwidern.

Jim fing an, leise zu kichern.

„Haben Sie vielleicht Nerven! Sagen Sie, wissen Sie, wie spät es ist?“ Er schaute auf die Uhr und nahm die Hand in einer theatralischen Geste vor den Mund. „Es ist neunzehn Uhr achtundzwanzig!“

Leonard‘ s Herz rutsche in die Hose. Verdammte Scheiße! Ich habe total vergessen, auf die Zeit zu achten!

Seine Ruhe und Beherrschung waren wie weggeflogen.

„Wo ist meine Frau? Was haben Sie mit ihr gemacht?“, Er wurde immer lauter und machte einen drohenden Schritt nach vorne. „Wenn Sie ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben, …“

„Was dann?“ Jim wartete lauernd auf eine Antwort.

Ihre Nasenspitzen berührten sich beinahe. Leonard zitterte am ganzen Körper vor Aufregung. „Ich werde alles mir in der Macht Stehende tun, um Conny zu befreien. Und wenn ich Sie dafür töten muss!“

Jim war nicht sonderlich beeindruckt von Leonards Drohung.

„Das würde Sie nicht viel Überwindung kosten, oder? Ein Leben mehr oder weniger, das auf Ihr Konto geht, nicht wahr? Aber weißt du was? Mir bedeutet ein Menschenleben viel. Es ist kostbar und jedes einzelne ist einzigartig. Deshalb würde ich nie einen Mord begehen. Doch bei dir könnte ich eine Ausnahme machen, weißt du? Nachdem du praktisch all meine Verwandten ausgelöscht hast, habe ich keine Hemmungen mehr, dich auszulöschen.“

Leonard fiel nebenbei auf, dass Jim mitten in seine Ansprache von „Sie“ auf „Du“ gesprungen war. Es klang befremdlich, von einem halbwegs Fremden geduzt zu werden. Aber ihm sollte es Recht sein.

Er breitete die Arme aus. „Was ist denn jetzt? Willst du meine Frau freilassen und mich danach töten? Ist das dein großer Plan?“

„Du hast da was vergessen. Du liegst fast eine halbe Stunde über der festgelegten Zeit. Wenn du pünktlich gewesen wärst, säße deine heißgeliebte Frau jetzt wohlbehalten im Wohnzimmer. Doch durch deine Schlamperei hast du sie in Gefahr gebracht.“

„Was hast du mit ihr gemacht? Na los, sag’s schon!“

Leonard flippte beinahe aus. Seine Sorge um Conny brachte ihn fast um den Verstand. Es war nicht richtig, dass sie in diese Sache gezogen wurde. Wenn ihr was zustoßen würde… er würde sich das nie im Leben verzeihen. Und im Augenblick entglitt ihm die Situation immer mehr seiner Kontrolle.

„Du machst dir wirklich Sorgen um sie. Ich verstehe das nicht. Wie kannst du so ein Doppelleben führen? Während du eine glückliche Ehe führst, tötest du gleichzeitig eine Frau nach der anderen.“ Jim sah ihm tief in die Augen. „Was geht nur in so einem kranken Gehirn vor?“

„Du verdächtigst den Falschen. Ich habe noch nie jemanden umgebracht. Schon damals, als du mich in den Keller gesperrt hast, warst du auf der falschen Spur. Ich bin es nicht. Ich bin kein Mörder!“ Verzweifelt versuchte er, Jim davon zu überzeugen. Doch er befürchtete, dafür war es längst zu spät.

Jim rollte mit seinen kräftigen Schultern.

„Bei so viel Unverschämtheit würde ich normalerweise total ausrasten“, ein irres Funkeln war kurz in seinen Augen zu sehen, dann verschwand es nach und nach, „aber ich tue jetzt einfach so, als hätte ich es nicht gehört.“ Jim verzog den Mund zu einem verkrampften Lächeln.

Leonard schluckte. Dann wiederholte er seine dringendste Frage.

„Wo ist Conny?“

„Weißt du, was wir jetzt spielen?“

Leonard atmete langsam ein und aus. Er hatte Angst, was jetzt kam.

„Was? Hast du etwa keine Lust auf Spielchen? Als du meine Frau und meinen Bruder getötet hast, hattest du wohl nicht daran gedacht, dass es dir auch mal so ergehen würde.“ Mit langsamen Schritten umrundete er Leonard. Mit den Armen im Rücken verschränkt, blieb Jim hinter ihm stehen, sodass Leonard seinen Atem im Nacken spüren konnte.

„Wenn ich dir gleich sage, wo sie sich befindet, würdest du mich danach gleich beseitigen. Aber ich habe vorgesorgt, keine Sorge. So eine Art Rücksicherung, verstehst du?“ Jim tauchte wieder vor seinem Gesicht auf. Er grinste wölfisch. Dann schaute er hinter sich und nickte.

Nun drehte sich auch Leonard um, um zu sehen, was es hinter ihm so Interessantes zu sehen gab.

Seine Augen wurden größer. In der Haustür stand Jack, hinter ihm ein stämmiger Kerl. Er war fast zwei Meter groß und kam Leonard vage bekannt vor. Als er versuchte, sich daran zu erinnern, fiel ihm wieder ein, dass diese Person zu Jims Kumpanen gehörte. Als Jim ihn damals überfallen hatte, waren sein Bruder und dieser breitschultrige Kerl seine Begleiter gewesen.

Jack hatte man die Hände hinter dem Rücken gefesselt, und ein geknebelter Mund sorgte dafür, dass er keinen Mucks von sich geben konnte. Er sah Leonard mit großen Augen an.

Dabei fiel ihm auf, dass Jack ein violettes Veilchen im linken Auge abbekommen hatte.

Mit mühsam unterdrückter Wut sagte er knirschend: „Was soll das? Reicht es nicht, dass du meine Frau entführt hast, musst du jetzt auch noch meinen Freund in diese Sache mit einbeziehen?“

Jim zuckte nur mit den Schultern. „Ein Glück, dass du nicht alleine gekommen bist. Ich hatte es fast nicht zu hoffen gewagt. Als mein treuer Gefährte mit ihm hereingeschneit kam, war ich wirklich erleichtert.“

„Schön für dich“, kommentierte Leonard verbittert. „Was wirst du mit ihm anstellen?“

„Vorerst nichts. Wie gesagt, ohne triftigen Grund werde ich niemandem Schaden zufügen. Ich verabscheue Gewalt. Teilweise. “

Leonard horchte auf. „Was heißt das?“

„Ich werde alles tun, um dich denselben Schmerz spüren zu lassen, den du mir zugefügt hast. Und das ist eine Menge.“

Ein Schatten huschte über Jims Gesicht. Für einen Moment ließ er seine unterdrückten Gefühle an die Oberfläche. Seine Züge verzerrten sich, als seine Augen ins Nichts starrten. Vor seinem inneren Auge sah er bestimmt seine getöteten Familienmitglieder, vermutete Leonard. Er hätte bestimmt Mitleid mit ihm gehabt, wenn er nicht wegen dem Mistkerl in einer solchen Situation feststeckte. Dann schüttelte er diese Erinnerungen ab und kam wieder ins Hier und Jetzt zurück.

Mit kalter Stimme fuhr Jim fort:

„Deine Frau ist im Wald, an einer Stelle, die dir sicherlich bekannt ist. Ich habe sie in einer Kiste vergraben. Ein dünner Schlauch bewahrt sie vor dem Ersticken.“

Es war, als ob eine eiskalte Klaue Leonards Herz in Stücke reißen würde. Mit erstickter Stimme flüsterte er:

„Du hast meine Frau lebendig begraben?! Bist du wahnsinnig? Dafür wirst du bezahlen, du dreckiges…“ Er brach seinen Satz ab und sprang Jim an. Seine beiden Hände legten sich um seinen Hals und drückten fest zu. Jim gab röchelnde Laute von sich. Sein Gesicht wurde rot. Doch Leonard dachte nicht daran, aufzuhören. Vor seinem inneren Auge sah er immer wieder eine panikerfüllte Conny, die tief unter der Erde um ihren letzten Atemzug kämpfte. Mit einem wütenden Schrei presste er seine Hände immer fester um den breiten Hals.

Zwei riesige Pranken legten sich um seine Schultern und fegten ihn vom Boden. Er segelte durch die Luft und fiel hart gegen die gegenüberliegende Wand, die seinen Flug abrupt beendete. Die Luft blieb ihm weg, als er den Boden berührte. Der Aufschlag hatte ihm die ganze Atemluft aus den Lungen gepresst. Er stöhnte und wollte sich wieder aufrappeln, als er einen groben Fußtritt in die Seite abbekam. Er schrie vor Schmerz auf und hielt sich an der schmerzenden Stelle. Wenn gerade noch ein wenig Luft in seinen Lungen gewesen war, war jetzt nichts mehr davon vorhanden. Er wimmerte. Sein scheiß Asthma machte ihm zu schaffen. Er bekam keine Luft mehr. Mit zittrigen Fingern tastete er seine Hosentasche ab und öffnete weit seinen Mund, um gierig nach Luft zu schnappen. Ich habe sie doch immer dabei, komm schon, wo ist sie? Er suchte fieberhaft seinen Ventolin-Spray. Muss beim Sturz aus der Tasche geflogen sein…

In liegender Position sah er sich um… und fand ihn. Dieser Bär von Mann hatte den blauen Spray gerade vom Boden aufgehoben und besah sich ihn genauer. Als er merkte, dass Leonard ihn flehentlich ansah, grinste er. Zum ersten Mal hörte er ihn sprechen.

„Suchst du das da?“

Leonard nickte. Er durchlebte gerade einen schlimmen Asthmaanfall. Sein Gesicht bekam zusehends eine bläuliche Farbe. „Bitte, ich, … ich brauche …Spray.“ Erstickungsnot führte bei ihm schnell zu Panikattacken. Jede Bewegung war eine Hürde. Erschöpft blieb er liegen und konzentrierte sich aufs Atmen.

Während Leonard auf dem Boden lag, rieb Jim sich den geröteten Hals. Er schritt langsam auf ihn zu, kniete sich neben ihm nieder und hauchte ihm ins Ohr:

„Das tust du nicht noch einmal. Du siehst, welche Folgen solche dummen Handlungen haben. Ich an deiner Stelle würde meine Zeit nicht mit sinnlosen Prügeleien verbringen. Schließlich zählt für Conny jede Sekunde, verstehst du? Also, ich erkläre dir jetzt die Spielregeln.“

Er stand wieder auf, baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf, und sah zu ihm hinunter.

„Du gehst gleich in den Wald und suchst Conny. Während der Zeit halte ich Jack bei mir. Wenn du sie findest, bring sie in kein Krankenhaus, rufe nicht die Polizei an. Komm als erstes zu mir, anschließend sehen wir weiter. Findest du Conny tot, lass sie dort liegen und komm zu mir. Ich werde dafür sorgen, dass es nach einem Unfall aussieht. Außerdem wirst du, ob du sie nun tot oder lebendig findest, ein Foto von ihr schießen und die Einwegkamera dann direkt zu mir bringen. Willst du mich verraten und rufst trotzdem die Polizei, stirbt dein Freund direkt, nachdem ich Wind davon bekommen habe.

Findest du Conny nicht in, sagen wir“, Jim schaute auf die Uhr, „in einer halben Stunde, das heißt um genau zwanzig Uhr drei, dann stirbt dein Freund hier.“ Er zeigte auf Jack, der noch genauso dastand wie vorhin.

„Hast du alles verstanden?“, fragte Jim.

Leonard nickte zögernd. Es war sehr schwierig für ihn, sich auf Jims Ausführungen zu konzentrieren. Schließlich litt er noch immer unter dem schweren Asthmaanfall, der einfach nicht abklingen wollte. Er hob seinen Kopf und sah zu Jim auf. „Ich…ich brauche Spray. Asthma…Bitte.“

Jim runzelte die Stirn. Er drehte sich zu seinem riesigen Freund um. „Hast du gehört, Karl? Unser Freund will seinen Spray wiederhaben. Also, gib ihn her!“

Karl zuckte mit den Schultern und warf das Spray Jim zu. Der fing es geschickt auf, dann hielt er es Leonard vor die Nase, der ihn dankbar annahm. Er spritzte sich gleich zweimal die Dosis in den Mund. Als er zum dritten Mal ansetzen wollte, entriss Jim es ihm aus der Hand.

„He, was soll das?“, protestierte Leonard halbherzig.

„Das sollte genügen. Und jetzt geh` endlich, wenn dir das Leben von Conny und Jack am Herzen liegt.“ Jim stand auf und öffnete die Haustür. Leonard reagierte auf die Aufforderung, indem er sich umständlich aufrappelte und zur Haustür schlurfte.

„Hoffentlich sehen wir uns in einer halben Stunde wieder. Jack ist mir richtig ans Herz gewachsen. Wäre echt schade, ihn zu töten.“

Leonard ignorierte diese Anspielung. Er verließ das Haus und ging geradeaus Richtung Wald, der nur einige Hundert Meter vom Haus entfernt war. Jim rief ihm noch etwas nach, doch Leonard hörte nicht mehr zu. Seine Gedanken kreisten wie ein Orkan um seine Frau. Dauernd hatte er das Bild von Conny im Kopf, wie sie langsam und unerbittlich erstickte.

Er presste die Augen fest zu, um das Bild loszuwerden. Es half nichts. Das Einzige, was er dabei erreichte, war, dass er dadurch bunte Sterne sah.

Leonard merkte, dass es langsam anfing, zu regnen. Es dauerte keine zwei Minuten und es goss in Strömen. Das passt ja zum heutigen Tag…

Tödliches Vergessen

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